Die Musik spielt auf der Hinterbühne
Gespräche am Rande von Pressekonferenzen oder Fachsymposien gehören zur informellen Kommunikation in der Gesundheitspolitik. Dieser Austausch bildet eine zweite politische Handlungsebene, die für den Gesundheitssektor von großer Bedeutung ist.
Die Gesundheitswirtschaft erreichte laut Bundeswirtschaftsministerium im Jahr 2022 eine Bruttowertschöpfung von rund 440 Milliarden Euro. Der Branche sind fast zehn Prozent der gesamtdeutschen Exporte zuzurechnen. Mit über acht Millionen Erwerbstätigen und knapp 13 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt ist der Sektor einer der wirtschaftlich stärksten des Landes. Neben der Finanzierung des Gesundheitswesens einschließlich der Pflege sind die Sicherung einer hochwertigen medizinischen Versorgung, Prävention und Gesundheitsförderung zentrale Herausforderungen eines durch den demografischen Wandel, durch medizinischen Fortschritt und technologische Innovationen äußerst dynamischen Politikfeldes. Es kennzeichnet sich im Mehrebenen-System der Bundesrepublik zudem durch verteilte Regulierungskompetenzen des Bundes respektive der Länder, durch die Verflechtung von kommunalen und öffentlichen Aufgaben mit privaten Trägern und eine Vielzahl an eingebundenen Akteuren. Dazu gehören die Ministerialbürokratie, Verbände, Krankenkassen, die pharmazeutische Industrie, Patientenorganisationen, Ärzteschaft, Verbände, Parteien und einige mehr.
Politik ist von Beratung abhängig
So komplex das Feld, so differenziert gestalten sich auch Fragen des Interessenausgleichs und der Regulierung. Wie in anderen, ähnlich vielschichtigen Verhandlungssystemen besteht ein enormer Kooperations- und Abstimmungsbedarf. Dabei gilt Gesundheitspolitik hierzulande geradezu als Prototyp eines „sektoralen Korporatismus“ (Hornung und Bandelow 2022, siehe Lese- und Webtipps). Darin üben Verbände und Interessengruppen unter anderem über Selbstverwaltungsstrukturen erheblichen Einfluss auf die Formulierung und Umsetzung politischer Entscheidungen aus. Aufgrund der fachlichen Notwendigkeiten – Stichwort evidenzbasierte Medizin – ist das Feld zugleich abhängig von medizinisch-wissenschaftlicher Expertise, von juristischer oder gesundheitsökonomischer Beratung.
„Die Beziehungsnetze im Gesundheitssektor sind überwiegend stabil und geprägt durch langjährige Kontakte.“
Nicht erst mit der Covid-19-Pandemie ist ein vergleichsweise hoher Grad an Öffentlichkeitsorientierung festzuhalten: Gesundheitspolitik betrifft oft die gesamte oder zumindest einen Großteil der Bevölkerung. Und so ist Kommunikation auf gleich mehreren Ebenen konstituierend für das Gesundheitswesen und sein politisches Feld: Erstens, basal, die direkte Kommunikation zwischen Ärzten oder Pflegefachpersonen und Patienten, die mit dem Patientenrechtegesetz sogar einen regulativen Rahmen kennt. Zweitens sind Gesundheitsthemen nicht nur in Pandemiezeiten ein wichtiger Gegenstand der Berichterstattung. Drittens, damit korrespondierend, wenden sich auf institutioneller Ebene Einrichtungen wie das Robert-Koch-Institut, das Paul-Ehrlich-Institut, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung oder die Gesundheitsämter und -ministerien an eine Fachöffentlichkeit oder explizit in informatorischer Absicht an die Allgemeinheit. Und viertens – was hier im Vordergrund steht – sind Kommunikationsstrategien im Policy-Prozess keine quasinatürlichen Referenzen, keine allein routiniert abgerufenen Notwendigkeiten, sondern einflussreiche Faktoren bei der und für die Formulierung, Durchsetzung und Begründung verbindlicher Entscheidungen.
