„Menschen mit Behinderung werden oft abgelehnt“
Patientinnen und Patienten mit kognitiven oder schweren Mehrfachbehinderungen haben es im Gesundheitswesen schwer. Tanja Sappok möchte ihnen als Professorin für Behindertenmedizin und Bielefelder Klinikdirektorin eine bessere Versorgung ermöglichen.
Frau Prof. Sappok, was wollen Sie an Ihrer Klinik für Inklusive Medizin für Menschen mit Behinderung besser machen?
Tanja Sappok: Wir wollen Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen und kognitiven Beeinträchtigungen eine optimierte Gesundheitsversorgung bieten. Sie wird diesen für das Gesundheitssystem besonders herausfordernden Personen sonst nur sehr eingeschränkt ermöglicht.
Warum wird eine eigene Medizin für Betroffene gebraucht?
Sappok: Menschen mit einer schweren kognitiven Beeinträchtigung oder einer komplexen Mehrfachbehinderung kommen oft nicht wirklich im Gesundheitssystem an. Die Ärztinnen und Ärzte sowie Therapeutinnen und Therapeuten fühlen sich überfordert und das Setting ist meist nicht barrierefrei. Dadurch sind es vielfach Drehtürpatienten, die permanent in die Rettungsstellen kommen und entweder direkt von dort oder nach einem kurzen stationären Aufenthalt wieder nach Hause entlassen werden, weil die Bedingungen für eine gute gesundheitliche Versorgung nicht gegeben sind. Viele Behinderungen gehen zudem einher mit Störungsbildern, die in der Allgemeinbevölkerung und damit in den Praxen nur sehr selten vorkommen, wie etwa Autismus.
Was ist für eine adäquate Versorgung dieser Menschen nötig?
Sappok: Notwendig sind vor allem Zeit und eine intensive Kooperation mit den Angehörigen und den Betreuenden. Gebraucht werden Aufklärungsmaterialien in leichter Sprache beziehungsweise Piktogramme, an denen sich operative Eingriffe erläutern lassen. Hinzu kommt eine viel umfassendere Schmerzdiagnostik, weil Menschen mit einer komplexen Mehrfachbehinderung ja oft gar nicht sagen können, was ihnen wehtut oder wie es ihnen geht. Und natürlich brauchen Ärzte Spezialwissen zu typischen Erkrankungen von Menschen mit Behinderungen.
Zeit scheint im medizinischen Alltag allerdings eine knappe Ressource zu sein …
Sappok: Mit den Fallpauschalen und den Personalbemessungsverfahren in der Pflege sind in der Regelversorgung die Zeitfenster so eng getaktet, dass Menschen, die allein schon einige Minuten brauchen, bis sie einen Raum betreten, sich hinsetzen und die Jacke ausziehen, die Abläufe durcheinanderbringen. Und auch die Gestaltung der Interaktion und der Beziehungsaufbau sind bei Menschen mit Behinderungen, die vielleicht emotional zwei oder drei Jahre alt sind, ganz anders als in der normalen Erwachsenenmedizin. Jemand, der zum Beispiel überhaupt nicht sprechen kann, fordert das Gesundheitssystem auf eine besondere Art und Weise heraus. Und ein Arzt ist es nicht gewohnt, dass ein Patient etwa den Satz „Was führt Sie zu mir“ gar nicht versteht. Dafür ist spezifisch geschultes Personal auf allen Ebenen notwendig – pflegerisch, therapeutisch, ärztlich, psychologisch und nicht zuletzt psychotherapeutisch.
Vorbereitung für einen Aktionsplan
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat im Oktober gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern von Politik und Zivilgesellschaft den Erarbeitungsprozess eines Aktionsplans für ein „diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen“ auf den Weg gebracht. Damit soll ein wesentlicher Beitrag geleistet werden, „Hindernisse beim Zugang zur Versorgung für die Menschen in all ihrer Verschiedenheit und Vielfalt abzubauen“, wie es vom Ministerium heißt. Im Rahmen eines schriftlichen Beteiligungsverfahrens sind die Akteure eingeladen, an der Erstellung mitzuwirken. Im Frühjahr 2024 werden erste Fachgespräche stattfinden. Der Aktionsplan soll bis Sommer stehen.
