Interview Versorgung

Genommedizin auf dem Weg in die Versorgung

18.09.2024 Anja Schnake 6 Min. Lesedauer

Der Verband der Universitätsklinika Deutschlands (VUD) und der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) haben die Grundlagen für das Modellvorhaben zur Genomsequenzierung vereinbart. Das Projekt ist weltweit das erste, in dem Kliniken und Krankenkassen die genombasierte Diagnostik in der regulären Versorgung erproben. Doch vorher muss Ordnung in die Daten.

Foto einer Hand, über der ein DNA-Strang schwebt
Die Entwicklung der Genommedizin schreitet in großen Schritten voran.

Herr Prof. Berlage, worum genau geht es bei diesem Modellvorhaben?

Berlage: Die Genommedizin hat in den vergangenen Jahren rasante Fortschritte gemacht, und sie bietet noch immer riesiges Potenzial für Erkrankungen, deren genetische Ursachen noch im Dunkeln liegen. Wenn man hier weiterkommen will, muss man entsprechende Daten systematisch erheben und einheitlich formatiert abspeichern. Sonst können sie weder abgerufen noch analysiert werden. Onkologische Netzwerke wie das „Deutschen Netzwerk für Personalisierte Medizin“ haben solche Daten – sie sind aber nicht hinreichend mit anderen Datensammlungen harmonisiert, auch nicht in Bezug auf Dokumentation und Befundung. Wenn in einer Klinik 80 Prozent aller Patienten einen Tumor der Stufe 3 haben, in der anderen aber nur 20 Prozent, dann kann es sein, dass die einen viel mehr todkranke Patienten haben. Es kann aber auch sein, dass sie das Schema anders interpretieren. Das Modellvorhaben honoriert deshalb die Aufwände der Kliniken, Befundung, Dokumentation, Datenhaltung und -verarbeitung zu vereinheitlichen und die Daten zur Verfügung zu stellen. Dafür müssen sie in den klinischen Bereichen einheitliche Bewertungsschemata etablieren und Fallkonferenzen abhalten. Das ist eine Riesenaufgabe.

Porträt von Prof. Dr. Thomas Berlage, Professor für Informatik im Bereich Life Sciences am Fraunhofer Institut für Angewandte Informationstechnik in Aachen
Thomas Berlage ist Professor für Informatik im Bereich Life Sciences am Fraunhofer Institut für Angewandte Informationstechnik (FIT) in Aachen und im Modellvorhaben Genommedizin verantwortlich für die digitale Infrastruktur.

Was macht Deutschland in der Genommedizin anders als andere Länder?

Berlage: Andere Länder haben auch Genomdatenbanken. Aber wenn es darum geht, die Daten für die Versorgung zu nutzen, sind wir vergleichsweise vorn dran. Die skandinavischen Länder haben beispielsweise Studiendaten, die auch zentral gesammelt werden. Aber dass das Ganze Bestandteil der regulären Versorgung ist, sehen wir noch nirgends. Da schauen die anderen Länder jetzt schonmal nach Deutschland. Denn das Erschließen für die Versorgung ist ein bisschen komplizierter als das Sammeln von Daten.

Vor welchen Herausforderungen stehen Sie bei der Entwicklung der digitalen Architektur für dieses Projekt?

Berlage: Datenvolumen und -sicherheit stellen hohe Anforderungen an die Beteiligten. Das sind aber im Gesundheitswesen die Grundvoraussetzungen der IT. Wesentlicher Punkt ist das Thema Nutzbarkeit. Man kann Genomdaten sammeln und sich freuen, dass sie so sicher sind wie in Fort Knox. Aber dafür machen wir das nicht. Mein Credo als Informatiker lautet: Der Aufwand muss sich lohnen. Datensicherheit erzeugt immer einen gewissen Aufwand. Aber ich muss auch einen Nutzen realisieren, der den Aufwand rechtfertigt.

Und wie sorgen Sie dafür, dass es sich lohnt?

Berlage: Sie kennen wahrscheinlich mehr als ein IT-System, das 20 Jahre entwickelt wurde und bei der Inbetriebnahme längst veraltet war. Das darf uns hier nicht passieren. Die Genommedizin wird sich weiterentwickeln, die Werkzeuge werden sich weiterentwickeln, es gibt immer neue Verknüpfungen und neue Entwicklungen bei der Interoperabilität. In der IT sagen wir, 50 Prozent aller Anforderungen entstehen im Betrieb. Deshalb starten wir das Modellvorhaben mit einer Minimalversion der Plattform, die zuverlässig Daten entgegennimmt – das ist im Moment alles. Insbesondere haben wir keine konkreten Nutzungen festgelegt, wir wollen künftige Entwicklungen nicht ausschließen. Das betrifft die sogenannten Datendienste, die die Informationen künftig abrufen, selektieren oder miteinander verknüpfen und die Informationen bereitstellen. Prinzipiell ist die Infrastruktur offen für alle möglichen Anwendungen.