Konkurrierende Interessen ausgleichen
Politische Kommunikation bezieht sich häufig auf öffentliche Kommunikation, auf Politikvermittlung oder ein Werbe- und Selbstdarstellungsbemühen der Politik mit und über Medien. Diese unter Legitimationsgesichtspunkten so wichtige Vorderbühne des politischen Wettbewerbs wird im Politikprozess ergänzt durch eine Hinterbühne. Sie bildet als zweite politische Handlungsebene gleichsam den kommunikativen Kern korporatistischer Verhandlungssysteme.
Studien zum Politikfeld und zum Einfluss institutioneller Konstellationen, zu Policy-Netzwerken und zu Entscheidungsoperationen unterstreichen dabei regelmäßig die Bedeutung von Verfahren im Vorfeld politischer Entscheidungen zur Bewältigung konkurrierender Interessen. Für solche Verfahren sind etablierte Kommunikationsstrukturen und wechselseitige Informationsstrukturen als Instrumente politischer Problemverarbeitung umso bedeutender, je differenzierter sich der Sektor darstellt. Genau das gilt ausdrücklich für die Gesundheitspolitik, deren Verhandlungssystem sachlich sowie hinsichtlich der beteiligten Akteure und Anspruchsgruppen eine enorme Komplexität aufweist.
Kommunikationsstrategien
Beim „Über-Bande-Spielen“ wählt etwa ein Interessenvertreter nicht den direkten Dialog mit der Politik, sondern streut eine Nachricht plakativ unter Journalisten, um so die Politik durch journalistischen Druck zu beeinflussen. Dieser Druck muss nicht zwingend durch Publizität erfolgen, sondern wirkt über Journalisten in Hintergrundgesprächen in das Verhandlungssystem zurück.
Ähnlich die Strategie „Testballon“: Hier nutzen etwa Pressesprecher oder Politiker ein einziges Medium, um eine Nachricht zu platzieren. Damit testen sie, wie das Thema aufgenommen wird.
Damit verwandt ist die Strategie des „Punching-Ball“: Hier testen Politiker im Hintergrundgespräch mit Journalisten, wie eine politische Erzählung,
ein Argument oder auch nur einzelne Sätze aufgenommen, interpretiert und bewertet werden.
Zentrales Merkmal solcher Kommunikationskonstellationen („Hinterbühne“) ist die Informalität. Informelle Kommunikation meint Kommunikation jenseits förmlicher und bindender Vorschriften wie etwa Geschäftsordnungen, Satzungen oder Protokollanweisungen. Insbesondere reduziert sich informelle Kommunikation in Politikfeldern nicht auf Kontakte zwischen Politikern und Journalisten. Vielmehr umfasst sie weitere zentrale Akteure, die über eigene Ressourcen wie etwa Expertise verfügen: Verbände, die Ministerialbürokratie, Wissenschaftler im Rahmen institutioneller Politikberatung und mehr.
Das Begriffspaar formell/informell ist auch nicht antithetisch zu verstehen, etwa als wünschenswert im Gegensatz zu nicht wünschenswert. Informell bezieht sich auf eine legale und legitime politische Handlungsebene, eine „rechtskonforme Alternative zu den formellen Verfahrensordnungen“ (Isenberg 2007, siehe Lese- und Webtipps), die im politischen Prozess formelle Ordnungsstrukturen (wie parlamentarische oder gouvernementale Geschäftsordnungen) ergänzt beziehungsweise konkretisiert.
Austausch in weniger förmlichem Umfeld
Weit gefasst könnte man also unter informeller Kommunikation in Politikfeldern den Austausch von Informationen, Ideen und Meinungen in einem ungezwungenen, weniger förmlichen und nichtöffentlichen Kontext verstehen. Weniger förmlich ist in mancher Hinsicht durchaus zutreffend. Allerdings haben Arbeiten explizit zu Kommunikation in Politikfeldern (zum Beispiel Kamps 2012, siehe Lese- und Webtipps) gezeigt, dass aus der Sicht der Akteure das Feld ein themen- und situationsabhängiges Netzwerk darstellt, das Strukturen, Regeln und Medienorientierung kennt. Formelle Verfahren wie etwa Anhörungen in den Parlamenten und informelle Kommunikation bilden zusammengenommen den institutionellen Horizont ihres strategischen Vorgehens.
