Hören mit Knopf hinter dem Ohr
Vor mehr als 20 Jahren bekam Sumita Dräger ein Cochlea-Implantat. Die Prothese ermöglicht ihr ein Leben ohne Barrieren zur Welt der Hörenden. Dafür hat die Erzieherin und Mutter einer kleinen Tochter viel trainiert.
Klack. Der Stein fällt aus Milas Händchen auf die vielen anderen weißen Kiesel neben dem Springbrunnen. Sofort hebt die Zweieinhalbjährige mit dem Wuschelkopf die nächsten Kiesel auf. Klack, klack, klack – Mila jauchzt begeistert und strahlt ihre Mama Sumita Dräger an. Und die lacht fröhlich zurück. Sie kann das Hörerlebnis mit ihrer Tochter teilen, weil sie ein Cochlea-Implantat (CI) trägt. Sonst wären die Steine für sie lautlos auf den Boden gefallen.
Sumita Dräger ist von Geburt an taub – und sie hat in dem Alter, in dem ihre hörende Tochter jetzt ist, zum ersten Mal überhaupt selbst Geräusche und Sprache wahrgenommen. Vor 23 Jahren wurde ihr ein CI eingesetzt. Den schwarzen Sprachprozessor trägt sie seither hinter dem rechten Ohr, die magnetische Spule, die die Signale des Prozessors auf das Implantat unter der Kopfhaut überträgt, ist komplett von ihren dunklen Locken verdeckt.
Einmal jährlich zum Test
Die 25-jährige Frau ist zusammen mit ihrer Tochter und ihrem Freund Andreas zur jährlichen Routineuntersuchung im Hörzentrum aus dem Saarland nach Hannover angereist. Alle Erwachsenen, die in der Medizinischen Hochschule ein CI implantiert bekommen haben, werden in dem weißen, futuristisch gestalteten 70er-Jahre-Bau regelmäßig untersucht. Es geht um die Hörfähigkeit mit den Cochlea-Implantaten, um das Sprachverstehen der CI-Träger, um die Signalstärke der kleinen Geräte, die für rund 60.000 Menschen in Deutschland heute selbstverständlich zum Alltag gehören.
„Doris bekommt acht neue Steine“, tönt aus den beiden Lautsprechern, vor denen Sumita Dräger gerade sitzt. Sie wiederholt das Gehörte – fehlerfrei. „Tanja hat zwei alte Messer“, „Ulrich malt elf weiße Dosen“, „Nina gibt zwei weiße Autos“ – die Sätze, die in unterschiedlicher Lautstärke mit Computerstimme aus den Boxen kommen, ergeben nicht wirklich Sinn, aber Sumita kennt das Prozedere von klein auf. Ruhig wiederholt sie die Sätze, zu 90 Prozent fehlerfrei, sogar 98 Prozent schafft sie bei einigen Aufgaben, die ihr die Logopädin und akademische Sprachtherapeutin Tabea Otte einspielt. Sie klickt auf den Button „All correct“, dann ist schon der nächste Satz zu hören. Minutenlang geht es so in dem ruhigen Büro im Hörzentrum. Dann erhöht die Logopädin den Schwierigkeitsgrad.
„Noch behandeln wir nur die Symptome. Wir wollen aber an die Ursache des Hörverlustes gehen und eine für jeden Patienten maßgeschneiderte Therapie anbieten, um das normale Gehör zu erreichen.“
Direktor der HNO-Klinik, Medizinische Hochschule Hannover
Hören mit Geräuschkulisse
Ein lautes Störgeräusch – wie aus einem rauschenden Radio – wird über die Worte gelegt: „Peter kauft 18 neue Schuhe“, sagt die Computerstimme, oder: „Wolfgang sieht neun alte Sessel“. Ziemlich oft sind die Sätze durch das Rauschen auch für Normalhörende nur schwer zu entschlüsseln. Aber Sumita lässt sich davon nicht beirren: Sie wiederholt auch diese Sätze weitgehend fehlerfrei. „Minus sechs Dezibel“, stellt die Logopädin beim Blick auf den Bildschirm etwas erstaunt fest. Um diesen Wert kann die Computersprache leiser sein als das Störgeräusch – trotzdem versteht Sumita noch mindestens die Hälfte der Worte. Zum Vergleich: Menschen mit normalem Gehör erreichen einen Wert von minus sieben Dezibel. „Das ist ein absoluter Topwert“, lobt sie die junge Frau deshalb auch, „minus Sechs habe ich noch nie gemessen, das ist wirklich hervorragend.“
„Das isch das Training im Kindergarten“, sagt Sumita Dräger mit leichter saarländischer Sprachfärbung. Seit drei Jahren arbeitet die ausgebildete Erzieherin in einer integrativen Kindertagesstätte im Saarbrücker Stadtteil Burbach. Acht Kinder betreut sie in ihrer Gruppe, drei davon haben eine Behinderung wie beispielsweise ein Down-Syndrom. Nach der Realschule und Fachhochschulreife hat Sumita Dräger diesen pädagogischen Beruf gewählt – eine besondere Herausforderung für Menschen, die mit einem Cochlea-Implantat hören.