Vermutlich sind auch entsprechend angepasste Räumlichkeiten nötig ...
Sappok: Ja, auch die räumliche und bauliche Ausstattung ist natürlich wichtig. Alles muss barrierefrei sein. Dazu gehört die Ausweisung der Wege, damit Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen, mit Hör- oder Sehstörungen, sich selbstständig zurechtfinden können.
Werden Patientinnen und Patienten mit Behinderungen im Gesundheitswesen oft abgeschoben oder gar abgelehnt?
Sappok: Nachdem, was ich höre, werden sie nicht selten abgelehnt, was ein Skandal ist. Unlängst hat mir ein niedergelassener Kollege berichtet, dass er einen Patienten mit Behinderung zur Darmkrebsvorsorge in eine Fachpraxis geschickt hat. Der Facharzt hat sich dann beschwert, dass es eine Unverschämtheit sei, so einen Menschen zur Spiegelung zu ihm zu schicken. Das ist vielleicht ein Extremfall, aber es ist ein Fakt, dass Menschen mit Behinderung seltener beim Haus- oder Facharzt landen, dafür häufiger in Rettungsstellen und bei Notdiensten. Das medizinische Problem muss oft erst eskalieren, bevor gehandelt wird. Viele Beschwerden und medizinische Auffälligkeiten werden zudem einfach der Behinderung zugeschrieben, was oft ein Trugschluss ist. Das eigentliche Problem wird von der Behinderung quasi überschattet. Auf Englisch heißt das Diagnostic Overshadowing.
Werden schwere Krankheiten bei Menschen mit Behinderung oft erst in einem späten Stadium entdeckt?
Sappok: Ja, das ist so. Wir befinden uns gerade in der Aufarbeitung von wissenschaftlichen Daten zur Tumorversorgung von Menschen mit Behinderungen. Es zeigt sich, dass Krebserkrankungen bei ihnen zu einem späteren Zeitpunkt diagnostiziert werden und wegen des meist fortgeschrittenen Stadiums eine reduzierte Lebenserwartung besteht. Ohnehin ist die Lebenserwartung von Menschen mit einer schweren kognitiven Beeinträchtigung in Industrieländern heute noch um 20 Jahre reduziert.
Wo sehen Sie Ihre Aufgabe?
Sappok: Auf der klinischen Ebene möchte ich im Krankenhaus Mara in Bethel ein wirklich interdisziplinäres Zentrum entwickeln, in dem neben den internistischen und chirurgischen Kolleginnen und Kollegen auch psychiatrische Disziplinen mit an Bord sind, um ein ganzheitliches Versorgungsangebot zu machen. Das gibt es in Deutschland so noch nicht. Gemeinsame Fallbesprechungen, interdisziplinäre Visiten und eine gemeinsame Behandlungsplanung sind mein Ziel.
Und als Hochschulprofessorin?
An der Bielefelder Uni ist die Medizin für Menschen mit Behinderungen erstmals Teil der ganz normalen Grundausbildung von angehenden Ärztinnen und Ärzten aller Fachrichtungen. Im Sommersemester habe ich die ersten Medizinstudierenden unterrichtet. Mediziner sollten auf diese Situationen gut vorbereitet sein. Wichtig ist es, Angst und Verunsicherung abzubauen, die sich einstellt, wenn man einem Menschen mit Behinderung gegenübertritt. Außerdem möchte ich mehr Forschung stimulieren. Sie steckt in diesem Bereich in Deutschland noch in den Kinderschuhen.
„Krebs wird bei Menschen mit Behinderung oft erst im späten Stadium entdeckt.“
Klinikleiterin in Bielefeld-Bethel
Welche Krankheiten kommen bei Menschen mit Behinderung besonders häufig vor?
