Finde den Fehler!
Irren ist menschlich. Doch für Patientinnen und Patienten können Fehler fatale Folgen haben. Im innovativen Fortbildungsformat „Room of Errors“ suchen interdisziplinäre Teams in einem eigens präparierten Übungsraum gemeinsam nach potenziellen Risiken und lernen dabei mit- und voneinander.
Die Sonne malt helle Lichtpunkte auf die Bettdecke und vom Flur dringen gedämpfte Stimmen herein, als Christina Salditt an diesem Donnerstagvormittag einen letzten prüfenden Blick in das Patientenzimmer von Frau Müller wirft. Salditt ist die Qualitäts- und Risikomanagementbeauftragte des Krankenhauses Neuwerk im nordrhein-westfälischen Mönchengladbach. Patientin Gerda Müller ist eine lebensgroße Simulationspuppe, und ihr Krankenzimmer ist heute der Schauplatz einer ungewöhnlichen Fortbildung zum Thema Patientensicherheit: ein „Room of Errors“, auch „Room of Horrors“ genannt. Salditt erwartet zur Fehlersuche Kolleginnen und Kollegen aus dem medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Bereich.
Viele Fehler sind vermeidbar
Untersuchungen zeigen, dass etwa jeder zehnte Patient im Krankenhaus ein sogenanntes unerwünschtes Ereignis erlebt, erklärt Professor David Schwappach in einem Fachaufsatz. Der Public-Health-Experte leitet den Forschungsschwerpunkt Patientensicherheit am Institut für Sozial- und Präventivmedizin an der Universität Bern. „Etwa die Hälfte dieser Ereignisse gilt als grundsätzlich vermeidbar. Das heißt, sie sind auf einen oder mehrere Fehler in der Betreuung oder Behandlung zurückzuführen.“
Hier setzt das Konzept des „Room of Errors“ an. Während in den meisten Fortbildungen der Fokus darauf liegt, wie man etwas richtig macht, ist die Perspektive im „Room of Errors“ umgekehrt: Anhand eines fiktiven, aber realitätsnahen Patientenfalls wird in einem Trainingsraum eine Reihe von Fehlern und Sicherheitsrisiken versteckt, die auf unterschiedliche Art und Weise die Patientensicherheit gefährden können. Die Spannbreite der Beispiele reicht von der nicht erreichbaren Rufglocke über eine fehlerhafte Medikamentenverordnung bis zu unangemessener Kost, etwa einem laktosehaltigen Joghurt auf dem Nachttisch eines laut Akte laktoseintoleranten Patienten. Die Teilnehmenden der Fortbildung müssen innerhalb kurzer Zeit so viele Gefahrenquellen wie möglich finden. Im Anschluss findet eine Nachbesprechung statt, bei der die Beteiligten alle Fehler – die entdeckten und die übersehenen – im Detail durchgehen.
„Es wird selbstverständlicher, dass die Krankenschwester den Arzt auf einen Fehler hinweist.“
Oberärztin Netzwerk Altersmedizin
Fehlerjagd mit Lerneffekt
Die Idee zu dieser lehrreichen Fehlersuche stammt ursprünglich aus den USA. Den ersten dokumentierten „Room of Errors“ setzte die South Dakota State University 2009 für die Ausbildung von Pflegefachkräften ein. Auch in Europa fand die Idee bald Nachahmer. Das Universitätsklinikum Dresden etwa nutzt das Konzept bereits seit 2015 im Rahmen des interprofessionellen Wahlfachs „Fehler in der Medizin“. Eine Vorreiterrolle bei der weiteren Verbreitung dieses Fortbildungsformats spielt seit 2019 die Stiftung Patientensicherheit Schweiz, anfangs noch unter der Leitung von David Schwappach.
„Nachdem das Konzept des Room of Horrors im Spitalbereich im englischsprachigen Raum bereits bekannt und erfolgreich war, haben wir im Rahmen der schweizweiten Aktionswoche Patientensicherheit 2019 ein Manual für den Room of Horrors im Spital entwickelt und veröffentlicht“, erläutert Dr. Andrea Balmer, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Co-Projektleiterin „Room of Horrors“ bei der Stiftung Patientensicherheit. Seitdem wurde das Angebot kontinuierlich ausgeweitet.
