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G+G-Wissenschaft: Bequeme Spritzen und unbequeme Wahrheiten

16.10.2024 Ines Körver 3 Min. Lesedauer

Auch wenn Parolen in der Politik derzeit Konjunktur haben, zur Lösung von Problemen taugen sie oft nicht. Ein Beispiel ist das Thema Fachkräftemangel und wie man damit umgeht. Hier zeigt sich: Oft werden umfassende und daher nicht leicht zu vermarktende Maßnahmen gebraucht, auch im Gesundheitswesen.

Zwei Frauen in medizinischer Kleidung und Haarnetzen sitzen in einem Umkleideraum auf Stühlen. Eine spricht, die andere legt ihr verständnisvoll den Arm auf die Schulter.
Der Fachkräftemangel ist in vielen Branchen spürbar – nicht nur in der Pflege.

In der Medizin gibt es gute Gründe, zwischen der Ursache, also dem eigentlichen Problem, und dem Symptom zu unterscheiden. Symptome zeigen dem Patienten und/oder dem Behandler, dass gesundheitlich etwas nicht in Ordnung ist und ein Problem, wenn es denn möglich ist, behandelt und abgestellt werden sollte. Lediglich an Symptomen herum zu kurieren, schafft manchmal kurzfristig Erleichterung. Es ist aber mittel- oder langfristig nicht die richtige Strategie, wenn das Problem persistiert. Man denke an orthopädische Beschwerden. Die schnell gesetzte Spritze lässt vielleicht die Schmerzen rasch abklingen, doch das dahinterliegende Problem – möglicherweise eine Bewegungseinschränkung, wegen der etwa ein Arm oder ein Bein Kompensationsbewegungen ausführt, die nach einer Weile zu Schmerzen führen – wird so nicht gelöst. Will man das Problem dauerhaft in den Griff bekommen, helfen unter Umständen nur regelmäßige Sportübungen, was für den Patienten natürlich deutlich aufwändiger ist als die Spritze.

Fachkräftemangel als Symptom

Manchmal ist es auch außerhalb der Krankenbehandlung sinnvoll, die Unterscheidung zwischen Symptom und Ursache zu verwenden, beispielsweise wenn man über Fachkräftemangel im Gesundheitswesen redet. Seit über zwei Dekaden thematisiert beispielsweise die Kassenärztliche Bundesvereinigung einen aus ihrer Sicht drohenden oder gar akuten Mangel an Vertragsärzten, gegen den Gegenmaßnahmen dringend zu ergreifen seien. Außerhalb des Gesundheitswesens wahrgenommen wurde in den vergangenen Jahren darüber hinaus ein vorhandener oder drohender Mangel an Pflegekräften, dessentwegen beispielsweise der frühere Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mehrfach – medial mit viel Aufwand begleitet – ins Ausland fuhr, um dort Fachpersonal für den Wechsel nach Deutschland zu begeistern.

Sieht man den postulierten Fachkräftemangel im Gesundheitswesen als das eigentliche Problem an, so folgt daraus: Wir müssen nur für genügend Personal sorgen, dann ist das Problem gelöst; um andere Determinanten einer gelingenden Versorgung brauchen wir uns in dem Zusammenhang nicht kümmern. Betrachtet man jedoch den Fachkräftemangel als Symptom, zeigt er uns, dass etwas anderes nicht in Ordnung ist. Vielleicht stimmt ja etwas mit der Verfasstheit unseres Gesundheitswesens nicht? Das Thema so anzugehen, ist – ähnlich wie die Sportübungen für den Schmerzgeplagten – sehr viel unbequemer, denn dann muss man den Blick deutlich weiten und sich fragen: Was haben wir denn eigentlich für ein Problem in unserem Gesundheitssystem oder sind es sogar mehrere, die zusammenwirken?

Gutachten mit Tiefgang

Prädestiniert für diese Perspektive auf das Phänomen Fachkräftemangel ist in Deutschland der Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege, der denn auch sein aktuelles Gutachten dem Thema gewidmet hat. Zwar verwendet das Gremium nicht die Terminologie von Symptom und Ursache, aber die Kapiteleinteilung des rund dreihundertseitigen Werkes macht klar, dass die Verfasser durchaus in diesen oder ähnlichen Kategorien gedacht haben müssen. Nach der Auflistung von Determinanten der Fachkräftesituation und Maßnahmen zur Erhöhung des Fachkräfteangebots werden nämlich Maßnahmen zur Reduktion des Fachkräftebedarfs und jede Menge struktureller Maßnahmen anempfohlen. In den Worten des Sachverständigenrats: „Ein rein quantitativer Aufwuchs an Fachkräften (zum Beispiel durch mehr Medizinstudienplätze) ist teuer, kurzfristig schwierig umsetzbar und als isolierter Lösungsansatz ungeeignet.“

Mit dem Thema Fachkräftemangel beschäftigt sich selbstverständlich auch das AOK-System. Nicht nur, weil man als Payer für Gesundheitsleistungen in der Verantwortung ist, sondern auch, um falsche Eindrücke ein Stück weit zu korrigieren. Hand aufs Herz, wie viele Menschen wissen, dass wir laut Bundesärztekammer nach wie vor einen jährlichen Nettoaufwuchs bei Medizinern von mehreren Tausend haben? Und wie vielen Personen ist klar, dass das Durchschnittsalter diverser Arztgruppen aufgrund der langen Ausbildungszeit zwangsläufig recht hoch ist und nicht etwa wegen einer Überalterung der Ärzteschaft?

Nebenaspekte im Fokus

Das Magazin G+G Wissenschaft hat sich, gerade weil das Gutachten des Sachverständigenrats Beachtung verdient hat, einige Aspekte angeschaut, die das Gremium in seinem Werk nur bedingt thematisieren konnte. Da immer wieder unterschiedliche Annahmen über die Höhe des Fachkräftemangels gemacht werden, haben wir Ratsmitglied Nils Gutacker und die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Sachverständigenrates Rebekka Müller-Rehm gebeten, uns in einer Analyse zu erläutern, was es denn für Prognosen zur Fachkräfteentwicklung im Gesundheitswesen gibt und auf welchen Annahmen diese fußen. Eine zweite Analyse soll eine praktische Hilfestellung bieten. Wenn denn einmal erkannt ist, dass unter anderem mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit (O-Ton Sachverständigenrat: „Neustrukturierung der Aufgaben- und Verantwortungsteilung“) ein Schlüssel zum Erfolg sein kann, wie gestaltet man diese richtig? Dieser Frage gehen Patricia Hänel und Jens Stüwe, zwei Praktiker mit jahrzehntelanger Erfahrung, für uns nach. Die Redaktion hofft, mit diesem Heft ein klein wenig dazu beizutragen, unbequemen Tatsachen ins Auge zu blicken und einen notwenigen Umbau des Gesundheitssystems nicht weiter zu verschleppen.

G+G-Wissenschaft 4/2024

Foto: Titel der G+G-Wissenschaft 4/2024

Schwerpunkt: Fachkräftemangel

G+G-Wissenschaft 4/2024

Format: PDF | 1 MB

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