Pillen auf dem Speiseplan
Drei Viertel aller Menschen in Deutschland peppen mit Pillen, Pulvern oder Tinkturen ihr Essen auf. Dabei sind die zusätzlichen Vitamine und Mineralstoffe oder Pflanzenextrakte häufig überflüssig und manchmal sogar schädlich. Fachleute fordern deshalb strengere Regeln für Nahrungsergänzungsmittel.
Vor wenigen Monaten warnte die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen vor falschen Heilungsversprechen mit einem Nahrungsergänzungsmittel (NEM). Ein Influencer versprach auf TikTok und Instagram Heilung bei Multipler Sklerose. Mit „LR Health Mission“, einer sechsmonatigen „Darm-Stoffwechselkur“ aus Vitaminen, Ballaststoffen, Probiotika, Kräutern und anderen Substanzen könnten Gelähmte wieder ohne Hilfsmittel gehen, so der Influencer. Doch wer damit werbe, die medizinisch als unheilbar geltende Multiple Sklerose mit NEM zu lindern oder gar zu heilen, führe Menschen bewusst in die Irre, stellt die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen klar.
Vitamine an der Spitze
Nahrungsergänzungsmittel sind weit verbreitet. In einer Umfrage für „Statista Consumer Insights“ 2022/2023 gaben etwas mehr als 75 Prozent der 18- bis 64-jährigen Befragten an, in den vorherigen zwölf Monaten ergänzende Mittel eingenommen zu haben (siehe Grafik „Nahrungsergänzungsmittel stehen hoch im Kurs“). An der Spitze standen dabei Vitamine und Mineralstoffe, gefolgt von Proteinen, Kräutern und Kräuterprodukten sowie weiteren pflanzlichen und tierischen Ergänzungsmitteln (beispielsweise Algen- oder Fischöl). Viele Konsumentinnen und Konsumenten nahmen demnach mehrere Substanzen ein. Laut Statista greifen eher Frauen als Männer und Ältere als Jüngere zu den Mitteln. Auch wenn immer mehr Menschen die Produkte im Internet bestellen, kaufen sie NEM derzeit noch am häufigsten in Drogeriemärkten und Apotheken.
Corona steigert Nachfrage
Die Corona-Pandemie hat die Nachfrage in die Höhe schnellen lassen. Das hat eine erhöhte Produktion nach sich gezogen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes stellten im Vor-Corona-Jahr 2019 Unternehmen hierzulande rund 162.000 Tonnen NEM her. 2023 waren es demnach bereits rund 204.000 Tonnen. Nach Prognosen des Marktforschungsunternehmens Mintel werden ein steigendes Gesundheitsbewusstsein und die alternde Bevölkerung den Markt auch in den nächsten Jahren wachsen lassen. Wer zu den Produkten greift, erhofft sich nicht selten eine Extra-Portion Gesundheit: In einer Statista-Umfrage aus dem Jahr 2021 zum gesundheitlichen Nutzen von Vitaminpräparaten antworteten 21 Prozent der Befragten, damit Mangelerscheinungen ausgleichen zu wollen. Nahezu 14 Prozent schrieben den Mitteln die Funktion zu, Krankheiten abzuwehren oder gar zu überwinden.
Lebensmitteln zugeordnet
Tatsächlich erweckt die arzneitypische Aufmachung als Kapsel, Pille oder Pulver den Anschein, dass es sich bei NEM um Medikamente zur Behandlung von Krankheiten handelt. Der Gesetzgeber ordnet sie jedoch ausdrücklich den Lebensmitteln zu. Damit unterliegen sie den allgemeinen lebensmittelrechtlichen Bestimmungen. Darüber hinaus machen die europäische Nahrungsergänzungsmittel-Richtlinie (Nem-RL 2002/46/EG) und die nationale Nahrungsergänzungsmittel-Verordnung (NemV) spezifische Vorgaben zu Zusammensetzung, Kennzeichnung und Anzeigenpflicht. Danach sind Nahrungsergänzungsmittel Konzentrate von Vitaminen, Mineralstoffen oder sonstigen Stoffe mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung, die dafür bestimmt sind, die allgemeine Ernährung zu ergänzen (NemV, Paragraf 1). „Eine ausgewogene Ernährung können sie nicht ersetzen“, betont Dr. Kiran Virmani, Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Vielmehr können sie eine unzureichende Nährstoffversorgung ausgleichen, eine geeignete Zufuhr bestimmter Nährstoffe aufrechterhalten oder bestimmte physiologische Funktionen unterstützen.