Offener Umgang mit Pannen
Von einem Schweizer Dozenten hörte auch Christina Salditt vom Krankenhaus Neuwerk während ihrer Ausbildung zum klinischen Risikomanager von diesem Konzept und war sofort Feuer und Flamme. Nachdem sie in Oberärztin Annika Fritzsche eine begeisterte Mitstreiterin gefunden hatte, gingen im Oktober 2023 in Neuwerk die ersten interdisziplinären Teams auf Fehlersuche. Die Resonanz der Beschäftigten war ausgesprochen positiv, und auch die Klinikleitung ist von dem innovativen Fortbildungsformat überzeugt. „Uns liegen ein offener Umgang mit der Fehlerkultur und das ständige Lernen am Herzen“, betont Sebastian Baum, Geschäftsführer des Krankenhauses Neuwerk und des benachbarten Johanna Etienne Krankenhauses, die beide zur St. Augustinus Gruppe gehören. „Der Room of Errors ist als Konzept gedacht, um den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in einer realen Situation aufzuzeigen, welche Fehler im Alltag passieren können und wie man diese vermeidet. Genau deshalb unterstütze ich dieses Konzept und bin sehr dankbar, dass unser Qualitätsmanagement es so erfolgreich umgesetzt hat.“
Um Synergieeffekte zu nutzen, arbeitet das Krankenhaus Neuwerk eng mit dem Johanna Etienne Krankenhaus zusammen. Die ausgetüftelten Beispielfälle kommen jeweils in beiden Häusern zum Einsatz. Zwei Mal jährlich heißt es in beiden Kliniken nun „Finde den Fehler“. „Häufiger aber nicht“, sagt Christina Salditt, „damit sich das Konzept nicht abnutzt.“
Horror nach Maß
Wie man einen „Room of Horrors“ (auch: „Room of Errors“) einrichtet und was dabei zu beachten ist, erklärt die Stiftung Patientensicherheit Schweiz auf ihrem Internetportal. Für interessierte Organisationen stehen hier viele Informationen und hilfreiche „Schritt-für-Schritt-Anleitungen“ für verschiedene „Rooms of Horrors“ zum Download bereit: für Krankenhäuser, Haus- und Kinderarztpraxen, Pflege- und Altersheime sowie Offizinapotheken. In Zusammenarbeit mit den Apothekerkammern Nordrhein und Westfalen-Lippe entstand eine auf deutsche Verhältnisse angepasste Apotheken-Version, die ebenfalls online zur Verfügung steht. Derzeit werden Manuale für die ambulante Pflege und die Psychiatrie entwickelt; sie sollen im Jahr 2025 publiziert werden.
Die Manuale enthalten jeweils detaillierte Beispielfälle mit Vorschlägen für mögliche Fehler und Risiken, die man in das Fallbeispiel einbauen kann. Die vielfältigen Materialien zur Inszenierung und Umsetzung umfassen auch Druckvorlagen, etwa Lösungs- und Fehlererfassungsblätter für die Teilnehmenden sowie einen Leitfaden für das anschließende Debriefing.