Sappok: Im psychiatrischen Bereich liegen oft Störungen aus dem Autismus-Spektrum vor. Häufig sind auch Posttraumatische Belastungsstörungen, weil nicht selten traumatisierende Erfahrungen gemacht worden sind, ebenso Schizophrenie. Und im somatischen Bereich kommt es viel häufiger zu Unfällen, also etwa Frakturen, Verbrennungen oder Prellungen. Auch Lungenentzündungen und Verschlucken, teils mit Todesfolge, sind häufiger anzutreffen. Nicht selten werden Sachen geschluckt, die nicht zum Essen gedacht sind. Auch Gastritis gibt es öfter.
Wie sind Sie zu Ihrem Spezialgebiet gekommen?
Sappok: Am Berliner Krankenhaus, an dem ich Psychiatrie gelernt habe, gibt es eine Station, die für die Versorgung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen zuständig ist. Das Gebiet fand ich total faszinierend. Es ist intellektuell eine große Herausforderung, weil eben häufig so viele körperliche und psychiatrische Krankheitsbilder gleichzeitig da sind, die komplex ineinanderwirken. Es ist außerdem menschlich erfüllend, mit diesen Personen zusammen zu sein. Ich genieße den Kontakt zu meinen Patientinnen und Patienten und auch zu deren Lebenswelten.
Warum gibt es einen solchen Lehrstuhl erst jetzt?
Sappok: In anderen Ländern ist man da schon weiter. Ich glaube, bei uns spielen Nachwirkungen der NS-Zeit eine Rolle. Damals sind ja Ärztinnen und Ärzte involviert gewesen in die Ermordung von Menschen mit Behinderung. In der Zeit danach ist die Sorge um diese Menschen dann vor allem eine pädagogische Aufgabe geworden. Der Fokus lag da mehr auf den sozialen Lebenswelten und der Lebenszufriedenheit. Erst im Laufe der Zeit ist klar geworden, dass Menschen mit Behinderung häufig körperliche und psychische Krankheiten haben, die einer guten medizinischen Versorgung bedürfen. Nach und nach ist das dann wieder ein Medizinthema geworden. Ich hoffe inständig, dass es weitere Professuren in diesem Bereich geben wird, die die Medizin für Menschen mit Behinderung in die Breite der medizinischen Ausbildung und der wissenschaftlichen Bearbeitung bringen.
Geht Ihnen die Entwicklung schnell genug?
Sappok: Ich finde, es geht viel zu langsam. Ich werde zunehmend ungeduldig. Ich bin auch manchmal ein wenig ratlos, warum das so ein aufwendiger Prozess ist. Aber klar: Wer sich der Medizin für Menschen mit Behinderung verschreibt, ambulant oder stationär, der wird damit nicht viel Geld verdienen können. Oft muss das gar quersubventioniert werden aus anderen Bereichen. Das können sich die Kliniken heutzutage gar nicht mehr leisten. Wenn ein Mensch mit Behinderung in eine Klinik oder eine Praxis kommt, dann wird das über die normale Vergütung abgerechnet. Es bedarf so des Engagements der einzelnen Klinik, für sich bessere Pflegesätze für Menschen mit Behinderung zu verhandeln.
Was fordern Sie von der Regierung?
Sappok: Ich wünsche mir von der Politik, dass flächendeckende medizinische Angebote für Menschen mit Behinderungen in Kliniken entstehen. 2015 hat die Politik mit dem Paragrafen 119c im Sozialgesetzbuch V entschieden, dass es ambulante Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schwerer Mehrfachbehinderung im ambulanten Bereich geben soll. Wir brauchen dazu ein Äquivalent im stationären Sektor, um für besonders schwer eingeschränkte Personen ein gutes klinisches Behandlungsangebot machen zu können. Da bewegt sich die Politik definitiv viel zu langsam.
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