Für Gesunde gedacht
Pharmakologische Wirkungen dürfen die Zusatz-Präparate nicht erzielen. „Nahrungsergänzungsmittel sind für Gesunde gedacht. Sie sind nicht dafür bestimmt, Krankheiten vorzubeugen oder gar zu heilen“, erläutert Antje Preußker, wissenschaftliche Leitung im Lebensmittelverband für den Arbeitskreis Nahrungsergänzungsmittel. Wie bei allen anderen Lebensmitteln liegt die Verantwortung für Qualität, Sicherheit und Verkehrsfähigkeit beim Anbieter. Zudem müssen NEM vor Markteinführung beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit angezeigt werden, um die Marktkontrolle durch die amtliche Lebensmittelüberwachung zu erleichtern. „Wir haben umfangreiche gesetzliche Regelungen, die die Sicherheit der NEM gewährleisten und die von den vielen verantwortungsvollen Unternehmen in Deutschland auch sorgfältig eingehalten werden“, betont Preußker. Zu diesen Regelungen gehören beispielsweise die Anreicherungsverordnung (Verordnung (EG) Nr. 1925/2006) oder die Verordnung (EU) 2015/2283 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten (Novel Food-Verordnung). Über die allgemeinen Vorschriften des Lebensmittelrechts hinaus gibt es zudem spezielle Vorschriften für Kennzeichnung und Zusammensetzung von Nahrungsergänzungsmitteln.
Gesetz schützt Verbraucher
In der Tat hat der Gesetzgeber Vorkehrungen zum Verbraucherschutz getroffen. Nach der NemV müssen die das Produkt charakterisierenden Stoffe, die empfohlene tägliche Verzehrmenge und der Hinweis, dass diese nicht überschritten werden darf, auf der Verpackung deklariert werden. Deutlich muss angegeben sein, dass NEM eine ausgewogene Ernährung nicht ersetzen können und nicht in Reichweite von Kindern aufgehoben werden dürfen. Zudem dürfen Werbung, Kennzeichnung oder Aufmachung nicht den Eindruck erwecken, dass bei einer ausgewogenen Ernährung eine ausreichende Nährstoffversorgung nicht möglich sei. Laut EU-Lebensmittelinformationsverordnung Nr. 1169/2011 sind auf der Verpackung und in der Werbung alle Angaben verboten, die eine arzneiliche Wirkung suggerieren oder sich auf Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten beziehen (Aussagen wie zum Beispiel „Vitamin C zur Linderung von Erkältungskrankheiten“). Aussagen von Ärzten, Angehörigen von Heilberufen oder Erfahrungsberichte von „glücklichen Verbrauchern“ dürfen nicht veröffentlicht werden.
Mit der Health-Claims-Verordnung (EU-Verordnung Nr. 1924/2006) hat die Europäische Union auch nicht haltbaren Gesundheitsversprechen einen Riegel vorgeschoben. Nährwert- und gesundheitsbezogene Aussagen (Health Claims) sind nur dann zulässig, wenn die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit sie zuvor geprüft und die EU-Kommission sie zugelassen hat. Derzeit verzeichnet eine Positivliste rund 230 anerkannte Health Claims (zum Beispiel: „Weizenkleie trägt zur Beschleunigung der Darmpassage bei“).