Mehr Infos zum Room of Horrors
Gefahren lauern überall
An diesem Donnerstag haben sich im Krankenhaus Neuwerk 33 Beschäftigte für den „Room of Errors“ angemeldet. Jedes Team besteht aus sechs bis acht Teilnehmenden. Zusätzlich sind bei jedem Durchlauf bis zu vier Beobachter und Beobachterinnen im Raum, die sich Notizen machen und hinterher Feedback geben. Einer von ihnen ist Benedikt Körfers, Mitarbeiter im Qualitäts- und Risikomanagement, der nun um die Mittagszeit einem Teilnehmerteam die Hintergründe zu Gerda Müllers kompliziertem Oberschenkelbruch kurz vorstellt und noch einmal betont: „Alle relevanten Informationen findet Ihr in der Fallakte. Fehler können sich überall im Zimmer verstecken: im Setting, im Aufbau, in der Papier- und der elektronischen Akte und natürlich an der Patientin selbst. Ihr habt jetzt 15 Minuten Zeit, zusammen möglichst viele zu finden. Viel Spaß!“
Das Zwölf-Uhr-Team umfasst verschiedene Gesundheitsberufe und Fachgebiete, die sechs Teammitglieder arbeiten überwiegend nicht auf der gleichen Station. Trotzdem klappt die Aufgabenverteilung wie am Schnürchen: Dr. Anne-Sophie Schmidt, Oberärztin Geriatrie, geht am Computer die elektronische Fallakte durch, Krankenschwester Marion Heyer-Wenzel und ihr Kollege George Mhuriyengwe steuern sofort auf das Bett der Patientin zu. Physiotherapeutin Isabell Hurtz und Logopädin Frauke Kühn inspizieren das Zimmer, und Assistenzärztin Malin Machate notiert die Fehler, die die Teammitglieder ihr jetzt in rascher Folge zurufen: „Die Infusion läuft nicht.“ – „Die Patientin hört schlecht, aber ihre Hörgeräte liegen auf dem Nachttisch.“ – „Sie hat eine Schluckstörung. Dann darf sie doch nicht flach auf dem Rücken liegen.“ – „Das Trinkprotokoll ist nur bis acht Uhr geführt; es ist aber gleich Mittag.“ Akribisch prüft das Team mögliche Fehlerquellen: Ist angesichts der Schluckstörung die Kost entsprechend angepasst? Sind Fremdkörper im Bett, an denen sich Frau Müller verletzen könnte? Liegt der Venenkatheter korrekt? Bekommt die Patientin, die laut Akte eine Penicillin-Allergie hat, die richtigen Medikamente? Im Handumdrehen stehen mehr als 20 Fehler auf Malin Machates Liste. Und dann ist die Viertelstunde auch schon um.
Intensive Nachbesprechung
Eine wesentliche Rolle im Konzept der „Rooms of Errors“ spielt die Nachbesprechung, das sogenannte Debriefing. Denn offenbar unterschätzen viele Teilnehmende die Schwierigkeit der Aufgaben. Public-Health-Forscher David Schwappach verweist auf eine Studie, bei der fast zwei Drittel der Teilnehmenden meinten, die Fehler seien „sehr leicht zu finden“ gewesen – obwohl sie längst nicht alle entdeckt hatten. Ein Debriefing, in dem aufgelöst wird, welche Fehler wo versteckt waren, ist für Schwappach unabdingbar, denn: „Personen, die von sich selber glauben, alles bereits zu wissen und richtig anzuwenden, haben eine geringere Motivation, ihr Wissen oder ihre Praxis zu verbessern.“
Bei der Nachbesprechung im Krankenhaus Neuwerk geht jetzt Beobachterin Theresa Kösters die Fehlerliste Punkt für Punkt durch. Viele, aber nicht alle der im Raum versteckten Gefahrenquellen hat das Team entdeckt. „Ihr habt aber auch noch etliche weitere gefunden, die wir gar nicht absichtlich eingebaut hatten“, hebt Kösters hervor. Insgesamt, da sind sich die Beobachter einig, hat das Zwölf-Uhr-Team seine Aufgabe hervorragend gemeistert: von der Kommunikation auf Augenhöhe über das gegenseitige Loben, wenn ein kniffliger Fehler entdeckt wurde, bis hin zum respektvollen und behutsamen Umgang mit der Patientinnen-Puppe.
