Artikel Versorgung

Recht: Kein Anspruch auf zweites Gutachten

20.09.2023 Anja Mertens 6 Min. Lesedauer

Beim Verfolgen von Schadenersatzansprüchen wegen eines Behandlungsfehlers unterstützen Kassen ihre Versicherten. Doch die Hilfe hat auch Grenzen.

Symbolbild eines Paragraphenzeichen, das auf einem geöffneten Buch steht

Beschluss vom 25. Mai 2023

– L 16 KR 432/22 –
Landessozialgericht
Niedersachsen-Bremen

Das Durchsetzen von Schadenersatzansprüchen aus ärztlichen Behandlungsfehlern ist für Patientinnen und Patienten sehr schwierig. Denn sie tragen die Beweislast. Sie müssen nachweisen, dass der Arzt sie fehlerhaft behandelt hat und der Fehler den gesundheitlichen Schaden verursacht hat (Kausalität).
 
Beim Verdacht auf einen Behandlungsfehler unterstützen die gesetzlichen Krankenkassen ihre Versicherten. Dazu gehört unter anderem, ein Gutachten beim Medizinischen Dienst (MD) in Auftrag zu geben. Die Gutachterinnen und Gutachter des MD beurteilen, ob bei dem Patienten ein gesundheitlicher Schaden vorliegt und ob ein Behandlungsfehler hierfür als Ursache infrage kommt.

Doch wie weit geht der Anspruch von Versicherten auf Unterstützung durch ihre Kasse? Diese Frage lag dem Landessozialgericht Nieder­sachsen-Bremen zur Entscheidung vor.

Behandlungsfehler vermutet

Dabei ging es um den Fall eines 57-jährigen Mannes. Bei ihm war eine Vorhautverengung (Phimose) diagnostiziert und eine Beschneidung im Krankenhaus durch­geführt worden. Der Mann ver­mutete einen Behandlungsfehler und bat seine Krankenkasse um Unterstützung. Der chirurgische Eingriff sei medizinisch nicht notwendig gewesen. Denn es habe keine Phimose vorgelegen, sondern laut histologischem Befund eine Pilzinfektion.

Seit der zu Unrecht durch­geführten Operation leide er unter Impotenz, Erektions- und Ejaku­­lations­störungen sowie unter Schmerzen. Dies habe bei ihm zu Depressionen geführt. Er wolle ein funktionsfähiges und schmerzfreies Geschlechtsteil wiedererlangen, notfalls durch Transplantation einer Ersatz­vorhaut. Außerdem wolle er Schmerzensgeld einklagen und Strafanzeige wegen Körperverletzung stellen.

Tipp für Juristen

Dokumentation in Zeiten der Digitalisierung, Schmerzensgeld, Schockschaden sind Themen des Kölner Symposiums „Der Dokumentationsfehler – Haftungsfalle oder stumpfes Schwert?“ am 24. und 25. November. Veranstalter ist die Arbeits­gemeinschaft Rechtsanwälte im Medizinrecht.

Mehr Infos über das Symposium

Kausalität verneint

Die Krankenkasse gab beim MD ein Gutachten in Auftrag. Dies ergab, dass sich mittels der ärztlichen Unterlagen das Ausmaß einer Phimose nicht klären lasse. Grundsätzlich schließe eine Pilzerkrankung das zeitgleiche Bestehen einer Phimose nicht aus. Beschwerden wie Impotenz und Ejakulationsstörung könnten auch nicht durch eine Beschneidung verursacht werden.

Die Kasse teilte dem Ver­sicher­ten mit, dass nach dem Gutachten kein Behandlungsfehler anzunehmen sei. Die von ihm geschilderten Schwellungen der Eichel und des Schwellkörpers um das Zwei­fache sowie die dargelegten Schmerzen ließen sich der ärztlichen Dokumentation nicht entnehmen. Die Schäden ­seien nicht auf die Beschneidung zurückführbar.