Kontrolle deckt Mängel auf
Dennoch gibt es immer wieder Anbieter, die es mit der Beachtung von Vorschriften nicht so genau nehmen. Das von den Verbraucherzentralen betriebene Internetportal klartext-nahrungsergaenzung.de hat innerhalb von fünf Jahren mehr als 200 Warnungen vor gesundheitsgefährdenden oder unseriösen NEM und Vertriebswegen veröffentlicht. Nahezu jede zweite Probe werde bei der amtlichen Kontrolle beanstandet, weiß Maik Maschke, Vorsitzender des Bundesverbandes der Lebensmittelkontrolleure Deutschlands. „Manche als NEM deklarierte Produkte sind unter- oder überdosiert, enthalten andere Zutaten als angeben oder sind mit gesundheitsgefährdenden Substanzen, Arzneistoffen oder Anabolika belastet. Auch die Kennzeichnung ist häufig fehlerhaft.“ Das gelte besonders für Präparate von unbekannten Anbietern aus dem Ausland oder dem Internet. Schon 2017 fanden die Behörden bei einer europaweiten Lebensmittelkontrolle auf knapp 80 Prozent der geprüften Webseiten nicht verkehrsfähige NEM. Die hohe Zahl wundert Maschke nicht. „Derzeit ist es praktisch unmöglich, im Onlinehandel anonym und rechtskonform Proben zu entnehmen.“ Hinzu komme eine unzureichende Vernetzung der Behörden und das Fehlen von bundesweit 1.500 qualifizierten Lebensmittelkontrolleuren. In einem aktuellen Positionspapier fordern die Berufsverbände der amtlichen Lebensmittelkontrolle daher den gezielten Ausbau des Systems.
Blackbox Botanicals
Besonders Nahrungsergänzungsmittel mit Botanicals (Pflanzen-, Algen-, Pilz- und Flechtenextrakte) werden oft beanstandet. Das liege auch an der unzureichenden rechtlichen Regelung, weiß Sabrina Göddertz, Referentin des Verbraucherzentrale Bundesverbandes (vzbv). Denn während die NemV genau vorgebe, welche Vitamin- und Mineralstoffverbindungen verwendet werden dürfen, fehlten solche Vorgaben für Botanicals. Hinzu komme, dass die EU-Kommission 2010 die Bewertung von rund 1.500 Health Claims für Botanicals ausgesetzt habe, sodass nunmehr seit Jahren ungeprüfte Gesundheitsaussagen auf den Verpackungen stünden. Dabei bedürfen auch sie einer Zulassung, wie der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs im Oktober 2024 im Rahmen eines Rechtsstreits nochmals klargestellt hat. „Gerade bei Botanicals denken Verbraucher häufig, dass sie rein pflanzlich und deshalb harmlos seien. Dabei können auch sie natürliche Schadstoffe enthalten, Nebenwirkungen haben oder Wechselwirkungen auslösen“, sagt Göddertz. Kürzlich hat das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) wegen Leberschäden und Wechselwirkungen mit Antidiabetika, Blutdrucksenkern und Immunsuppressiva vor Präparaten mit der Schlafbeere (Ashwagandha) gewarnt. „Wir fordern eine amtliche Meldestelle, um Neben- und Wechselwirkungen von NEM systematisch zu erfassen, und eine rechtlich verbindliche Positivliste von Botanicals und anderen Stoffen“, so Göddertz.
Auch der Lebensmittelverband hält eine europaweite Positivliste einschließlich genehmigter Gesundheitsaussagen grundsätzlich für sinnvoll. Der Forderung des vzbv nach Einführung eines Zulassungsverfahrens zum Nachweis der Unbedenklichkeit noch vor Markteintritt erteilt Preußker jedoch eine Absage. „Nahrungsergänzungsmittel sind Lebensmittel und benötigen daher keine Zulassung. Das Problem sind vor allem die Anbieter, die illegale Produkte im Online-Handel anbieten und sie für die Lebensmittelüberwachung nicht anzeigen. Daran ändert auch eine Zulassungspflicht nichts.
Als Schritt in die richtige Richtung zu mehr Sicherheit kann die im Juni 2024 von den europäischen Lebensmittelsicherheitsbehörden (Heads of Food Safety Agencies) verabschiedete Liste gewertet werden. Sie beschreibt 117 Stoffe mit vermutlich krebserzeugenden, erbgutverändernden oder anderen gesundheitsgefährdenden Eigenschaften. Die Aufstellung dient als Grundlage, um auf europäischer Ebene ein Verbot beziehungsweise eine eingeschränkte Verwendung dieser Stoffe in NEM zu regeln.
