„Am Lebensende brauchen wir einen Kümmerer“
Hausärzte haben in der Palliativversorgung eine Schlüsselfunktion, sagt Peter Engeser. Der Allgemein- und Palliativmediziner erläutert, wie sich die Bedürfnisse sterbender Menschen und ihrer Familien erfüllen lassen.
Herr Dr. Engeser, als Arzt begegnen Sie Menschen, die Heilung erhoffen. Was motiviert Sie, Palliativmedizin anzubieten?
Peter Engeser: In mehr als zweitausend Jahren Medizin ging es meistens um die Linderung von Leiden, es gab keine Heilung. Das hat sich bei vielen chronischen Erkrankungen bis heute nicht geändert. Es ist eine der vornehmsten Aufgaben eines Arztes, Menschen beim Sterben zu begleiten. Viele Menschen wissen schon einiges über das Sterben, aber sie wissen nicht, wie es konkret abläuft. Daraus resultieren Ängste.
Welche Wünsche äußern die Sterbenden und ihre Familien Ihnen gegenüber?
Engeser: Möglichst sanft einzuschlafen, ohne große Beschwerden, in einer absehbaren Zeit. Wenn das Sterben lange dauert, zermürbt das sowohl Patienten als auch Angehörige. Die letzten Tage, wenn ein Sterbender nichts mehr isst und trinkt, können sich lange hinziehen – gerade für die Angehörigen. Deswegen muss man immer hinterfragen: Wer kann es nicht mehr aushalten, der Patient oder die Angehörigen? Die Angehörigen brauchen viel Zusprache.
Wie können Sie als Arzt dazu beitragen, Bedürfnisse von Sterbenden und Angehörigen zu erfüllen?
Engeser: Zuerst einmal gilt es, offen zu sein für alle Fragen, auch für Fragen zum assistierten Suizid oder zur Sterbehilfe. Dazu hat jeder seine eigene Haltung, aber man sollte offen sein fürs Gespräch. Zudem geht es darum, Patienten so zu behandeln, dass sie wenige Symptome haben, das heißt, dass sie keine oder kaum Schmerzen und Atemnot haben, auch dass sie nicht unruhig werden.
Dann geht es wahrscheinlich um Medikamente?
Engeser: Nicht nur um Medikamente, sondern es geht auch um pflegerische Hilfen wie Lagerung oder Mundpflege. Das müssen Ärzte mit der Pflege absprechen, damit das gut funktioniert. Solche Dinge wie Mundpflege können auch Angehörige machen, wenn sie gut angeleitet werden.
Viele Menschen wollen zu Hause bleiben bis zuletzt, sterben dennoch im Pflegeheim oder im Krankenhaus. Warum?
Engeser: Wenn Ärzte die palliative Situation rechtzeitig erkennen, können sie Patienten und Angehörige darauf vorbereiten und einstimmen, dass eine Krankenhauseinweisung keinen Vorteil hat. Im Übrigen ist das Pflegeheim für viele kranke und hochbetagte Menschen das gewohnte Umfeld – sie sterben dann zwar in einer Einrichtung der stationären Pflege, sind da aber vielleicht schon jahrelang zu Hause.
Wie gut sind Heime und Kliniken auf sterbende Menschen vorbereitet?
Engeser: Es gibt Krankenhäuser und Pflegeheime, die sich sehr bemühen, sterbende Menschen gut zu versorgen. Aber es gibt auch Einrichtungen, die sich gar nicht um die Palliativversorgung kümmern. Dann sterben Menschen mitunter einsam und ohne palliative Betreuung.
Was müsste sich in Krankenhäusern und Pflegeheimen verändern?
Engeser: Im Krankenhaus müsste sich bei Ärzten und Pflegekräften der Blick für eine palliative Situation schärfen. Und dann ist alles zu tun, was die Palliativmedizin leisten kann, sodass die Patienten mit wenigen Beschwerden sterben können. Das ist zum einen eine Frage der Qualifikation, aber auch eine Frage der ärztlichen Haltung. Viele Ärzte haben Angst vor juristischen Konsequenzen. Sie bewegen sich in einem Graubereich, wenn es ums Sterben geht. Was ist ärztliches Ermessen, was ist ärztliche Pflicht? Und inwiefern zählen Leitlinien? Viele Menschen wünschen sich Intensivmedizin bis zum bitteren Ende. Deshalb müssen Ärzte das Vorgehen kommunizieren.
„Pflegekräfte müssen das Einmaleins der Kommunikation mit Sterbenden beherrschen.“
Facharzt für Allgemeinmedizin und Palliativmediziner in Gemeinschaftspraxis
Welche Versorgung brauchen Menschen, wenn sie in ihren eigenen vier Wänden sterben?