Was muss man sich unter einem Datendienst vorstellen?

Berlage: Ein Datendienst ist zunächst irgendeine Form von IT, die auf die verteilten Daten zugreifen darf, um bestimmte Daten zu suchen, zusammenzuführen oder ähnliches. Datendienste können von unterschiedlichen Einrichtungen betrieben werden. So könnte zum Beispiel das nationale Netzwerk Genomische Medizin Lungenkrebs einen Dienst betreiben, der auf bestimmte Anfragen im Zusammenhang mit Lungenkrebs spezialisiert ist und entsprechende Daten bundesweit abrufen kann. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) genehmigt sowas unter bestimmten Auflagen. Kliniker haben andere Anforderungen als jemand vom öffentlichen Gesundheitsdienst. Auch kommerzielle Unternehmen könnten Datendienste betreiben, solange es einen öffentlichen Nutzen gibt, sie die Ergebnisse nicht für sich behalten oder für irgendwelche Zwecke verwenden, die Patientinnen und Patienten benachteiligen oder gar schädigen können. Im European Health Data Space sollen ja sogar normale Bürger solche Anfragen stellen können.

Welche Fragen wird man mit Hilfe der Plattform beantworten können?

Berlage: Da kann und wird es sehr unterschiedliche Möglichkeiten geben. Eine könnte die Evaluierung des Modellvorhabens selber sein, also die Frage, ob bestimmte Patientengruppen jetzt besser versorgt werden als früher. Dann gibt es natürlich die Datennutzung für den Zweck der Versorgung: Welche Varianten, die wir heute noch nicht so gut kennen, sind vielleicht relevant für Diagnostik oder Therapie? In einer Studie wurde kürzlich festgestellt, dass über Genomsequenzierung jetzt ein hoher Anteil Seltener Erkrankungen diagnostiziert werden kann. Das ist für die Betroffenen natürlich eine wichtige Information. Oder ich vermute bereits eine gewisse Assoziation zwischen Genvariante und Syndrom – dann könnte ich nach klinisch ähnlichen Patienten suchen und deren genetische Varianten untersuchen, um meine Hypothesen zu prüfen. Oder die Frage: Welche Therapien sind besonders kosteneffektiv? Welche Patienten sind therapeutisch unterversorgt? Die Pharmaindustrie könnte erfahren wollen, welche Patienten einer Seltenen oder onkologischen Erkrankung sich für die Studie für ein neues Medikament eignen. Das ist alles möglich, sofern das BfArM einen Nutzen erkennt und das Vorhaben sowie die entsprechenden Datendienste genehmigt.

Warum werden klinische und Genomdaten getrennt gespeichert?

Berlage: Das hat organisatorische Gründe, dient aber auch dem Datenschutz. Die genomischen Rohdaten sind ja erstmal bedeutungslos. Sensibel ist das Wissen, dass eine Variante tatsächlich für ein Krankheitsgeschehen verantwortlich ist. Deshalb war die Idee hier, diese Daten wirklich zu trennen und auch unterschiedlich zu pseudonymisieren.

Was ist neu an dem Konstrukt bzw. der Plattform?

Berlage: Neu ist, dass die Lieferung der Daten an die klinischen Datenknoten und Genom-Rechenzentren nur dann vergütet wird, wenn die Kliniken einen kompletten Datensatz nachweisen können. Der GKV-SV finanziert also nicht nur die Bioinformatik und die Speicherung, sondern primär die diagnostische Leistung unter Verwendung des Genoms.

Wie funktioniert die Datenabfrage, wenn ein Forschungsforschungsinstitut nun bestimmte Daten nutzen möchte?

Berlage: Erstmal wird der Antrag beim BfArM landen. Das Institut muss der Datennutzung zustimmen und das Robert Koch-Institut (RKI) informieren. Dann muss sich die Forschungseinrichtung registrieren – als Instanz, die die Daten nutzen darf. Wenn klinische Daten und Genomdaten personenbezogen verknüpft werden sollen, läuft die Kommunikation immer über die Vertrauensstelle beim RKI: Der Datendienst geht zu einem klinischen Datenknoten und findet zum Beispiel fünf Fälle, die für ihn interessant sind. Dann schickt er die fünf Pseudonyme an das RKI. Den Pseudonymen kann man die Versichertennummer nicht ansehen, aber die Vertrauensstelle kann das, weil sie entsprechende Techniken hat, sozusagen den Rückwärtsschlüssel. Das RKI schickt aber nicht die umgewandelten Pseudonyme zurück, sondern fordert damit das Genom-Rechenzentrum auf, dem Datendienst temporär Zugriff auf die zugehörigen Genomdaten zu liefern. Im Genom-Rechenzentrum kann dann die weitere Verarbeitung stattfinden.