Individuelles Netzwerk aufbauen
Genau genommen ist allerdings nicht von einem Netzwerk der Gesundheitspolitik zu sprechen. Aus der Perspektive einzelner Akteure, wie beispielsweise eines Verbandes, gibt es eine Beziehungsstruktur, in der jeweils ein individuelles Gefüge über einen längeren Zeitraum aufgebaut und gepflegt wird. Es wird je nach Problemlage unterschiedlich „bespielt“. Das ist ein rekursiver Prozess: Die Beteiligten reflektieren perspektivisch nicht nur das eigene Netzwerk mit seinen Handlungspotenzialen, sondern darüber hinaus das der anderen Akteure. Sie nutzen also die soziale Struktur „Netzwerk“ im Sinne eines handelnden Zusammenwirkens problemkonzentriert. Entsprechend befragt charakterisieren Akteure ihr Beziehungsnetz überwiegend als stabil und geprägt durch langjährige Kontakte. Erst dadurch entstehe die Möglichkeit, Informationen vertraulich zu besprechen und verlässlich einzuordnen – eine wesentliche Funktion des „Networkings“ in einer Umgebung, die gerade in der Gesundheitspolitik unisono als sachlich wie personell hochkomplex wahrgenommen wird.
Dabei haben sich unterschiedlich besetzte Hintergrundkreise etabliert, in denen gesundheitspolitische Details debattiert und Meinungen ausgetauscht werden – was der wichtigen, zentralen Informationsfunktion entspricht. Diese Kreise bilden sich einerseits unter sachlichen Gesichtspunkten, etwa zu Pharmafragen, und sind andererseits doch geprägt durch die Profession der Akteure. Journalistinnen und Journalisten betonen die für sie wichtige Periodizität der Veranstaltungen, bei denen sie die relevanten Akteure womöglich sogar wöchentlich treffen. Für sie zählen vor allem exklusive Informationen. Hingegen ist für Politikerinnen und Politiker nicht automatisch der Journalismus mit seiner Publizität interessant, was man in einer „Mediendemokratie“ vielleicht erwartet hätte. Als wichtigen Bezug nennen sie vor allem Kollegen, deren Kontakte sie nach Absprache für eigene Zwecke nutzen und in das eigene Netzwerk integrieren. Wie Interessenvertreter verstehen sie das als persönliches soziales Kapital – als quasi institutionelle Ressource im politischen Prozess.
Foren ermöglichen Randgespräche
Innerhalb der Netzwerke trifft man sich regelmäßig anlässlich gesundheitspolitischer Veranstaltungen, Pressekonferenzen, Fachsymposien oder auch Sommerfesten zu informellen Randgesprächen. Diese Treffen spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung und dem Erhalt der Netzwerke, werden aber noch durch Hintergrundgespräche im Rahmen institutionalisierter Personenkreise ergänzt: durch Sachlage geprägte Zirkel beispielsweise auf Einladung eines Ministeriums oder eines journalistischen Fachkreises.
Als Voraussetzung für die Stabilität solcher Netzwerke greifen die Akteurinnen und Akteure auf ein geteiltes, professionsübergreifendes Hintergrundwissen zurück, das eine effiziente und erfolgreiche Kommunikation überhaupt erst ermöglicht.
Barbara Pfetsch (2003, siehe Lese- und Webtipps) hat treffend von einer „kognitiven Geschäftsgrundlage“ gesprochen. Neben dem Fachwissen gehören dazu beispielsweise Verhaltensnormen – wie Quellenschutz und Sperrfristen – und Erwartungsmuster, wie beispielsweise die Akzeptanz von professionellen Zwängen des Gegenübers. Insofern bildet das Verhandlungssystem selbst einen Referenzrahmen, der in einem sachlich komplexen Politikfeld strategisches Handeln zulässt und „abweichendes Verhalten“ mit Sanktionen belegen kann. Informell meint also nicht regellos. Solch „abweichendes Verhalten“ kann unter anderem das sein, was die Akteure als „unprofessionelles“ Miteinander bewerten: etwa eine willkürliche oder parteipolitisch gefärbte Änderung der Einladungen zu den Hintergrundkreisen.
