Chaos oder Mehrwert – auf dem Weg zur ePA
In der elektronischen Patientenakte (ePA) für alle sieht das zuständige Ministerium einen „Meilenstein für das Gesundheitswesen“. Ist sie das? Ein Streitgespräch zwischen Sylvia Thun und Kornell Adolph.
Frau Professorin Thun, Herr Adolph, ich möchte Sie einladen, sich mit mir ein Szenario vorzustellen, das wir in der ARD-Produktion „Charité 2049“ gesehen haben. Ein Patient liegt auf dem Operationstisch, er soll eine Transplantation bekommen. Das Dashboard zeigt plötzlich die Meldung, dass diese Transplantation storniert wird, weil sie von der Krankenkasse nicht genehmigt wurde. Frage an Sie beide: Wie realistisch ist dieses Szenario in 25 Jahren?
Kornell Adolph: Ja, 2049 ist für mich ein besonderes Jahr. Aktuell steht in meinem Rentenbescheid irgendwas von Flaschensammeln und dem Jahr 2049. Von daher habe ich ein sehr waches Auge darauf, wie die Welt zu der Zeit aussehen wird. Und natürlich stellen sich Fragen nach der Macht von Daten und danach, ob Konstellationen wie diese auch in Deutschland möglich sind. Ich persönlich engagiere mich dafür, dass diese Zustände bei uns nicht eintreten werden. Das hat auch was damit zu tun, ob wir es schaffen, unser Gesundheitssystem so fit zu machen, dass wir Daten nutzen können, ohne in eine Profitmaximierungsschleife reinzukommen. Das gelingt, wenn der Solidargedanke auch in einer von Digitalisierung geprägten Welt führend bleibt.
Frau Thun, wie sehen Sie das?
Prof. Sylvia Thun: Diese Szenarien gibt es schon heute. Wenn ich zum Beispiel eine Lebertransplantation haben möchte, darf ich nicht viel Alkohol trinken. Das sind ethisch-moralische Grundsätze, denen sich eine Gesellschaft auch stellen muss. Dahinter hängt ein großes System. Das System heißt evidenzbasierte Medizin. Woher wissen wir, dass man vorher keinen Alkohol trinkt? Und wie verteilen wir das Geld im System solidarisch? Wir haben auch neue Medikamente, die sehr teuer sein könnten. Wer bekommt ein Medikament? Es kann heute schon passieren, dass man von der Krankenkasse keine Kostenerstattung bekommt für bestimmte Arzneimittel oder Prozeduren. Unabhängig davon, ob man sich adäquat verhält oder nicht.
„Der wesentliche Punkt ist, dass wir endlich verstehen, die Daten gehören mir und ich darf mit meinen Daten in meinen Applikationen machen, was ich möchte.“
Leiterin der Core Facility Digitale Medizin & Interoperabilität am Berlin Institute of Health (BIH)
Ist es denn grundsätzlich wünschenswert, dass die Menschen selbst zu ihrer Gesundheit beitragen und zum Beispiel Prävention betreiben?
Thun: Grundsätzlich ja, solange die Empfehlungen wissenbasiert sind. Es ist evidenzbasiert, dass die Leber nicht so stark abgestoßen wird, wenn man auf Alkohol verzichtet. Es geht auch darum, dass man Kosten und Nutzen immer im Verhältnis sieht. Dieses sogenannte Health Technology Assessment wird in Deutschland seit vielen Jahren durchgeführt. Wichtig ist, dass wir das Wissen teilen und dass wir dementsprechend diese Entscheidungen gemeinsam mit der Gesellschaft treffen.
Treibt die ePA die Digitalisierung im Gesundheitswesen voran?
Thun: Also, ich bin der Meinung, dass es nicht die ePA allein ist. Vielmehr ist es wichtig, dass die Menschen ihre medizinischen Fachdaten, zum Beispiel den Langzeit-Blutzucker-Wert, bekommen und diese auch weiterverwenden können. Wie das nun passiert, das ist weltweit unterschiedlich. In vielen Ländern ist das längst Alltag. Zum Beispiel bekommen die Menschen in Amsterdam diese Werte seit vielen Jahren von ihrer Universitätsklinik und nicht in einer Krankenkassen-ePA.
Was ist da der große Unterschied?
