Artikel Versorgung

Recht: Kein Anspruch auf Off-Label-Use

19.10.2023 Anja Mertens 6 Min. Lesedauer

Ist ein Arzneimittel nicht zur Behandlung zugelassen, muss die Krankenkasse nicht dafür aufkommen – auch nicht bei regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheiten.

Symbolbild eines Paragraphenzeichen, das auf einem geöffneten Buch steht

Urteil vom 29. Juni 2023

– B 1 KR 35/21 R –
Bundessozialgericht

Für Menschen mit einer regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung ist sie oft der letzte Strohhalm: eine Therapie mit nicht zugelassenen oder außerhalb ihrer Zulassung verschriebenen Arzneimitteln (Off-Label-Use). Doch dabei gibt es Grenzen, wie der Fall eines sterbenskranken Patienten verdeutlicht, den das Bundes­sozialgericht (BSG) zu entscheiden hatte.

Geklagt hatte ein heute 18-Jähriger, der wegen eines Gendefekts an der seltenen Duchenne-Muskeldystrophie erkrankt ist. Seit 2015 kann er nicht mehr gehen. Er beantragte 2019 bei seiner Krankenkasse die Kostenübernahme für das Arzneimittel Translarna.

Zulassung nicht erweitert

Es ist von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) für die Behandlung der Duchenne-Muskeldystrophie zugelassen – wegen der eingeschränkten Datenlage allerdings nur für Patienten, die noch gehen können. Der Pharmahersteller hatte zwar eine Zulassung auch für nicht gehfähige Patienten angestrebt. Doch wegen fehlender ausreichender Studien lehnte die EMA die Zulassung für dieses erweiterte Indikations­gebiet ab.

Nachdem die Kasse den Antrag mit der Begründung abgelehnt hatte, der Versicherte sei nicht gehfähig und die Wirksamkeit des Medikaments sei auch wegen des erfolglos gebliebenen Zulassungsverfahrens nicht belegt, klagte er vor dem Sozialgericht, hatte dort aber keinen Erfolg. Seine Berufung vor dem Landes­sozialgericht (LSG) war hingegen erfolgreich. Es hob die Entscheidung der Vorinstanz auf und verurteilte die Krankenkasse, die  Kosten zu übernehmen. Der Anspruch ergebe sich aus Paragraf 2 Absatz 1a SGB V. Es bestehe eine auf Indizien ge­stützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den weiteren Krankheitsverlauf. Dies reiche bei regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheiten aus, den Anspruch zu begründen, urteilte das LSG. Die wissenschaftliche Erforschung der Wirksamkeit von Translarna habe neue Hinweise auf eine positive Wirkung erbracht.

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Nur bei Gehfähigkeit

Gegen das zweitinstanzliche Urteil legte die Kasse Revision beim BSG ein und hatte Erfolg. Die obersten Sozialrichter entschieden, dass der Kläger die Versorgung mit Translarna nicht beanspruchen kann. Ein Anspruch nach den arzneimittelrechtlichen Vorschriften scheide aus (Paragraf 27 und 31 SGB V). Denn das Medikament sei nur zur Behandlung von noch gehfähigen Patienten zugelassen und nicht – wie im vorliegenden Fall – für Patienten, die nicht mehr gehen könnten.

Auch habe er keinen Anspruch auf eine Versorgung im Off-Label-Use – weder nach Paragraf 35c SGB V, der die zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln aufgrund von Empfehlungen des Gemein­samen Bundesausschusses (GBA) im Falle von klinischen Studien regelt, noch nach den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsprechung zum Off-Label-Use. Ein Anspruch nach Paragraf 35c SGB V scheide aus, da für die beim Kläger bestehende Indikation (Gehunfähigkeit) keine Bewertung erfolgt sei und die Behandlung nicht im Rahmen einer ambulanten klinischen Studie vorgenommen werden soll.

„Die Sperrwirkung kann überwunden werden, wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, die nach der EMA-Entscheidung veröffentlicht werden. Das ist hier aber nicht der Fall.“

Anja Mertens

Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes

Keine Erfolgsaussicht

Zudem fehle es aufgrund der Datenlage an einer begründeten Aussicht auf einen Behandlungserfolg. Dafür müssten Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssten also Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen. Dies sei aber nicht der Fall.

Grafik Muskeldystrophien: Fakten rund um das Erkrankungsbild
Quelle: Bundesforschungsministerium, Deutsche Duchenne Stiftung

Auch bestehe kein Anspruch nach Paragraf 2 Absatz 1a SGB V. Denn danach müsse es eine hinreichende Aussicht auf Heilung oder spürbaren positiven Einwirkung auf den Krankheitsverlauf geben. Diese Voraussetzung sei aber hier nicht erfüllt. Denn die vom Hersteller beantragte Erweiterung der Zulassung für gehunfähige Patienten habe die EMA abgelehnt. Sei ein Zulassungsverfahren erfolglos geblieben und lägen keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse vor, bestehe eine „Sperrwirkung“, sodass die Krankenkasse die Kosten für das Arzneimittel nicht übernehmen müsse.

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