Step-by-Step zu mehr Digitalisierung
Elektronische Patientenakte, E-Rezept und Co.: Die Digitalisierung des hiesigen Gesundheitswesens kommt peu à peu voran. Um allerdings im internationalen Vergleich mithalten zu können, ist hierzulande noch einiges zu tun.
Seit über 20 Jahren gibt es gesetzliche Regelungen, die Digitalisierung im Gesundheitswesen in Deutschland voranzubringen wie das Gesetz zur Modernisierung der GKV von 2003. So war Deutschland 2020 das erste Land weltweit, das Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) „auf Rezept“ einführte. Seit 2021 können gesetzlich Versicherte eine elektronische Patientenakte (ePA) nutzen, um nur zwei Beispiele zu nennen. Dennoch besteht aus internationaler Perspektive ein großer Aufholbedarf – vor allem im Vergleich zu Ländern wie Dänemark, Estland oder Israel.
Win-win-Situation für alle
Die Möglichkeiten der Digitalisierung eröffnen vielfältige Chancen sowohl für jeden Einzelnen als auch für die Gesellschaft als Ganzes, wie der Sachverständigenrat für Gesundheit in seinem Gutachten 2021 feststellte. So kann die Auswertung und Nutzung medizinischer Daten der ePA für einen Menschen unmittelbar nutzenstiftend sein, wenn sich dadurch beispielsweise eine seltene Krankheit schneller diagnostizieren, eine unerwünschte Nebenwirkung von Medikamenten schneller sichtbar oder eine passgenauere Therapie mit einem datenbasierten Entscheidungsunterstützungssystem schneller identifizieren lässt. Für die Leistungserbringer kann die ePA die Diagnosen erleichtern, die Prozesse und Dokumentation optimieren sowie die Kommunikation mit den Patienten oder untereinander vereinfachen. Die Nutzung der ePA-Daten bietet die Möglichkeit einer breiten, aktuellen Versorgungsforschung, einer evidenzbasierten Evaluation politischer Interventionen und damit letztlich einer Steigerung der Produktivität im Gesundheitswesen – ein in Zeiten angespannter öffentlicher Haushalte nicht zu vernachlässigender Effekt.
Die derzeitige Verbreitung der ePA ermöglicht jedoch nicht, diese Chancen zu nutzen: Ende 2023 haben nur rund 1,2 Prozent der gesetzlich Versicherten die ePA genutzt (Janson 2023, Lese- und Webtipps), für privat Versicherte war sie de facto nicht verfügbar.
Weite Verbreitung erforderlich
Mit dem im März 2024 in Kraft getretenen Digital-Gesetz (DiGiG) ist die Bundesregierung einen richtigen Schritt zur Verwirklichung dieser Chancen gegangen. Anfang 2025 wird die ePA für alle gesetzlich Versicherten verbindlich. Statt ein Opt-in (wie momentan) wird es dann eine Opt-out-Option geben. Eine weite Verbreitung und Nutzung der ePA sind eine Voraussetzung für ihren Erfolg. Denn nur dann können Netzwerkeffekte (zum Beispiel zwischen Leistungserbringern) oder eine sinnvolle Nutzung der Daten für Forschungszwecke erfolgen.
Derzeit plant laut dem TI-Atlas der gematik über die Hälfte der Versicherten, die ePA aktiv zu nutzen, und nur vier Prozent wollen ihr widersprechen. Damit die Vorteile der ePA voll zur Geltung kommen, muss der Anteil der aktiv Nutzenden aber höher liegen. Mit dem DiGiG bleibt es dabei, dass die Patienten über die Speicherung und Löschung ihrer Daten in der ePA selbst entscheiden können. Das kann den potenziellen Nutzen der ePA erheblich einschränken. Unvollständige Daten sind weder bei der individuellen Diagnostik noch bei der Versorgungsforschung hilfreich.
Eine weitere Chance der Digitalisierung liegt in einem verstärkten Einsatz von Telemedizin und Telecare, DiGA, technischen Assistenzsystemen oder Kommunikations- und (Weiter-)Bildungstools. Damit kann auch den gesellschaftlichen Herausforderungen der demografischen Entwicklung mit einer steigenden Anzahl von älteren Patienten bei gleichzeitig sinkender Anzahl von Fachkräften und besonders im ländlichen Raum besser begegnet werden. Der mit dem DiGiG vollzogene Ausbau von Videosprechstunden sowie der Ausweitung der DiGA auf Medizinprodukte höherer Risikoklassen sind deshalb zu begrüßen.
Datensicherheit muss gegeben sein
Den mannigfachen Chancen der Digitalisierung im Gesundheitswesen stehen vor allem drei Herausforderungen gegenüber. Erstens eine zielführende Balance zwischen Datenschutz und Datennutzung. Die gesellschaftliche Diskussion – vor allem außerhalb der Gesundheitspolitik – um die Verwendung von Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken wird immer noch stark dadurch beeinflusst, dass der Fokus der informationellen Selbstbestimmung auf dem Datenschutz, vor allem der Datensparsamkeit, liegen soll. Vernachlässigt wird dabei, dass informationelle Selbstbestimmung auch das Recht umfassen kann, dass persönliche Daten zum eigenen oder zum gesellschaftlichen Wohl genutzt werden können – oder vielleicht sogar müssen. Folglich müsste der Datensicherheit ein viel größerer Stellenwert eingeräumt werden.