Thun: Der wesentliche Punkt ist, dass wir endlich verstehen, die Daten gehören mir und ich darf mit meinen Daten in meinen Applikationen machen, was ich möchte. Ich bestimme das. Und wenn ich möchte, dass meine Daten der Forschung zur Verfügung gestellt werden, dann ist das meine Entscheidung. Natürlich kann ich nur jeden ermutigen, das zu tun. Ob dafür die ePA einer Krankenkasse benötigt wird, das lasse ich mal dahingestellt.
Zur Person
Prof. Dr. Sylvia Thun ist approbierte Ärztin und Diplom-Ingenieurin. Sie ist Universitätsprofessorin für digitale Medizin und Interoperabilität an der Charité in Berlin und leitet die Core Facility Digitale Medizin & Interoperabilität am Berlin Institute of Health (BIH). Außerdem ist sie Vorsitzende des Spitzenverbandes IT-Standards im Gesundheitswesen (SITiG). In den vergangenen Jahren hat sie an großen Standardisierungsprojekten auf nationaler und internationaler Ebene mitgearbeitet. Für ihr Engagement wurde sie 2022 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Herr Adolph, was kann die „AOK Mein Leben“- App im Zusammenhang mit der ePA leisten? Ermöglicht sie den Versicherten vollen Zugriff auf ihre Daten – und Souveränität?
Adolph: Die ePA ist ein relevanter Baustein, fast schon ein Fundament. Zunächst müssen die Daten irgendwo vorgehalten gehalten werden, wenn man sie nutzbar machen will. Dafür braucht es eine leistungsfähige Infrastruktur, die von der gesetzlichen Krankenversicherung mit dem dichten Filialnetz und den Ombudsstellen bereitgestellt wird. Da die GKV nicht gewinnorientiert arbeitet, sind auch die Forschungsdatenausleitungen möglich. Und wir erleben, dass das Wissen über den eigenen Gesundheitszustand auch bei vielen unserer Versicherten dazu führt, den eigenen Lebensstil zu überdenken. Wir bieten Bonusprogramme, zum Beispiel für Kunden, die 10.000 Schritte und mehr laufen. Und wir sehen, dass die Menschen motiviert sind, etwas für ihre Gesundheit zu tun, wenn sie etwas dafür bekommen.
Woran liegt es aus Ihrer Sicht, dass viele Menschen ihre Health-App nutzen, aber so wenige die ePA?
Adolph: Also, ich nehme erst mal keine breite Debatte in der Bevölkerung wahr. Ehrlicherweise stehen wir in Deutschland gerade am Anfang der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Wir müssen erst den Schritt vom Pferdekarren hin zum Auto gehen, bevor wir über den Einparkassistenten sprechen.
Viele posten ihren Gesundheitszustand ohne Bedenken auf Social Media. Und in Deutschland diskutieren wir darüber, wer diese Daten bekommen und damit arbeiten darf. Warum?
Adolph: Den amerikanischen und chinesischen Großkonzernen gelingt es sehr gut, die Mehrwerte ihrer Angebote in den Vordergrund zu stellen – und nicht so sehr die Technik dahinter. In Deutschland sprechen wir über die elektronische Patientenakte, das ist schon unglücklich: mit „elektronisch“ verbinden wir oft „kompliziert“, „Patient“ bin im Moment vielleicht gar nicht, „Akte“ klingt bürokratisch. Dabei eröffnet die ePA in Deutschland einen selbstbestimmten Gesundheitsraum, in dem der Versicherte entscheidet, wer was sehen darf. Frankreich hat das mit „mon espace santé“ gut gelöst.
Zur Person
Kornell Adolph ist Geschäftsführer Markt und Kommunikation der AOK Mein Leben GbR, die mit Einführung der ePA für die AOK-Gemeinschaft befasst ist. Der Wirtschaftsinformatiker ist darüber hinaus Geschäftsbereichsleiter Innovation und Entwicklung der AOK PLUS, der Gesundheitskasse für Sachsen und Thüringen, und dort verantwortlich für digitale Angebote für Privatkunden, Firmenkunden und Gesundheitspartner, die Anwendungen der TI, das Dataoffice sowie die AOK Digitalakademie.
Frau Thun, Sie würden Ihre Gesundheitsdaten eher in Ihrer Apple Watch speichern als in der ePA, wenn ich es richtig verstanden habe?