Ausdrücklich loben die Beobachter das gute Teamwork. Denn nicht zuletzt ist die Fehlersuche im „Room of Errors“ immer auch eine teambildende Maßnahme. „Jeder hat die Chance, Fehler zu finden, unabhängig vom Beruf“, erklärt Christina Salditt. „Und natürlich geht es dabei auch um die Gruppendynamik. Wie schnell findet das Team zusammen, wie schnell verteilen sie die Aufgaben? Sie haben ja nur 15 Minuten Zeit. Da muss man sich schon organisieren, um die Fehler zu finden.“ Außerdem, so hat sie beobachtet, sinke durch das Training die Hemmschwelle, Fehler im Team offen anzusprechen. Oberärztin Annika Fritzsche kann das bestätigen: „Es wird dadurch einfach selbstverständlicher, dass die Krankenschwester den Arzt auf einen Fehler hinweist oder die Hauswirtschaftskraft sagt: Moment, hier stimmt doch etwas nicht.“
„Jeder hat die Chance, Fehler zu finden, unabhängig vom Beruf.“
Qualitäts- und Risikomanagerin im Krankenhaus Neuwerk
Gemeinsam besser
Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für das Training im „Room of Errors“ ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit: Gruppen erzielen bessere Ergebnisse als Einzelpersonen, interdisziplinäre Teams finden mehr Fehler als monoprofessionelle. Die Erfahrung, „dass Teammitglieder anderer Professionen wichtige Kompetenzen und Erfahrungen einbringen können, ist für die zunehmend wichtige interprofessionelle Zusammenarbeit eine zentrale Voraussetzung“, erläutert David Schwappach. Andrea Balmer von der Stiftung Patientensicherheit Schweiz betont: „Das gegenseitige Verständnis von Tätigkeiten und Rollen wird gestärkt und die Zusammenarbeit im Alltag gefördert. Man lernt von den Perspektiven anderer und ist vielleicht offener, in Zukunft gemeinsam Risiken und Fehler zu besprechen.“
In Neuwerk ist diese Botschaft angekommen. In der abschließenden Manöverkritik äußert Logopädin Frauke Kühn den Wunsch, „dass wir so interdisziplinär weiterarbeiten und auch über die eigene Profession hinausschauen. Ich glaube, das haben wir eben schon ganz gut gemacht.“ Auch Krankenschwester Marion Heyer-Wenzel zieht eine positive Bilanz: „Man wird sensibilisiert für die Fehler. Das ist ganz wichtig. Den Patienten soll es ja gut gehen.“ Krankenpfleger George Mhuriyengwe geht davon aus, dass sich durch diese Fortbildung seine Arbeitsweise verändern wird. „Bisher habe ich größtenteils meinen Bereich und die ärztliche Seite fokussiert. Jetzt sehe ich weiter und werde stärker versuchen, mir einen Gesamtüberblick zu verschaffen.“ Auch Assistenzärztin Malin Machate ist sich sicher: „Ich werde künftig noch mal anders in die Patientenzimmer reingehen und auf viel mehr Sachen achten.“
Lernen durch Erleben
Bisherige Evaluationen zeigen, dass die Teilnehmenden diese Form des Lernens sehr schätzen. Karma Brunner, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Co-Projektleiterin „Room of Horrors“ bei der Stiftung Patientensicherheit Schweiz, erklärt: „Das Besondere am Room of Horrors ist, dass im Gegensatz zu theoretischen Schulungen risikoreiche Situationen konkret und im eigenen Arbeitsumfeld erlebbar werden. Die Teilnehmenden werden praxisnah und auf spielerische Art und Weise für sicherheitsrelevante Risiken in ihrem beruflichen Alltag sensibilisiert, ihre Beobachtungsfähigkeit und ihr Situationsbewusstsein werden geschärft. So erkennen sie Risiken leichter und können Fehler proaktiv vermeiden. Das Training ist dabei nicht nur lehrreich, sondern macht auch Spaß.“ Ein weiterer Vorteil liegt Brunner zufolge darin, dass ein solcher Trainingsraum einfach und mit wenigen technischen Mitteln umsetzbar sei. Daher eigne sich diese Art des interaktiven Lernens für Betriebe jeder Größe. „Organisationen können das Training auch an das eigene Setting anpassen und Fehler und Risiken hinzufügen, die besonders relevant sind, beispielsweise auf Basis von Fehlermeldungen aus der eigenen Organisation.“
Auch im Krankenhaus Neuwerk ist die Begeisterung für das Lernen im „Room of Errors“ groß. Ein einziger Verbesserungsvorschlag fällt Logopädin Frauke Kühn noch ein: „Schön wäre, wenn da ein echter Mensch im Bett läge, mit dem man interagieren kann. Dann könnte man zusätzlich noch Fehler in die Kommunikation einbauen.“
Lesetipps
Nils Löber et al.: Room of horror – ein low-fidelity Simulationstraining für patientensicherheitsrelevante Gefährdungspotenziale im Klinikalltag. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen (2020), 153-154:104-110
David Schwappach: Patientensicherheit fördern im „Room of Horrors“, in: Susanne Karner, Francesca Warnecke (2023): Simulatives Lernen im Room of Horrors. Praxisbuch mit Fallbeispielen für die generalistische Pflegeausbildung. Stuttgart: Kohlhammer, Seite 25-31
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