OriHime-D serviert den Tee
In Tokio bedienen Menschen mit körperlichen Einschränkungen dank ferngesteuerter Roboter von zu Hause aus die Gäste eines Cafés. Gründer und Erfinder Ory Yoshifuji will so die gesellschaftliche Teilhabe fördern und Einsamkeit entgegenwirken.
Der Roboter fährt langsam an den Tisch und sagt höflich: „Danke, dass Sie gewartet haben!“ Dann hebt OriHime-D mit leuchtenden Augen und einer kleinen blauen Krawatte um den Hals sein Tablett, auf dem ein Glas Eistee steht. Die Bestellung ist abgeliefert. Doch damit nicht genug. OriHime-D ist neugierig. „Wo kommen Sie her?“ und „Wie ist das Wetter heute?“, fragt er. Denn hinter OriHime-D steckt ein Mensch. Genauer genommen Saeko, die etwa 50 Kilometer nordwestlich von Tokio wohnt. Sie leidet unter somatischer Belastungsstörung, die mit Schmerzen, Schwäche und Müdigkeit einhergeht. Es fällt ihr schwer, das Haus zu verlassen. Dennoch serviert sie heute Tee, Kaffee und Smoothies an die Gäste in einem Café im Zentrum von Tokio. Etwa 20 Roboter sind hier im Dienst – alle gesteuert von Menschen, die wegen Krankheiten oder anderer Einschränkungen daheimbleiben müssen. Menschen, die etwa an amyotropher Lateralsklerose (ALS), einer unheilbaren degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems leiden und Schwierigkeiten beim Sprechen haben, können über den Roboter mithilfe ihrer Finger und ihrer Augenbewegungen kommunizieren.
Hilfe schafft Lebenssinn
Seit das Café seinen Betrieb aufgenommen hat, arbeitet Saeko als „Pilotin“. Sie steuert die humanoiden Service-Roboter durch das Café, serviert Essen und Getränke und unterhält sich mit den Gästen. „Je nachdem, was mein Körper zulässt, arbeite ich mehrere Tage in der Woche.“ Saeko liebt ihre Arbeit. Statt isoliert zu sein, hat sie Gelegenheit, neue Menschen kennenzulernen und Gespräche zu führen – dank Kamera, Mikrofon und Lautsprecher von OriHime-D, den Saeko von einem Computer aus bedient. Zwei Helfer im Café sorgen dafür, dass das Glas Eistee auf das richtige Tablett kommt, und springen ein, wenn einmal etwas nicht nach Plan läuft.
Hinter dem einzigartigen Bewirtungskonzept mit dem langen Namen „Avatar Robot Café DAWN“ steckt Ory Yoshifuji, Gründer der Firma „Ory Laboratory“. Der 1987 geborene Japaner hat eineungewöhnliche Mission: Einsamkeit zu besiegen. In seiner Schulzeit erlebte Ory eine mentale Krise, zog sich über drei Jahre lang in sein Zimmer zurück und weigerte sich, das Haus zu verlassen. „Ich wollte sterben“, erinnert sich Ory der eigentlich Kentaro heißt, in seiner Autobiografie. Während dieser Lebensphase hatte er das Gefühl, seiner Familie mit seinem Leiden immer mehr zur Last zu fallen. Dieses Gefühl, anderen Schwierigkeiten und Kummer zu bereiten, habe er in den vergangenen zehn Jahren für seine Forschung viel mit Menschen diskutiert, die an unheilbaren Krankheiten wie ALS leiden. Oft habe man darüber gesprochen, was es bedeutet, zu leben. Es gebe viele Meinungen dazu, doch im Allgemeinen sei die Antwort, dass es darum gehe, anderen zu helfen. Auch Menschen mit chronischen Leiden oder gesundheitlichen Einschränkungen wollten für andere nützlich sein.
Um Einsamkeit und Isolation zu bekämpfen, begann Ory in seinem Ingenieursstudium an der Waseda-Universität in Tokio mit der Entwicklung von OriHime-D, seinem Avatar-Kommunikationsroboter. Der Forscher sieht für deren Einsatz wachsendes Potenzial. „In einer Zeit, in der Menschen länger leben als je zuvor, werden wir alle irgendwann einmal an das Bett gefesselt sein“, schreibt er.
Steckbrief OriHime-D
Ferngesteuerter Avatar-Roboter
Größe: 120 cm
Gelenke: 14
Ausstattung: Kamera, Mikrofon, Lautsprecher
Entwickler: OryLab, Japan
Begeisterung im Ausland
Viele der Gäste im Café sind ausländische Touristen, die hier begeistert Selfies mit OriHime-D machen oder zum Teil sogar ihren ganzen Besuch live streamen. „Uns ist das Café sehr empfohlen worden“, erzählt Trenten aus Seattle in den USA, der mit seiner Freundin Alexia gekommen ist. „Man kann ein Stück Zukunft erleben und gleichzeitig eine gute Sache unterstützen.“ Saeko hat eine Erklärung dafür, warum so viele Ausländer den Weg in das Café finden. Instagram, YouTube und andere soziale Medien würden dafür sorgen, dass das Café außerhalb Japans inzwischen sehr bekannt sei. Auch Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach stattete dem Café einen Besuch ab, als er zum G20-Gipfel im Mai in Japan war.
Etwas mehr Zurückhaltung herrscht bei den japanischen Besuchern, die den Alltag in Japan deutlich weniger futuristisch erleben. Kaum ein Büro im Land der aufgehenden Sonne kommt ohne Fax-Gerät aus. Formulare werden weiterhin handschriftlich in dreifacher Ausführung ausgefüllt; persönliche Namensstempel sind unerlässlich. Und trotz Pandemie verlangte Japans Telekommunikationsriese NTT Büropräsenz vom Personal.
Steiniger Weg zur Inklusion
Zudem gibt es oft immer noch Berührungsängste gegenüber Menschen mit Einschränkungen. Zwar erhält Japan regelmäßig gute Noten in puncto Barrierefreiheit: Gehwege, Bahnhöfe und Metrostationen haben gelbe Leitstreifen mit taktilen Oberflächen für Menschen mit visuellen Einschränkungen. Ein Großteil der öffentlichen Gebäude und Bahnhöfe sind mit Fahrstühlen und Rampen ausgestattet.
Doch neben der Infrastruktur bleibt Inklusion in anderen Bereichen ein steiniger Weg. Der Großteil der Menschen mit Behinderung ist vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Die Beschäftigungsrate liegt bei weniger als fünf Prozent. Und auch in Schulen sind spezielle Klassen und Einrichtungen die Norm. Kinder mit Einschränkungen kämpfen vielfach noch gegen Vorbehalte und soziales Stigma.
Mitwirkende des Beitrags
Agnes Tandler
Autorin
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