Diagnose Taubheit
Rückblende: Sumita wurde als verwaistes Baby im Alter von sieben Monaten von ihren Eltern Petra und Erich Dräger in einem Kinderheim in Nairobi adoptiert und nach Deutschland gebracht. Als das kleine Mädchen etwa zehn Monate alt war, fielen dem Dachdeckermeister und seiner Frau auf, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmte: Sie reagierte nicht auf laute Geräusche wie etwa von einem Staubsauger. Es dauerte noch gut eineinhalb Jahre, bis ihre Taubheit schließlich vom Landesarzt für Hörgeschädigte richtig diagnostiziert wurde:„Sumita ist fast 100 Prozent gehörlos.“ Die Eltern stellten Sumita in Hannover vor. Im Alter von zweieinhalb Jahren setzten ihr die Ärzte in der Medizinischen Hochschule ein Cochlea-Implantat ein. Sechs Wochen nach der Operation wurde das Implantat eingeschaltet – und das lebhafte Mädchen konnte zum ersten Mal die Stimmen ihrer Eltern hören. Viele Jahre mit intensivem Sprech- und Sprachtraining folgten dann – und eine Erziehung, die sich intensiv ums Erzählen und Zuhören drehte. Ein buntes Erlebnisbuch half dabei, in das die Drägers alle ihre Ausflüge und Ereignisse geklebt haben. Damit animierten sie Sumita immer wieder selbst zu sprechen. „Es gab abends schon Momente, wo man sich selbst nicht mehr hören konnte“, erinnert sich ihre Mutter an diese Zeit.
Wiedersehen im Hörzentrum
Als Kleinkind bekam Sumita Dräger 2001 ein Cochlea-Implantat. G+G-Autor Jörn Hons traf sie einen Tag nach der Operation und fasste seine Eindrücke für die Leserinnen und Leser zusammen. Nach einem erneuten Treffen 2012 im Cochlear Implant Centrum Wilhelm Hirte berichtete Hons in G+G, dass Sumita Dräger „in ihrer Sprache zu Hause“ sei. Die aktuelle Reportage ist der dritte Teil einer Erfolgsgeschichte.
Tests sind reine Routine
Dafür sind die Tests für Sumita Dräger heute reine Routine. Das Hörzentrum Hannover der Medizinischen Hochschule ist an diesem Montagmorgen ziemlich leer und still – es sind Sommerferien in Niedersachsen. Ingenieurin Madita Pusch, die erst seit kurzem im Hörzentrum arbeitet, fragt die 25-Jährige zunächst, ob es im vergangenen Jahr irgendwelche Schwierigkeiten gab: „Nein, keine“, gibt Sumita kurz zurück. Dann verbindet die Ingenieurin ein Kabel mit dem Sprachprozessor hinter Sumitas Ohr. Anschließend wendet sie sich einer Art Mischpult auf dem Computer zu und testet die Elektroden, die in Sumitas Innenohr am Hörnerv liegen. Mit den elektrischen Impulsen wird der Hörnerv stimuliert. Aus diesen Nervenimpulsen interpretiert das Gehirn nicht nur die Sprache, sondern auch alle anderen Töne und Geräusche, vom leisen Windzug bis zur ohrenbetäubenden Sirene.