Engeser: Das Wichtigste sind An- oder Zugehörige. Ein großes Netzwerk verhindert, dass die Betreuung durch Erschöpfung zum Erliegen kommt. Betreuung von Sterbenden ist körperlich und psychisch anstrengend, besonders in den letzten 14 Tagen. Neben dem privaten Netzwerk ist ein engagierter Pflegedienst notwendig, der Fachkräfte für Palliativpflege angestellt hat. Wichtig ist zudem eine verlässliche hausärztliche Versorgung. Wenn das nicht geht, sollte die spezialisierte ambulante Palliativversorgung greifen, die SAPV. Sie wird für rund zehn Prozent der schwer kranken Patienten genehmigt. Voraussetzung ist die Diagnose einer schwerwiegenden, unheilbaren Erkrankung, wie beispielsweise Krebs, Herzinsuffizienz, Lungenfibrose, COPD oder neurologische Erkrankungen.
Was hat die SAPV zu bieten?
Engeser: An der SAPV sind eine Palliativärztin oder -arzt und eine Palliativfachkraft beteiligt, die die Versorgung koordiniert. Hinzu kommen weitere Palliativfachkräfte. Der größte Vorteil der SAPV ist, dass sie zuverlässig erreichbar ist – in erster Linie telefonisch, aber auch für Hausbesuche. Der Palliativmediziner hat das ganze medikamentöse Repertoire zur Verfügung. Er kann, wenn nötig, auch eine Weiterversorgung in die Wege leiten. Die SAPV hat keine Modulvorgabe wie die Grundpflege. Wenn es schwierig ist, nehmen sich die Fachkräfte auch mal eine Stunde Zeit. In unserer Region funktioniert das ganz gut.
Wie können auch die herkömmlichen ambulanten Pflegedienste den Bedürfnissen Sterbender gerecht werden?
Engeser: Viele Pflegedienste haben meiner Kenntnis nach zumindest eine Pflegefachkraft mit Palliativausbildung. Die schaut sich die Situation an und sagt ihren Kolleginnen und Kollegen, was sie in der Grundpflege beachten sollen. Pflegekräfte müssen vor allem das Einmaleins der Kommunikation mit Sterbenden beherrschen. Die Bosch-Stiftung hat in Modellprojekten die Palliativkompetenz von Pflegekräften erhöht. Das sollte in die Regelversorgung überführt werden. Menschen sterben nicht so nebenher. Sie brauchen mehr Zuwendung, mehr Zeit und viel Verständnis von Ärzten und Pflegekräften.
Wie gut funktioniert die SAPV in ländlichen Regionen im Vergleich zu städtischen?
Engeser: Unser SAPV-Team in Pforzheim betreut die Stadt mit ihren rund 125.000 Einwohnern und den halben Enzkreis. Das ist ein ländlicher Kreis zwischen Karlsruhe, Bruchsal und Pforzheim mit insgesamt ungefähr 300.000 Einwohnern. Die Wege im ländlichen Bereich sind viel länger und brauchen auch viel mehr Zeit. Die Fahrt zu einem Hausbesuch dauert in der Stadt eine Viertelstunde oder 20 Minuten. Wenn wir aufs Land fahren, kann das eine Stunde dauern. Diese Zeit fehlt beim Patienten. Deshalb machen wir fürs SAPV-Team eine Mischkalkulation: zum Beispiel an einem Tag zwei Hausbesuche in der Stadt und zwei außerhalb – das sind bei fünf Angestellten 20 Besuche pro Tag.
Wie lassen sich Hausärztinnen und -ärzte auch ohne Qualifikation in der Palliativmedizin in die Palliativversorgung einbinden?
Engeser: Ich kenne Kollegen, die das mit großem Engagement und Fachkenntnis machen, und andere, die sagen: Da rufen wir lieber die SAPV. Das ist eine Frage der persönlichen Einstellung. In ländlichen Regionen sind die Hausärzte viel stärker gefragt, und die meisten engagieren sich dort auch in der Versorgung sterbender Menschen.
Welche Medikamente stehen der Palliativmedizin zur Verfügung?
Engeser: Das Wichtigste sind Opioide. Sie dienen vor allem in den letzten Lebenstagen zur Bekämpfung der Schmerzen. Aber es gibt auch eine Fülle anderer Medikamente für die Dauertherapie gegen Schmerzen. Die behandelnden Ärzte müssen die Kombinationen kennen und wissen, wie sie die Nebenwirkungen minimieren. Zudem gibt es Medikamente gegen Ängste oder Übelkeit. Mit den gängigen Medikamenten lassen sich über 90 Prozent der Situationen beherrschen.