Werden die Kliniken im Modellvorhaben Kompetenzen aufbauen, die eine langfristige Perspektive haben?

Berlage: Das wollen wir hoffen, ist aber nicht die primäre Aufgabe des Projektes. Es gibt eine feste Vergütung. Wenn es den Kliniken gelingt, sehr effiziente Infrastrukturen zu schaffen, haben sie etwas verdient. Wenn sie es nicht schaffen, machen sie auch bei der relativ großzügigen Vergütung noch Verluste. Für langfristige Perspektiven ist eigentlich die Medizininformatik-Initiative zuständig.

Wird das Ganze ein Erfolg?

Berlage: Wir haben die Weichen gestellt, wir haben jetzt das Geld, um es zu machen, wir haben die Strukturen und die Gesetze. Theoretisch kann es immer noch schiefgehen, aber ich bin optimistisch, dass wir das hinkriegen.

Glossar

Genommedizin

DNA: Ein fadenförmiges, wie eine Strickleiter gewundenes Molekül; Träger der Erbinformationen und somit des Bauplans von Zellen und Lebewesen; kommt im Zellkern jeder menschlichen Zelle vor

Gen: Abschnitt der DNA, der eine ganz bestimmte Information (z. B. zum Aufbau eines speziellen Eiweißes/Proteins) enthält. Das menschliche Genom enthält rund 23.000 solcher Gene.

Genom: Die Gesamtheit der Erbinformation eines Organismus, z. B. eines Menschen, ist im Allgemeinen identisch für alle Zellen unseres Körpers. Das menschliche Genom jeder Zelle besteht aus 46 einzelnen DNA-Molekülen (Chromosomen), auf denen wiederum die Gene verteilt liegen.

Genomsequenzierung: Technisches Verfahren zur Entschlüsselung der Abfolge („Sequenz“) der DNA-Bausteine in einem bestimmten Abschnitt des Genoms oder über das gesamte Genom.

Genomische Daten: Die durch eine Genomsequenzierung ermittelte Abfolge der DNA-Bausteine in den jeweils untersuchten Regionen des Genoms, kann sich nur auf einzelne Gene oder Genabschnitte, oder auf das gesamte Genom beziehen.

Klinische Daten: Sammlung der für die Krankenversorgung wichtigen Daten eines Patienten bzw. einer Patientin, z. B. Alter, Geschlecht, Wohnort, Diagnose, Daten zur Krankheitsausprägung und zum Behandlungsverlauf

Personalisierte Therapie: Individuell auf die jeweilige Person maßgeschneiderte Behandlungsmethode. Im Zusammenhang mit Genommedizin kann z. B. die Analyse von genetischen Markern durch eine Genomsequenzierung die Behandelnden dabei unterstützen, eine für den jeweiligen Betroffenen wirksame und sichere Therapie auszuwählen

Pseudonymisierung: Eine Maßnahme, durch die der Personenbezug von Daten (z. B. Name, Geburtsdatum) durch ein Pseudonym (z. B. eine zufällig erscheinende Zeichenfolge wie „AT1LLA42XFULD4_4EVR“) wird, um die Feststellung der Identität von Patientinnen und Patienten zu erschweren oder praktisch auszuschließen.

Quelle: Pilotprojekt Genom.de, Koordinierungsstelle TMF, Agentur: Sympathiefilm GmbH

Digitale Darstellung von farbigen Sequenzkurven, die übereinander liegen
Unikliniken und Krankenkassen haben das Modellvorhaben Genomsequenzierung vereinbart. Im Kern geht es um die Harmonisierung von Daten. Die digitale Infrastruktur muss hohe Datenvolumen handhaben und möglichst offen bleiben für neue Anwendungen.
18.09.2024Anja Schnake6 Min
Foto: Frau im Labor füllt Flüssigkeiten mit einer Pipette in ein Reagenzglas
Dass sich Medizin nicht auf Meinungen, sondern auf wissenschaftliche Belege stützen sollte, gilt im deutschen Gesundheitssystem als Konsens. Doch politische Initiativen stellen das Prinzip der evidenzbasierten Medizin zunehmend infrage.
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