Die Elektrode ist in 22 Abschnitte zwischen 188 Hertz im Tiefton- und 7.938 Hertz im Hochtonbereich unterteilt. Das ist der Frequenzbereich für das Sprachverstehen. Die MHH-Expertin überprüft nacheinander die einzelnen Elektroden. Zwischen angenehm, zu leise und zu laut stellt sie die Lautstärke der Frequenzen ein. Doch viel regulieren muss Madita Pusch nicht. Sumita Dräger tippt mit ihrem Finger meist auf „angenehm“ oder „gut“.
„Nicht sehen können trennt von den Dingen, nicht hören können trennt von den Menschen.“
deutscher Philosoph (1724 – 1804)
Zweites Implantat mit 18
Das ändert sich erst, als die Ingenieurin mit dem Kabel zum zweiten Implantat hinter dem linken Ohr wechselt. Dieses CI wurde Dräger erst im Alter von 18 Jahren eingepflanzt. Bis dahin verstärkte ein Hörgerät das geringe Resthörvermögen in diesem Ohr. Die Hörfähigkeit hat sich durch das neue Implantat nach ihrem Eindruck um 50 Prozent verbessert. „Vor allem kann ich jetzt viel besser als früher hören, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt“, betont die junge Frau. Trotzdem ist das Hören mit dem später versorgten Ohr im Vergleich anders und etwas schlechter. „Sie tragen das CI links nur etwas über acht Stunden am Tag“, stellt die MHH-Ingenieurin beim Blick auf den Bildschirm fest, „das andere haben Sie dagegen fast 23 Stunden auf – richtig?“ Sumita Dräger bestätigt: „Ich bekomme häufiger Kopfschmerzen, wenn ich beide Spulen gleichzeitig trage“, erzählt sie. Die neuere linke Spule mit dem Sprachprozessor setzt sie nach der Arbeit deshalb oft schnell ab. Die rechte Spule bleibt dagegen auch nachts hinter dem Ohr – unter anderem, um jederzeit zu hören, wenn Mila sich meldet.
40 Jahre Cochlea-Implantation in Hannover
Im Jahr 1984 hat der damalige Chef der Hals-Nasen-Ohren-(HNO-)Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), Professor Ernst
Lehnhardt, der ersten Patientin in Deutschland ein Implantat in die Hörschnecke (Cochlea) eingesetzt, um der vollständig ertaubten Frau das Hören wieder zu ermöglichen. 1988 ist erstmals ein Kind mit einem CI versorgt worden. Heute werden in Hannover pro Jahr bis zu 600 Cochlea-Implantationen vorgenommen. Rund 4.000 solcher Operationen sind es bundesweit. 60.000 Menschen leben in Deutschland mit einem CI. Mehr als 11.000 wurden seit 1984 in der MHH behandelt.
Zu Beginn erhielten nur Menschen mit einem vollständigen Hörverlust ein CI. Seit Jahren werden auch Patienten mit einseitiger Taubheit versorgt. Zudem wird in Hannover heute Restgehör-erhaltend operiert. Laut Professor Thomas Lenarz, Direktor der HNO-Klinik der MHH und des Hörzentrums Hannover, arbeiten die Wissenschaftler auch an einer medikamentösen Therapie der Hörzellen mit Hilfe von gentechnisch hergestellten Proteinen. Noch vorhandene Hörzellen im Innenohr sollen auf diese Weise zum Wachsen angeregt werden. Nicht zuletzt operieren die Ärzte der MHH manche Patienten heute nicht mehr nur in Vollnarkose, sondern auch unter örtlicher Betäubung.
Die Technik von Sprachprozessor, Spule und Implantat hat sich in diesen 40 Jahren deutlich verändert. Die Steuerung des Sprachprozessors per Bluetooth über eine Handy-App ist vielleicht am augenfälligsten: Die Patienten können ihr Hören damit selbst regulieren und an die jeweilige Hörsituation anpassen. Es gibt zudem Apps, die ein individuelles Hörtraining für CI-Träger ermöglichen. Seit gut 20 Jahren ist es möglich, über das Implantat eine Antwort des Hörnervs zu messen. Die neueste Entwicklung ist eine Fernjustierung der Geräte: Die MHH-Techniker schalten sich dabei mit dem Handy des Patienten zusammen und prüfen, ob das CI richtig arbeitet. Nach dem Sturz eines Kindes kann so beispielsweise aus der Ferne getestet werden, ob das Implantat noch richtig funktioniert.