Thun: Ich habe gar nicht die Möglichkeit, meine Daten in einer ePA zu speichern, weil meine Krankenversicherung keine anbietet. Und die ePA, die derzeit angeboten wird, ist ja auch keine ePA im eigentlichen Sinne. Sie ist eine komplizierte Dropbox für PDF-Dokumente. Und dann haben wir auch noch Prozesse davorgeschaltet, die niemand versteht und niemand durchführen möchte. Hier braucht es die eID, einen einfachen Identifikationsmechanismus, das soll ja kommen.
Also sind wir auf einem guten Weg?
Thun: Wenn diese Krankenkassen-App auch funktionieren würde und bitte auch überall gleich wäre. Wie sollen der Landarzt und der Software-Anbieter diese ganzen ePAs in ein System bekommen? Ich sehe im Moment ein Chaos auf uns zukommen. Hier fängt jede Krankenkasse wieder an, on top ihre eigenen Applikationen und Incentives zu basteln – und Präventionsmaßnahmen. Ob aber 10.000 Schritte am Tag gesund sind, das will ich hier mal in Frage stellen. Das wissen Sie ja gar nicht als Wirtschaftsinformatiker. Das ist doch das Problem. Hätten wir in Deutschland eine einzige staatliche Lösung gehabt, wie etwa unsere Nachbarn in Österreich oder Dänemark, dann wären wir heute schon am Ziel und würden unseren Bürgern großartige Möglichkeiten anbieten können, in einer wirklich gesicherten Umgebung.
„Die ePA eröffnet in Deutschland einen selbst-bestimmten Gesundheitsraum, in dem der Versicherte entscheidet, wer was sehen darf.“
Geschäftsführer Markt und Kommunikation der AOK Mein Leben GbR
Herr Adolph, wenn Sie sich jetzt in die Versicherten und in die Ärzteschaft versetzen, wäre das nicht sinnvoller, eine ePA zu haben von allen Krankenkassen?
Adolph: Der Gesetzgeber und wir alle gemeinsam haben einen guten Kompromiss gefunden. Wir haben eine zentrale Telematikinfrastruktur, die ein gewisses Maß an Sicherheit hat, die funktioniert wie eine Datenautobahn. Alle Autos können das, was gefordert ist, um voranzukommen. Freier sind wir bei den zusätzlichen Funktionalitäten. Der Gesetzgeber wollte dem Ganzen einen wettbewerblichen Charakter geben, um Innovationen zu ermöglichen. Er hat gesagt: „Liebe Krankenkassen, strengt euch mal an, findet den besten Versorgungspfad, findet die beste Kundenreise.“ Und genau dann erreichen wir diese „Sexiness“. Die Informationen, die Daten, die in der elektronischen Patientenakte liegen, und die weiteren Informationen, die man zum Beispiel über seine Apple Watch und Co. hat, kommen dann zum Tragen. Warum soll ich denn einem Symptom-Checker-Chatbot noch mal meine halbe Lebensgeschichte erzählen, wenn die relevanten Informationen bereits in den Stammdaten der Versicherung vorhanden sind und in der ePA hinterlegt werden? Das sind keine Informationen, die der GKV und den einzelnen Krankenkassen vorliegen. Sie sind für den Kunden über sein Smartphone zugänglich, er kann Leistungserbringern Zugriff auf diese Daten geben. Die Daten liegen auf Servern und dort bleiben sie auch. Dort liegen übrigens auch die 10.000 Schritte.
Frau Thun, den Wettbewerb gibt es ja tatsächlich. Was wäre Ihr Vorschlag, um eine größere Gerechtigkeit im Sinne des Patienten herzustellen?
Thun: Gemeinsame Entwicklungen angehen, gemeinsam sicherstellen, dass die Applikationen, die angeboten werden, auch tatsächlich dem wissenschaftlichen Stand entsprechen. Wie gesagt, 10.000 Schritte sind nicht für jeden gesund. Wir haben über ein neues Gesetz die Möglichkeit, auf Daten zuzugreifen – auch für präventive Maßnahmen für ganz viele verschiedene Use Cases: Onkologie, Impfungen, Arzneimitteltherapie, -sicherheit und so weiter, chronische und nicht chronische Erkrankungen. Die Krankenkassen haben per se mehr Möglichkeiten als zum Beispiel ein Krankenhaus oder ein niedergelassener Arzt. Sie haben Zugriff auf die Daten der niedergelassenen Ärzte, auf alle Arzneimittel, auf die Reha-Daten, auf verschiedene Krankenhausdaten. Sie können Experten einkaufen, alle Daten zusammenführen und Algorithmen anwenden, auf die ein Arzt oder wir Wissenschaftler niemals Zugriff hätten. Darüber können die Krankenkassen auch finanziell steuern, zum Beispiel, indem sie Rechnungen für vermeintlich „falsche Behandlungen“ von Patienten nicht bezahlen. Keiner überprüft, welche Algorithmen die Kassen anwenden.