Die mit dem DiGiG angestrebte Erhöhung der Cybersicherheit geht mit diesem moderneren Verständnis von Datenschutz, nämlich mehr Datensicherheit statt mehr Datensparsamkeit, einher und ist folglich zu begrüßen. Ebenso geht die Bundesregierung mit dem Gesundheits-Digitalagentur-Gesetz (GDAG, Beschluss des Bundeskabinetts vom 17. Juli 2024) einen Schritt in die richtige Richtung, indem der Digitalagentur Gesundheit hoheitliche Aufgaben zur Gefahrenabwehr inklusive der Möglichkeit, Bußgelder zu erheben, übertragen werden sollen.
Telematikinfrastruktur gehört auf den Prüfstand
Zweitens gilt es nach wie vor, die technischen Rahmenbedingungen zu verbessern. Dazu zählen unter anderem ein stabiler Breitbandzugang in ganz Deutschland und die Interoperabilität der Gesundheitsdaten. Wünschenswert wäre zudem die Möglichkeit, Gesundheitsdaten mit sozioökonomischen Daten zu verknüpfen. Die mit dem DiGiG und dem GDAG angestrebte Verbesserung der Interoperabilität zur Begegnung der Fragmentierung der digitalen Strukturen im Gesundheitswesen ist im Prinzip zu begrüßen. Ebenso die Bündelung der Verantwortlichkeiten zur Gewährleistung einer effektiven Steuerung. Allerdings wird die inzwischen mehr als 20 Jahre alte Technik der Telematikinfrastruktur an sich nicht auf den Prüfstand gestellt. Möglicherweise wären ihr heute Softwarelösungen in Bezug auf Sicherheit, Kosten und Anwenderfreundlichkeit überlegen.
Das ebenfalls im März 2024 in Kraft getretene Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) setzt unter anderem mit dem Aufbau einer nationalen Datenzugangs- und Koordinierungsstelle für Gesundheitsdaten – zum Beispiel aus der ePA oder von den Krankenkassen – sowie der Vereinfachung der Abstimmung mit Datenschutzbeauftragten die richtigen Impulse für eine sinnvolle Nutzung von Gesundheitsdaten für die Forschung. Gerade in Verbindung mit dem europäischen Gesundheitsdatennutzungsraum, der momentan entsteht, ständen dann auch in Deutschland in den nächsten Jahren umfangreiche Daten zur Verfügung. Das setzt allerdings voraus, dass das GDNG zügig verabschiedet und umgesetzt wird. Nicht nachvollziehbar ist, warum der Schutz von Gesundheitsdaten fragmentiert geregelt bleibt. Die neue Koordinierungsstelle soll nur die Abstimmung zwischen den Datenschutzbeauftragten erleichtern, es bleibt bei 17 Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern.
Mehr digitale Kompetenz notwendig
Schließlich ist es notwendig, die digitale Gesundheitskompetenz sowie ihre sozioökonomisch ungleiche Verteilung ins Blickfeld zu nehmen. Eine erfolgreiche Digitalisierung muss mit einem umfassenden Kompetenzaufbau in allen Bevölkerungsschichten einhergehen (Deutscher Ethikrat 2018, Lese- und Webtipps). Die ePA für alle ab 2025 kann dazu einen Beitrag leisten – aber nur, wenn ihre aktive Nutzung weit verbreitet sein wird.
Zudem gilt es zu beachten, dass es bei der Nutzung digitaler Gesundheitstools und bei der Bereitschaft zur Verwertung der eigenen Daten zu Forschungszwecken sozioökonomische Unterschiede gibt. So wollen Männer und Personen mit höherem Bildungsstand signifikant eher eine ePA nutzen als Frauen und Personen mit mittlerem oder niedrigerem Bildungsstand. Während Frauen, Ältere und Personen mit niedrigem Bildungsstand weniger häufig wollen, dass ihre Daten zu Forschungszwecken genutzt werden (Sachverständigenrat 2021, elektronischer Anhang IV). Gerade weil künftig (hoffentlich) erheblich mehr mit Gesundheitsdaten geforscht wird, könnte diese Ungleichheit die Forschungsergebnisse verzerren und Ungleichheiten verstetigen oder sogar erhöhen. In den aktuellen Gesundheitsgesetzen der Bundesregierung ist nicht erkennbar, wie dieser Herausforderung begegnet werden soll.
Gesetzesvorhaben zügig umsetzen
Die Digitalisierung im Gesundheitswesen ist bereits vielfältig erfolgt. Die aktuellen Gesetze (DiGiG, GDAG und GDNG) in Verbindung mit dem Aufbau des europäischen Gesundheitsdatennutzungsraums gehen in die richtige Richtung. Chancen der Digitalisierung zur Steigerung des Patientenwohls werden ausgebaut und Herausforderungen zumindest teilweise adressiert. Allerdings hinkt Deutschland im internationalen Vergleich bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen nach wie vor hinterher. Deshalb ist eine zügige Umsetzung der drei Gesetze sowie deren mutige Weiterentwicklung essenziell. Vermehrt in den Fokus gehören die digitale Kompetenz von Bevölkerung und Leistungserbringern, auch um zu verhindern, dass die Digitalisierung soziale Ungleichheit erhöht.
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