„Bei den Schutzfristen ist der Status Quo unsere rote Linie“
Beim Schnüren des EU-Pharmapakets darf die Bezahlbarkeit nicht aus dem Blickfeld geraten, warnt die Direktorin der Europavertretung der deutschen Sozialversicherungen. Ilka Wölfle rechnet trotz kontroverser Interessen mit einer Einigung im nächsten Jahr.
G+G: Frau Wölfle, die Reform der EU-Arzneimittelgesetzgebung gleicht der Quadratur des Kreises: eine sichere, bezahlbare und gleichwertige Medikamentenversorgung in allen 27 EU-Staaten auf der einen Seite. Zugleich mehr Pharmaförderung, um die Produktion nach Europa zurückzuholen und Anreize für das Entwickeln neuer Antibiotika und Wirkstoffe zur Behandlung seltener Erkrankungen. Lassen sich die mit dem Pharmapaket angestrebten Ziele überhaupt unter einen Hut bringen?
Ilka Wölfle: Die Ziele weisen auf Probleme hin, die wir in Europa tatsächlich in der Versorgung mit Arzneimitteln haben: Bei den Generika sind wir sehr stark abhängig von Produzenten in Indien und China. Die Lieferketten sind nicht divers genug und damit anfällig. Nicht alle Arzneimittel sind überall in Europa gleichermaßen verfügbar, was häufig genug auf Marketingentscheidungen der Hersteller zurückzuführen ist. Und bei antimikrobiellen Mitteln, die noch effektiv wirken, gibt es ein Marktversagen, weil mit ihnen kein Mengengeschäft zu generieren ist. Ähnliches gilt für Orphan Drugs, also Medikamente zur Behandlung seltener Erkrankungen. Diese Probleme verlangen nach unterschiedlichen Ansätzen. Mit der Arzneimittelreform – aber auch mit weiteren Initiativen wie dem von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigten Gesetz für kritische Arzneimittel – müssen gute Lösungen gefunden werden. Bei allem ist die Bezahlbarkeit der Medikamente besonders in den Blick zu nehmen. Denn selbst vergleichsweise gut ausgestattete Gesundheitssysteme wie das in Deutschland können die explodierenden Arzneimittelkosten nicht grenzenlos bewältigen. Deshalb ist es natürlich herausfordernd, dass die EU mit der Arzneimittelreform ausdrücklich auch die europäische Industrie stärken will. Da sind inhaltliche und politische Konflikte nicht überraschend.
Das Europaparlament unterstützt den Vorschlag der Kommission, Arzneimittelinnovationen durch Zugeständnisse beim Patent- und Unterlagenschutz zu fördern. Die Kostenträger sehen das kritisch. Warum?
Wölfle: In der EU haben wir schon jetzt eine Schutzfrist von elf Jahren. Das wird im weltweiten Vergleich nur noch durch die USA getoppt, die 12 Jahre ermöglichen. Dass die EU-Kommission die Fristen verlängern will, lehnen wir entschieden ab. Der Status Quo ist für uns die rote Linie, eine Verkürzung wünschenswert. Schutzzeiten sind für die Industrie äußerst attraktiv. Originalpräparate sind im Schnitt um etwa das Siebenfache teurer als Generika. An jedem Jahr, in dem der Wettbewerb durch kostengünstige Nachahmer-Produkte verhindert wird, verdienen die Originalhersteller sehr gut. Allein die deutschen Krankenkassen kosten jedes Jahr der Patent- und Unterlagenschutz gut eine Milliarde Euro. Europaweit sind es mehr als drei Milliarden.
Der EU-Ministerrat hat sich bisher noch nicht auf eine gemeinsame Position einigen können. Welche Haltung vertritt die Bundesregierung?
Wölfle: Die Beratungen im Rat erfolgen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Zwei Drittel des europäischen Pharmamarktes spielt sich in den fünf größten Ländern Europas ab: Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien. Hier wird durch die Pharmaverbände intensiv lobbyiert. Die vier EU-Länder in dieser Gruppe sind nicht nur politische Schwergewichte, sondern auch große Pharmastandorte. Vor diesem Hintergrund erwarte ich vom Rat keinen Standpunkt, der der Industrie sehr weh tun würde.
Es gilt als unwahrscheinlich, dass es noch während der ungarischen Ratspräsidentschaft bis Ende dieses Jahres zu einer Einigung kommt. Wie stehen die Chancen für einen Abschluss 2025?
Wölfle: Ich denke, gut. Denn erstens ist Handlungsbedarf gegeben. Denken Sie allein an die Probleme, die wir in den vergangenen Jahren vermehrt mit Lieferengpässen hatten. Oder an die großen Herausforderungen, vor die wir gestellt werden, weil immer mehr Keime resistent gegen antimikrobielle Mittel werden. Jährlich sterben daran in der EU 35.000 Menschen. Ich bin auch deshalb optimistisch, weil es selbst im Europäischen Parlament bei recht kontroverser Interessen- und Meinungslage gelungen ist, noch vor Ende der vergangenen Amtsperiode einen Kompromiss zu finden.
„Die Bezahlbarkeit ist besonders in den Blick zu nehmen.“
Juristin
Die scheidende EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides hat Anfang dieses Jahres eine Allianz zur Sicherung der Arzneimittelversorgung ins Leben gerufen. Welche Erfolgschancen räumen Sie einem Bündnis mit mehr als 250 Teilnehmenden ein?
Wölfle: Diese Allianz für kritische Arzneimittel soll laut Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die industrielle Antwort auf die Lieferprobleme geben, die wir bei Arzneimitteln haben und die sehr unterschiedlicher Natur sind. Wenn die Teilnehmenden – wenig überraschend vor allem Vertreterinnen und Vertreter aus Industrie und Handel – die Möglichkeit nutzen, auf dieser Plattform konstruktive Vorschläge zur Verbesserung der Versorgungssicherheit zu entwickeln, würde ich das sehr begrüßen. Etwas erschrocken war ich aber schon darüber, dass bei der Auftaktveranstaltung im April dieses Jahres der Tenor dominierend war, dass die Preise zu niedrig seien. Da kann aber die EU nichts ausrichten. Das ist Sache der Mitgliedsländer.
Die Pharmalobby ist in Brüssel und Straßburg stark vertreten, die deutschen Interessenverbände haben ihre Präsenz zuletzt noch verstärkt. Wie vermittelt die Europavertretung der deutschen Sozialversicherungen in diesem schwierigen Umfeld die Interessen der deutschen Krankenkassen gegenüber Kommission, Parlament und Rat?
Wölfle: Als Interessenvertretung der deutschen Sozialversicherung informieren und beraten wir die europäischen Institutionen natürlich auch. Wir finden Gehör, auch weil es in der politischen Welt durchaus Volks- und Behördenvertreterinnen und -vertreter gibt, die für die Anliegen der solidarischen Versicherungen ein offenes Ohr haben. Und ein Gespür dafür, dass man die sozialen Sicherungssysteme nicht grenzenlos belasten kann. Und wir arbeiten mit Fakten. Wir scheuen uns nicht, der Politik und der Bürokratie vorzurechnen, was ihre Ideen am Ende die Beitragszahlenden kosten. Das verfängt gut. Wo wir als rein nationale Organisation kein Gehör finden, vertreten wir unsere Interessen über unseren europäischen Dachverband, die European Social Insurance Platform (ESIP). Dort formulieren 46 Sozialversicherungsorganisationen aus 19 Ländern gemeinsam ihre Positionen.
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