Wie lässt sich die Grenze zwischen palliativmedizinischer Versorgung und aktiver Sterbehilfe sichern?
Engeser: Entscheidend ist die Haltung des Behandlers: Geben sie ein Medikament in dem Wissen, das es den Patienten umbringt, oder erhöhen sie die Dosis, um Beschwerden zu lindern? Es gehört ein umfangreiches Wissen dazu. Wenn todkranke Menschen sagen, dass sie die Situation gar nicht mehr aushalten, ist vielleicht eine palliative Sedierung sinnvoll, damit sie in Frieden sterben können. Das kann der Arzt mit dem Patienten vereinbaren.
Welche Bedeutung haben Patientenverfügungen für Sie als Palliativmediziner?
Engeser: Genau die gleiche wie das gesprochene Wort: Wenn der Patient Maßnahmen ablehnt, ist das für mich bindend. Wenn er sagt, er will eine Behandlung ausdrücklich, muss sie meinem ärztlichen Selbstverständnis entsprechen. Ich lasse mir Patientenverfügungen geben und lese sie auch durch. Denn manchmal steht drin, dass alles medizinisch Mögliche gemacht werden soll. Deshalb muss man sie lesen.
Gibt es Situationen, in denen Sie als Palliativmediziner nicht weiterkommen und auf andere Möglichkeiten der Versorgung verweisen?
Engeser: Ja, selbstverständlich. In bestimmten Situationen ist es gut, Patienten auf eine Palliativstation verlegen zu können. Auch das Hospiz ist eine wunderbare Einrichtung, denn dort ist die Personalausstattung besser als im Pflegeheim. In Hospizen arbeiten gut qualifizierte Pflegefachkräfte. Hinzu kommt ein externes Ärzteteam: Wir betreuen das Hospiz in Pforzheim mit einem Team aus zwei Onkologen, einem Internisten und zwei Hausärzten.
Zur Person
PD Dr. Peter Engeser ist Facharzt für Allgemeinmedizin und Palliativmediziner in Gemeinschaftspraxis seit 1987 in Pforzheim. Als Lehrkoordinator arbeitet er in der Abteilung Allgemeinmedizin & Versorgungsforschung am Universitätsklinikum Heidelberg. Er betreut das Christliche Hospiz in Pforzheim und ist Gründer der „Palliativmedizinischen Initiative Nordbaden“.
Menschen, die im Hospiz betreut werden wollen, kommen dort auch unter?
Engeser: Die Vergabe von Hospizplätzen ist eine Lotterie. Meistens reichen die Plätze. Aber ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass wir nicht wissen, wie viele Menschen – über die Anmeldungen hinaus – einen Hospizplatz benötigen würden. Für die Aufnahme spielt das Alter keine Rolle, sondern die Symptomlast.
Welche Rolle spielen Sie als Hausarzt und Palliativmediziner in der Versorgung am Lebensende?
Engeser: In der Palliativversorgung haben Hausärzte eine Schlüsselfunktion, sie müssen sich um die Steuerung kümmern. Ob ein Pflegedienst hinzukommt oder ob die SAPV angezeigt ist oder ein Schmerztherapeut ins Boot geholt werden sollte, kann der Hausarzt entscheiden. Es ist wie oft in der Medizin: Auch am Lebensende brauchen wir einen Kümmerer.
Warum sollten Menschen keine Angst vor dem Sterben haben?
Engeser: Die meisten Menschen haben keine Angst vor dem Tod, sondern vor dem Weg dorthin. Wenn man sie gut begleitet und ihnen sagen kann, dass das Sterben meist ohne große Beschwerden abläuft, sind die meisten Menschen erleichtert. Viele schwer kranke Menschen sind bereit zum Sterben.
Sie haben Tausende im Sterben begleitet. Wie viele Menschen können am Lebensende sanft einschlafen?
Engeser: Gott sei Dank können die meisten Menschen einfach so einschlafen. Angst lässt sich medikamentös lindern. Da ist das Beste, was die Medizin hat, das gute alte Morphin. Die spirituelle Seite des Menschen ist wichtig, um den Tod zu akzeptieren. Aber Religion schützt nicht vor der Angst vorm Sterben, auch nicht die Aussicht auf ein Leben nach dem Tod. Menschen fürchten sich vor körperlichen Dingen, vor Schmerzen zum Beispiel. Und sie haben Angst, ihre Selbstständigkeit zu verlieren. Da ist es eine Gnade, wenn man Hilfe annehmen kann. Deshalb sollten wir Patienten rechtzeitig sagen: Ihr könnt verschiedene Unterstützungsangebote nutzen, beispielsweise auch einen ambulanten Hospizdienst. So entstehen Netzwerke, in denen sich Sterbende auf andere Menschen verlassen können.
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