Wie kommt der Datenaustausch zwischen Wissenschaft und den Daten der Kasse zustande?
Adolph: Sie sprechen von der Datenausleitung aus der elektronischen Patientenakte. Die Möglichkeit, diese Daten der Wissenschaft zur Verfügung stellen zu können, hat der Gesetzgeber explizit vorgesehen in Form einer Forschungsdatenspende an das Forschungsdatenzentrum. Das ist in der ePA eingebaut. Da kann jeder mit einem Klick sagen, ob er seine Daten der Wissenschaft zur Verfügung stellen möchte – in der Hoffnung, dass 2049 diese Informationen in die Forschung eingeflossen sein werden. Und dann werden die Menschen, die heute dem Thema noch fremd gegenüberstehen, von diesen Daten profitieren, weil dann schon 20 Jahre damit geforscht wurde und wir den Krankheiten der Zukunft begegnen können werden. Dieses Bewusstsein muss man mal schaffen: „Mit den Daten, die du heute teilst, bist du solidarisch. Von denen wirst du in 20 Jahren profitieren.“
Reicht Ihnen das, Frau Thun?
Thun: Nein, natürlich nicht. Das ist etwas ganz Nachgeordnetes. Ein paar Leute werden sicherlich ihre Daten ans FDZ weitergeben, wenn das überhaupt so vorgesehen ist. Im Moment geht es nur darum, dass man die Daten der Krankenkassen, also Abrechnungsdaten, und die Krebsregisterdaten mit einer Forschungs-ID zusammenbringt und den Wissenschaftlern in Deutschland und später auch gemäß EHDS [European Health Data Space] in der EU die Möglichkeit gibt, Forschungsfragen zu stellen. Die Krankenkassen haben, wie gesagt, andere Einblicke und Auswertungsmöglichkeiten. Und da müssen wir zusammenarbeiten und von vorneherein gemeinsam auf präventive Fragen gucken und sie wissenschaftlich auswerten. Das biete ich hier an.
Adolph: Und ich nehme die Einladung gern an.
Bevor Sie jetzt zu sehr Freundschaft schließen, würde ich Sie gerne noch mal bitten, sich das Jahr 2049 vorzustellen. Welchen Beitrag kann eine elektronische Patientenakte für das Gesundheitswesen leisten?
Thun: Also, ich werde in diesem Krankenhaus arbeiten, das auch in der Serie Charité heißt. Und ich habe Dashboards. Ich kann jederzeit alles sehen. Ich sehe also nicht nur die Daten des einzelnen Patienten, sondern kann die sofort vergleichen mit den Daten weltweit. Ich sehe, wie ein bestimmtes Medikament wirkt und welche klinischen Studien gerade auf dem Weg sind, wo ich Patienten rekrutieren kann, die ähnliche Erkrankungsbilder oder Symptome aufweisen. Für mich gibt es die Trennung gar nicht zwischen Forschungsdaten und Gesundheitsdaten. Ich bin nicht nur Ärztin, sondern zugleich Forscherin.
Adolph: Ich begrüße es, wenn das Einzelwissen des medizinisch Handelnden, genau dieses Weltwissen, nenne ich es mal, erweitert wird in dem ganz konkreten Behandlungsfall. Mein Wunsch wäre, dass die Versicherten, schon bevor sie in die 2049er-Charité gehen, bereits das gute Gefühl haben, dass sie in diesem Haus gut aufgehoben sein werden. Bis dahin hat die Transparenz der Daten einen Qualitätswettbewerb im deutschen Gesundheitswesen in Gang gesetzt. Zugleich haben die Menschen ein besseres Bewusstsein für die eigene Gesundheit und für das, was sie schon vorher tun können, um diese zu erhalten. Das wird dazu führen, dass der Einzelne nur in ein Krankenhaus muss, wenn es der akute Gesundheitszustand explizit erfordert. Es wird nicht mehr jede Bagatell-Erkrankung in der Notaufnahme vorgestellt.
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