Medizinische Dienste prüfen Behandlungsfehler-Vorwürfe

Tortendiagramme, die darstellen, wie viele Behandlungsfehler mit und ohne Schaden gesamt sowie unterschieden nach ambulant und stationär die Medizinischen Dienste im Jahr 2022 ermittelt haben.
Im Auftrag der Kassen begutachteten die Medizinischen Dienste 2022 insgesamt 13.059 vermutete Behandlungsfehler. Rund 25 Prozent bestätigten sie als Fehler mit Schaden. Die meisten Vorwürfe betrafen den stationären Sektor.

* ohne die 24 Fälle Rettungsdienst/Krankentransport

Neues Gutachten gefordert

Der Mann widersprach und forderte ein weiteres Gutachten. Auch müsse seine Frau als Zeugin befragt werden. Als seine Kasse dies ablehnte, klagte er. Doch das Sozialgericht (SG) gab der Kasse Recht. Diese sei ihrer Pflicht nach Paragraf 66 SGB V umfassend nachgekommen. Die Unterstützung im Sinne von Paragraf 66 SGB V ziele darauf ab, dem Versicherten Leistungen zu gewähren, die ihm die Beweisführung erleichterten, also ihm die für eine Rechtsverfolgung essenziellen Informationen zugänglich machen. Die Hilfeleistungen beschränkten sich auf das Beschaffen von Auskünften über die gestellten Diagnosen, die angewandte Therapie, die Namen der Behandler, das Anfordern ärztlicher Unterlagen inklusive Röntgenaufnahmen etc. von der Behandlung und die Begutachtung durch den MD nach Paragraf 275 Absatz 3 SGB V. Mehr müsse die Kasse nicht tun.

Kasse hat Pflicht erfüllt

Daraufhin legte der Mann Berufung beim Landessozialgericht (LSG) ein. Durch ein weiteres Gutachten und die Befragung seiner Frau als Zeugin ließe sich ein Behandlungsfehler bestätigen, argumentierte er.

Das LSG wies die Berufung zurück. Die erstinstanzliche Entscheidung sei nicht zu beanstanden. Der Kläger verkenne, dass im Berufungsverfahren nicht die Richtigkeit des MD-Gutachtens zu überprüfen sei. Das SG sei zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass die beklagte Kasse ihrer Verpflichtung umfassend nachgekommen ist.

„Der Entscheidung des Gerichts ist zuzustimmen. Die Verpflichtung der Krankenkassen, mehrere Gutachten einzuholen oder Zeugen zu vernehmen, sieht das Gesetz nicht vor. Zu Recht. Denn dies wäre unwirtschaftlich.“

Anja Mertens

Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes

Mit dem Einholen des Gutachtens habe die Kasse ihre gesetz­liche Pflicht erfüllt. Sie sei nicht zu einem initiativen Recherchieren zugunsten des Versicherten verpflichtet. Insbesondere müsse sie nicht weiter recherchieren, bis der vermeintliche Behandlungsfehler nachgewiesen ist. Der Kläger habe nur Anspruch auf ein Gutachten durch den MD, nicht aber auf ein für ihn günstiges Ergebnis.
 
Dass der Kläger mit dem Ergebnis der MD-Expertise nicht einverstanden ist, verpflichte die Kasse nicht dazu, ein weiteres Gutachten einzuholen oder Zeugen zu vernehmen.

 

Mitwirkende des Beitrags

Pflichtfelder sind gekennzeichnet.

Beitrag kommentieren

Alle Felder sind Pflichtfelder.

Datenschutzhinweis

Ihr Beitrag wird vor der Veröffentlichung von der Redaktion auf anstößige Inhalte überprüft. Wir verarbeiten und nutzen Ihren Namen und Ihren Kommentar ausschließlich für die Anzeige Ihres Beitrags. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht, sondern lediglich für eventuelle Rückfragen an Sie im Rahmen der Freischaltung Ihres Kommentars verwendet. Die E-Mail-Adresse wird nach 60 Tagen gelöscht und maximal vier Wochen später aus dem Backup entfernt.

Allgemeine Informationen zur Datenverarbeitung und zu Ihren Betroffenenrechten und Beschwerdemöglichkeiten finden Sie unter https://www.aok.de/pp/datenschutzrechte. Bei Fragen wenden Sie sich an den AOK-Bundesverband, Rosenthaler Str. 31, 10178 Berlin oder an unseren Datenschutzbeauftragten über das Kontaktformular.