Artikel Versorgung

Fahrt zur Wiedereingliederung nicht auf Kassenkosten

18.09.2024 Jutta Kaempfe 5 Min. Lesedauer

Langzeiterkrankte können bei einer stufenweisen betrieblichen Wiedereingliederung die Fahrkosten zur Arbeit nicht immer von ihrer Krankenkasse beanspruchen.

Symbolbild eines Paragraphenzeichen, das auf einem geöffneten Buch steht

Urteil vom 16. Mai 2024

– B 1 KR 7/23 R –
Bundessozialgericht

Nach längerer Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers ist häufig eine Arbeitsaufnahme zunächst nur in reduziertem Umfang möglich. Fallen bei einer stufen­weisen Wiedereingliederung langzeiterkrankter Menschen (mehr als sechs Wochen) ins Erwerbsleben Fahrkosten zur Arbeitsstelle an, stellt sich für den Betroffenen die Frage nach einer eventuellen Erstattung durch seine Kranken­kasse. Einen Anspruch auf Übernahme von Fahrkosten sieht Paragraf 60 Absatz 5 Sozialgesetzbuch (SGB) V vor. Danach übernehmen Kassen im Zusammenhang mit Leistungen zur medizinischen Rehabilitation Kosten nach Paragraf 73 Absatz 1 und 3 SGB IX. Doch haben Langzeiterkrankte prinzipiell einen Anspruch darauf, die Fahrkosten von ihrer Kasse erstattet zu bekommen? Ob dem so ist, hat nun das Bundessozialgericht (BSG) klargestellt.

„Vor diesem Urteil hatten Gerichte in vergleichbaren Konstellationen unterschiedlich entschieden. Mit seiner Entscheidung hat das Bundessozialgericht die Rechtspraxis nun vereinheitlicht.“

Dr. Jutta Kaempfe

Justiziarin beim AOK-Bundesverband

Ärztin erstellte Plan

Geklagt hatte ein Mann, der vom 6. August bis 16. Dezember 2018 arbeitsunfähig erkrankt war und Krankengeld bezog. Eine ambulante oder stationäre Reha machte er nicht. Seine Hausärztin erstellte am 22. November 2018 einen ärztlichen Wiedereingliederungsplan entsprechend Paragraf 74 SGB V. Die Wiedereingliederung betrug zehn Arbeitstage (3. bis 14. Dezember 2018). In dieser Zeit erhielt er Krankengeld. Der Kläger fuhr an diesen Tagen zu seiner Arbeitsstelle, die 20 Kilometer von seinem Wohnort entfernt war (ein­fache Wegstrecke). Die Fahrkosten dafür betrugen insgesamt 85 Euro. Diese wollte er von seiner Kasse erstattet bekommen. Er verwies auf die Regelung in Paragraf 60 Absatz 5 SGB V, wonach die Kasse die Fahrkosten zu übernehmen habe, „wenn sie im Zusammenhang mit Leistungen zur medizinischen Rehabilitation stehen“. Seine Kasse habe Leistungen zur medizinischen Reha und „ergänzende Leistungen“ wie Fahrkosten zu übernehmen, um eine Behinderung oder Pflege­bedürftigkeit abzuwenden oder zu mildern. Die Wiedereingliederung sei eine Reha-Maßnahme.

Nachdem die Kasse die beantragte Kostenerstattung abgelehnt hatte, klagte er. Das Sozialgericht hob den ablehnenden Bescheid auf. Die Kasse müsse die Fahrkosten zahlen. Diese legte Berufung ein. Das Landessozialgericht (LSG) hob das erstinstanzliche Urteil auf und wies die Klage ab. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Erstattung der Fahrkosten zur Arbeitsstelle während der Wiedereingliederung. Diese sei keine Reha-Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Auch bestehe kein Anspruch gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung. Diese übernehme zwar in der Regel die Fahrkosten für Arbeitnehmer bei einer Wiedereingliederung. Voraussetzung sei aber, dass diese Bestandteil einer Reha-Gesamtmaßnahme sei – etwa wenn der Arbeitnehmer nach einem stationären Aufenthalt direkt stufenweise in den Job zurückkehren solle. Der Kläger aber habe weder eine ambulante noch stationäre Reha in Anspruch genommen.

Jüngste Zahlen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) machen deutlich: Im Jahr 2022 betrug der Anteil der mehr als sechs Wochen erkrankten AOK-Mitglieder an den Arbeitsunfähigkeitsfällen (AU) 3,5 Prozent. Ihr Anteil am gesamten AU-Volumen lag bei 38 Prozent. Besonders viele Langzeiterkrankungen gab es in der Forst- und Landwirtschaft (Anteil an AU-Tagen: 47,5 Prozent), aber auch im Gesundheits- und Sozialwesen (39,1 Prozent). Langzeitfälle sind häufig auf chronische Erkrankungen zurückzuführen.
Jüngste Zahlen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) machen deutlich: Im Jahr 2022 betrug der Anteil der mehr als sechs Wochen erkrankten AOK-Mitglieder an den Arbeitsunfähigkeitsfällen (AU) 3,5 Prozent. Ihr Anteil am gesamten AU-Volumen lag bei 38 Prozent. Besonders viele Langzeiterkrankungen gab es in der Forst- und Landwirtschaft (Anteil an AU-Tagen: 47,5 Prozent), aber auch im Gesundheits- und Sozialwesen (39,1 Prozent). Langzeitfälle sind häufig auf chronische Erkrankungen zurückzuführen.

Keine Reha-Leistung

Gegen dieses Urteil legte der Mann Revision beim BSG ein – ohne Erfolg. Die Fahrten stünden in keinem Zusammenhang mit einer Leistung zur medizinischen Reha, so das BSG. Eine medizinische Reha diene nach Paragraf 11 Absatz 2 SGB V dazu, Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern. Die Wiedereingliederung habe einen anderen Zweck: Der Versicherte solle seine Arbeitsfähigkeit wiederlangen. Es solle ihm ermöglicht werden, bei einer fortbestehenden Arbeitsunfähigkeit zunächst in eingeschränktem Umfang wieder zu arbeiten. Auch  ließe sich aus Paragraf 74 SGB V kein Anspruch ableiten. Diese Rechtsnorm umschreibe lediglich die Aufgabe des Vertragsarztes, Angaben über mögliche Tätigkeiten auf der AU-Bescheinigung zu machen, denen der Versicherte nach ärztlicher Einschätzung teilweise nachgehen könne.

Darüber hinaus sei die Krankenkasse nicht als erstangegangener Leistungsträger (Paragraf 14 Absatz 2 SGB IX) zur Kostenerstattung verpflichtet. Hier käme ein Anspruch gegen den Rentenversicherungsträger als Träger der medizinischen Reha in Betracht. Im vorliegenden Fall sei die Wiedereingliederung nicht neben einer medizinischen Reha erbracht worden. Dies aber setzten die Paragrafen 28 Absatz 1 SGB VI und 64 Absatz 1 SGB IX voraus.

Zugleich verwies das BSG darauf, dass die Rentenversicherungsträger zwar Leistungen zur medizinischen Reha  erbringen (Paragraf 15 SGB VI) und dass die Wiedereingliederung in Paragraf 44 SGB IX ausdrücklich vorgesehen sei. Doch eine ohne Zusammenhang mit Leistungen zur medizinischen Reha durch­geführte (isolierte) stufenweise Wiedereingliederung sei nach diesen Vorschriften keine Leistung zur medizinischen Reha.

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