Auch in der Behandlung, der Nachsorge und Rehabilitation der CI-Träger hat sich nach den Worten von Lenarz viel getan: „Wir konnten die Rehabilitation nach der Implantation zum Beispiel von früher drei Wochen auf heute drei bis fünf Tage verkürzen.“ Die Schulung der neu mit CI versorgten Kinder dauert heute in der Regel nur drei Tage im monatlichen Turnus, danach werden die Abstände größer – bis die Jugendlichen und Erwachsenen nur noch einmal jährlich zur Untersuchung kommen müssen.
Text: Jörn Hons
Freizeit bei den Jecken
Seit zwei Jahren nutzt Sumita Dräger zudem eine App, die ihr Handy per Bluetooth mit dem Sprachprozessor verbindet. „Das ist cool“, findet sie. Mit der App lassen sich maximal vier Hörprogramme, die Lautstärke, die Empfindlichkeit und die Geräuschunterdrückung ihrer Geräte per Fingertipp auf unterschiedliche Alltags- und Berufssituationen einstellen. Was sie gar nicht so oft nutzt: „Wenn ich ehrlich bin, vergesse ich oft, in andere Programme umzuschalten, ich höre eigentlich mit allen gut.“ Dafür kann sie mithilfe von Bluetooth Musik hören oder direkt „im Ohr“ telefonieren. „Andreas, Milas Papa, ist manchmal etwas genervt, wenn ich Musik höre und er das nicht sieht und auch nicht hört – denn ich habe dann ja keine Knöpfe im Ohr oder einen Kopfhörer auf“, lacht sie.
Nicht zuletzt macht ihr die Technik auch ihre liebste Freizeitbeschäftigung leichter, den Karneval. Als Kind hat sie ihr Herz für die Jecken im Saarland entdeckt: Die „Knallerbsen“ in Illingen bei Saarbrücken sind ihre Leidenschaft. Als „Sumita I.“ war sie schon Karnevalsprinzessin, seit einigen Jahren ist sie auch Trainerin für die „Kichererbsen“, einer Formation aus drei- bis sechsjährigen Mädchen und Jungen. Mit großer Begeisterung übt sie mit dem Nachwuchs Tänze und ganze Aufführungen ein – zu der Musik von „König der Löwen“, „Die Schöne und das Biest“ oder auch „The Greatest Showman“.
Millionen Menschen haben eine Hörbeeinträchtigung
Etwa 13 Millionen der 84 Millionen Bundesbürgerinnen und -bürger gelten als leicht schwerhörig bis praktisch taub. Bei etwa acht Millionen Menschen hierzulande ist die Hörbeeinträchtigung so gravierend, dass die Patientinnen und Patienten einer Hörhilfe oder medizinischer Behandlung bedürfen. Genauere epidemiologische Zahlen zur Differenzierung in der Gruppe der hörbehinderten Menschen gibt es nicht. Nach einer Schätzung des Deutschen Schwerhörigenbundes sind etwas mehr als 200.000 Menschen an Taubheit grenzend schwerhörig.
Quellen: Deutscher Schwerhörigenbund; MHH
Alles ohne Auffälligkeiten
Nach eineinhalb Stunden Tests und kurzen Wartepausen zwischendurch – eine Hals-Nasen-Ohren-Ärztin hat noch die Gehörgänge und die Kopfhaut unter den Spulen kontrolliert – hat Sumita Dräger die jährliche Untersuchung überstanden. Hinter der Glastür des Hörzentrums, die sich automatisch öffnet, wartet Mila schon an der Hand ihres Vaters Andreas. „Auf den Arm“, bedeutet sie ihrer Mama mit nach oben gereckten Ärmchen, sie schmiegt sich zusammen mit ihrem Kuscheltier fest an, plappert kurz und zeigt ihr etwas, lässt sich im nächsten Augenblick aus der Umarmung rutschen und läuft zum Brunnen mit den weißen Kieseln. Doch dann will sie mit ihrer Mama erstmal durch die Glastür ins Foyer des Hörzentrums, und dann auch schnell wieder zurück zu den Steinen. Klack!
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