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Recht: Klinik muss für erforderliche Nachuntersuchung sorgen

16.10.2024 Kathleen Neumann 4 Min. Lesedauer

Klinikärzte müssen notwendige Untersuchungen auch nach der Entlassung eines Patienten veranlassen. Andernfalls liegt ein Befunderhebungsfehler vor.

Symbolbild eines Paragraphenzeichen, das auf einem geöffneten Buch steht

Urteil vom 4. Juni 2024

– VI ZR 108/23 –
Bundesgerichtshof

Babys, die zu früh auf die Welt kommen, tragen ein erhöhtes Risiko, eine geistige oder körperliche Behinderung zu entwickeln. Und je länger ein Frühgeborenes intensivmedizinisch betreut werden muss, desto größer ist die Gefahr für Langzeitschäden. Daher sind nach der Entlassung eines Frühchens aus dem Krankenhaus Nachsorgeuntersuchungen wichtig. Diese kann die Klinik als nachstationäre Behandlung selbst vornehmen (Paragraf 115a SGB V) oder im Rahmen des Entlassmanagements planen (Paragraf 39a SGB V). Der Patient beziehungsweise die Eltern erhalten diese Informationen am Entlassungstag in Form eines Entlassbriefes, der vollständig und korrekt sein muss. Welche Folgen ein fehlerhaftes Entlassmanagement haben kann, verdeutlicht ein aktuelles Urteil des Bundes­gerichtshofs (BGH).

„Der BGH stellt klar, dass ein Befunderhebungsfehler auch dann vorliegt, wenn ein Arzt es pflichtwidrig unterlässt, die Erhebung medizinisch gebotener Befunde zu veranlassen – ein Urteil, das aus Patientensicht zu begrüßen ist.“

Kathleen Neumann

Justiziarin beim AOK-Bundesverband

Auf einem Auge erblindet

In dem Fall ging es um ein Neugeborenes, das im Juli 2016 als Frühchen in der 25. Schwangerschaftswoche zur Welt kam. Weil bei Frühchen ein großes Risiko für eine schwerwiegende, das Leben massiv beeinträchtigende Schädigung der Sehkraft bis hin zur vollständigen Erblindung durch eine gestörte Netzhautentwicklung oder gar Netzhautablösung (Retinopathie) besteht, nahmen die behandelnden Klinikärzte unmittelbar nach der Geburt regelmäßige augenärztliche Untersuchungen vor. Ende Oktober 2016 wurde das Kind nach Hause entlassen. Die Ärzte empfahlen den Eltern die nächste augenärztliche Kontrolluntersuchung in drei Monaten. Bei der Entlassung vor dem berechneten Geburtstermin gab es keinerlei Hinweise auf eine Netzhautveränderung. Keine vier Wochen später wurde jedoch eine Retinopathie festgestellt. Das rechte Auge war dann schon nicht mehr zu behandeln; auch die Behandlung des linken Auges hatte kaum Erfolg. Auf dem rechten Auge ist das Kind vollständig erblindet, auf dem linken Auge hat es eine hochgradige Sehbehinderung. Dadurch kann es kaum zielgerichtet greifen. Der anerkannte Grad der Behinderung (GdB) beträgt 100 Prozent.

Die Eltern des Klägers warfen der Klinik vor, es sei ein Behandlungsfehler gewesen, eine Kon­trolluntersuchung erst drei Monate nach der Krankenhaus­entlassung zu empfehlen. Das Landgericht wies die Klage ab. Die dagegen eingelegte Berufung hatte Erfolg. Das Oberlandes­gericht (OLG) sprach dem Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 130.000 Euro zu. Die Empfehlung, das Kind erst in drei Monaten wieder einem Augenarzt vorzustellen, sei eine fehlerhafte therapeutische Sicherungsaufklärung. Gegen ­diese Entscheidung legte das Krankenhaus Revision beim BGH ein.

Fehler bei Befunderhebung

Der BGH hob das vorinstanz­liche Urteil auf und verwies den Fall zur erneuten Entscheidung an das OLG zurück. Wie die Vorinstanz bejahte der BGH einen Fehler der Klinikärzte. Aber anders als das OLG stützte er die Haftung der Klinik für den Schaden nicht auf eine Verletzung der Pflicht zur therapeutischen Sicherungsaufklärung, sondern auf einen Befunderhebungsfehler. Denn das erhöhte Risiko für Frühchen besteht bis zum regulären Geburtstermin fort. Die Ärzte hätten es sowohl pflichtwidrig unterlassen, die Erhebung medizinisch gebotener Befunde spätestens am berechneten Geburtstermin zu veranlassen, als auch die Befunderhebung durch falsche Angaben (wonach eine weitere Untersuchung erst in drei Monaten geboten sei) vereitelt. Dies sei als Befunderhebungs­fehler einzuordnen.
 
Ein Krankenhaus sei berechtigt, gesetzlich Versicherte im Anschluss an die stationäre Behandlung ohne Unterkunft und Verpflegung weiter zu behandeln, und verpflichtet, für eine sachgerechte Anschlussversorgung zu sorgen. Es müsse in einem Entlassplan die medizinisch unmittelbar erforderlichen Anschlussleistungen festlegen und in Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärzten und dem Pflegepersonal die gebotene Anschlussversorgung fachlich strukturieren und kon­kretisieren sowie die vorgesehenen konkreten Abläufe mit den daran Beteiligten koordinieren.

Beweislastumkehr greift

Beim Unterlassen der Unter­suchung habe für das Kind das Risiko bestanden, eine schwerwiegende und sein Leben massiv beeinträchtigende Schädigung zu erleiden. In dieser Situation hätte das Krankenhaus zum Schutz des ihm anvertrauten Kindes zumindest in Absprache mit den Eltern frühzeitig Kontakt mit einem weiterbehandelnden Augenarzt aufnehmen und für eine rechtzeitige Untersuchung, beispielsweise durch Vereinbarung eines Termins, sorgen müssen. Somit greife die Umkehr der Beweislast nach Paragraf 630h Bürgerliches Gesetzbuch zugunsten des klagenden Kindes, so die obersten Zivilrichter.

Tipp für Juristen

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