Recht: Kein Anspruch auf zweites Gutachten
Beim Verfolgen von Schadenersatzansprüchen wegen eines Behandlungsfehlers unterstützen Kassen ihre Versicherten. Doch die Hilfe hat auch Grenzen.
Beschluss vom 25. Mai 2023
– L 16 KR 432/22 –
Landessozialgericht
Niedersachsen-Bremen
Das Durchsetzen von Schadenersatzansprüchen aus ärztlichen Behandlungsfehlern ist für Patientinnen und Patienten sehr schwierig. Denn sie tragen die Beweislast. Sie müssen nachweisen, dass der Arzt sie fehlerhaft behandelt hat und der Fehler den gesundheitlichen Schaden verursacht hat (Kausalität).
Beim Verdacht auf einen Behandlungsfehler unterstützen die gesetzlichen Krankenkassen ihre Versicherten. Dazu gehört unter anderem, ein Gutachten beim Medizinischen Dienst (MD) in Auftrag zu geben. Die Gutachterinnen und Gutachter des MD beurteilen, ob bei dem Patienten ein gesundheitlicher Schaden vorliegt und ob ein Behandlungsfehler hierfür als Ursache infrage kommt.
Doch wie weit geht der Anspruch von Versicherten auf Unterstützung durch ihre Kasse? Diese Frage lag dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen zur Entscheidung vor.
Behandlungsfehler vermutet
Dabei ging es um den Fall eines 57-jährigen Mannes. Bei ihm war eine Vorhautverengung (Phimose) diagnostiziert und eine Beschneidung im Krankenhaus durchgeführt worden. Der Mann vermutete einen Behandlungsfehler und bat seine Krankenkasse um Unterstützung. Der chirurgische Eingriff sei medizinisch nicht notwendig gewesen. Denn es habe keine Phimose vorgelegen, sondern laut histologischem Befund eine Pilzinfektion.
Seit der zu Unrecht durchgeführten Operation leide er unter Impotenz, Erektions- und Ejakulationsstörungen sowie unter Schmerzen. Dies habe bei ihm zu Depressionen geführt. Er wolle ein funktionsfähiges und schmerzfreies Geschlechtsteil wiedererlangen, notfalls durch Transplantation einer Ersatzvorhaut. Außerdem wolle er Schmerzensgeld einklagen und Strafanzeige wegen Körperverletzung stellen.
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Kausalität verneint
Die Krankenkasse gab beim MD ein Gutachten in Auftrag. Dies ergab, dass sich mittels der ärztlichen Unterlagen das Ausmaß einer Phimose nicht klären lasse. Grundsätzlich schließe eine Pilzerkrankung das zeitgleiche Bestehen einer Phimose nicht aus. Beschwerden wie Impotenz und Ejakulationsstörung könnten auch nicht durch eine Beschneidung verursacht werden.
Die Kasse teilte dem Versicherten mit, dass nach dem Gutachten kein Behandlungsfehler anzunehmen sei. Die von ihm geschilderten Schwellungen der Eichel und des Schwellkörpers um das Zweifache sowie die dargelegten Schmerzen ließen sich der ärztlichen Dokumentation nicht entnehmen. Die Schäden seien nicht auf die Beschneidung zurückführbar.
Medizinische Dienste prüfen Behandlungsfehler-Vorwürfe
Neues Gutachten gefordert
Der Mann widersprach und forderte ein weiteres Gutachten. Auch müsse seine Frau als Zeugin befragt werden. Als seine Kasse dies ablehnte, klagte er. Doch das Sozialgericht (SG) gab der Kasse Recht. Diese sei ihrer Pflicht nach Paragraf 66 SGB V umfassend nachgekommen. Die Unterstützung im Sinne von Paragraf 66 SGB V ziele darauf ab, dem Versicherten Leistungen zu gewähren, die ihm die Beweisführung erleichterten, also ihm die für eine Rechtsverfolgung essenziellen Informationen zugänglich machen. Die Hilfeleistungen beschränkten sich auf das Beschaffen von Auskünften über die gestellten Diagnosen, die angewandte Therapie, die Namen der Behandler, das Anfordern ärztlicher Unterlagen inklusive Röntgenaufnahmen etc. von der Behandlung und die Begutachtung durch den MD nach Paragraf 275 Absatz 3 SGB V. Mehr müsse die Kasse nicht tun.
Kasse hat Pflicht erfüllt
Daraufhin legte der Mann Berufung beim Landessozialgericht (LSG) ein. Durch ein weiteres Gutachten und die Befragung seiner Frau als Zeugin ließe sich ein Behandlungsfehler bestätigen, argumentierte er.
Das LSG wies die Berufung zurück. Die erstinstanzliche Entscheidung sei nicht zu beanstanden. Der Kläger verkenne, dass im Berufungsverfahren nicht die Richtigkeit des MD-Gutachtens zu überprüfen sei. Das SG sei zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass die beklagte Kasse ihrer Verpflichtung umfassend nachgekommen ist.
„Der Entscheidung des Gerichts ist zuzustimmen. Die Verpflichtung der Krankenkassen, mehrere Gutachten einzuholen oder Zeugen zu vernehmen, sieht das Gesetz nicht vor. Zu Recht. Denn dies wäre unwirtschaftlich.“
Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes
Mit dem Einholen des Gutachtens habe die Kasse ihre gesetzliche Pflicht erfüllt. Sie sei nicht zu einem initiativen Recherchieren zugunsten des Versicherten verpflichtet. Insbesondere müsse sie nicht weiter recherchieren, bis der vermeintliche Behandlungsfehler nachgewiesen ist. Der Kläger habe nur Anspruch auf ein Gutachten durch den MD, nicht aber auf ein für ihn günstiges Ergebnis.
Dass der Kläger mit dem Ergebnis der MD-Expertise nicht einverstanden ist, verpflichte die Kasse nicht dazu, ein weiteres Gutachten einzuholen oder Zeugen zu vernehmen.
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