„Kommunikation ist auf mehreren Ebenen konstituierend für das Gesundheitswesen und sein politisches Feld.“
Je nach Problemlage und politischer wie wirtschaftlicher Reichweite greifen formelle wie informelle Kommunikationsstrategien. Diese Strategien sind wiederum stark vom institutionellen Hintergrund der Akteursgruppen geprägt: Journalistinnen und Journalisten zum Beispiel verfügen über Öffentlichkeit, Interessenvertreter sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über Fachexpertise und Politikerinnen und Politiker sowie Ministerialbeamte über die politische Entscheidungsgewalt.
Angepasst an den Sachstand und unter Berücksichtigung des Zeitaspektes (Verfahrensstand) etwa hinsichtlich der Wahl von Gesprächspartnern, der Informationsbeschaffung und -weitergabe oder der Interessenartikulation kommen unterschiedliche Strategien zum Zuge.
Informell heißt nicht medienfern
Neben tatsächlich nichtöffentlichen Kreisen ergeben allerdings Formen der informellen und formellen Kommunikation aus der Sicht der Netzwerkakteure zusammen ein themen- und situationsabhängiges Handlungsgeflecht meist akteursspezifischer Optionen. Der wesentliche Unterschied zwischen den Beteiligten liegt darin, dass medial präsente Akteure ihre Kommunikationsstrategien überwiegend auch medial koppeln, während Fachpolitiker, wissenschaftliche Berater oder Ministerialbeamte, die weniger mediale Aufmerksamkeit bekommen (wollen), interne und institutionelle Prozesse bevorzugen.
Lese- und Webtipps
- Johanna Hornung, Nils C. Bandelow: Lobbyismus in der Gesundheitspolitik. In: Handbuch Lobbyismus. Springer, 2022.
- Meike Isenberg: Verhandelte Politik. Informale Elemente in der Medienpolitik. Vistas, 2007.
- Klaus Kamps: Kommunikation in der Gesundheitspolitik. Netzwerk, Akteure, Strategien. Gutachten im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2012. Download
- Barbara Pfetsch: Politische Kommunikationskultur: Politische Sprecher und Journalisten in der Bundesrepublik und den USA im Vergleich. Westdeutscher Verlag, 2003.
Informell heißt also nicht unbedingt medienfern. Konkret medial gekoppelte Strategien wären beispielsweise das „Über-Bande-Spielen“ oder der „Testballon“ (siehe Kasten „Kommunikationsstrategien“). Auch wissenschaftliche Gutachten werden nicht nur aus sachlichen Gründen eingesetzt, sondern öffentlich präsentiert und promoviert, um der eigenen Position mehr Gewicht zu verleihen oder ein Thema bewusst in den Medien zu etablieren.
Öffentlichkeit ist jederzeit abrufbar
Medien besitzen für solche Verhandlungssysteme einen Latenz-Charakter. Sie bilden einen Möglichkeitshorizont, unabhängig davon, ob im Einzelfall tatsächlich eine Berichterstattung erfolgt. Medienferne Politik dürfte eher selten wirklich medien- oder gar journalistenfern sein. Zwar gibt es Fälle „reiner“ Geheimpolitik. Öffentlichkeit bleibt aber klassische Möglichkeitskategorie politischer Verhandlungen: Sie ist jederzeit abrufbar – und wirkt so in solche Verhandlungskonstellationen, die nicht primär im Fokus der aktuellen Medienaufmerksamkeit liegen. Politische Entscheidungsfindung kann aber lange Zeit medienfern verlaufen, sodass die Politikherstellung vorrangig der Eigenlogik des Politischen folgt.
Bei aller Bereitschaft zum internen Informationsaustausch und zur externen Öffentlichkeitsarbeit: Eine absolute, interne oder medial-öffentliche Transparenz käme aus Sicht der Akteure einer totalen Handlungsunfähigkeit gleich. Jede Verhandlung hätte mit unzähligen Interessen zu kämpfen, die eine lange Kette weiterer Verhandlungen anstoßen würden und dadurch die „Legitimität durch Effektivität“ gefährdeten. Ob, wann und in welcher Weise die Medien Einfluss nehmen auf spezifische Entscheidungen im Verhandlungssystem der Gesundheitspolitik, ist also kaum pauschal zu bewerten – auch nicht ihre strategische Instrumentalisierbarkeit.
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