Höchstmengen festlegen
Ein weiteres Manko: Weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene existieren rechtsverbindliche Höchstmengen für Vitamine, Mineral- und andere Stoffe in NEM, obgleich sie 2002 per EU-Richtlinie angekündigt wurden. Derzeit gibt das BfR lediglich unverbindliche Empfehlungen ab dem 15. Lebensjahr heraus. „Beim Blick auf Vitamin- und Mineralstoffpräparate fällt auf, dass manche deutlich höhere Mengen enthalten als nach den Referenzwerten empfohlen“, sagt Verbraucherschützerin Sabrina Göddertz. Wissenschaftliche Studien würden jedoch belegen, „dass von einer zusätzlichen, über den Bedarf hinausgehenden Aufnahme von Mikronährstoffen keine positiven gesundheitlichen Wirkungen zu erwarten sind“, schreibt das BfR 2024 in einer Stellungnahme. Im Gegenteil: „Im ungünstigen Fall kann eine übermäßige Zufuhr der Gesundheit schaden.“
Diese Gefahr sieht das BfR besonders dann, wenn der Bedarf bereits über die normale Ernährung und/oder angereicherte Lebensmittel gedeckt ist. Beispielsweise könne eine langfristige exzessive Aufnahme von Vitamin D zu erhöhten Calciumspiegeln im Blut führen und in schweren Fällen die Niere schädigen.
Besonders NEM für Kinder sind dem vzbv ein Dorn im Auge. „Sie erinnern häufig an Süßigkeiten und verführen zum übermäßigen Konsum“, sagt Göddertz. Der vzbv fordert EU-weite, rechtsverbindliche, vom Kindesalter an nach Altersgruppen unterteilte Höchstmengen. Auch der Lebensmittelverband begrüßt eine einheitliche europäische Lösung. „Das ist nicht nur im Sinne des Verbraucherschutzes sinnvoll, sondern sorgt für Rechtssicherheit und gewährleistet den freien Warenverkehr“, sagt Preußker. Sie betont jedoch zugleich die Notwendigkeit, die Wahlfreiheit für Unternehmen und Verbraucher nicht unnötig einzuschränken.
Europaweite Regelung
Begrüßt wird daher, dass die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit aktuell an der Etablierung europaweiter Höchstmengen arbeitet. Erst im Januar 2024 hat das BfR dafür Vorschläge eingereicht. Sie „zielen darauf ab, die Nährstoffzufuhr über NEM und angereicherte Lebensmittel so zu beschränken, dass durch den Konsum der Produkte signifikante zusätzliche Nährstoffaufnahmen möglich sind und zugleich die Mehrheit der gut versorgten Bevölkerung vor übermäßigen Nährstoffaufnahmen geschützt wird.“ Bis jedoch eine europäische Verständigung gelinge, könne viel Zeit ins Land gehen, fürchtet der vzbv. Im Sinne des vorbeugenden Gesundheitsschutzes fordert er in einem Positionspapier die Bundesregierung auf, vorab nationale rechtsverbindliche Regelungen zu etablieren.
Am Ende bleibt die Frage: Sind NEM nötig und sinnvoll? Der Lebensmittelverband hält sie mit Blick auf das ungünstige Ernährungsverhalten laut Nationaler Verzehrsstudie II für eine breite Bevölkerungsschicht für sinnvoll. Das sieht die DGE anders: „Die meisten Menschen sind hierzulande durch ihre Ernährung ausreichend mit Nährstoffen versorgt“, betont DGE-Geschäftsführerin Virmani. Nur wenige Vitamine und Mineralstoffe würden von manchen Bevölkerungsgruppen nicht entsprechend den DGE-Empfehlungen aufgenommen, ergänzt das BfR unter Verweis auf Daten verschiedener Verzehrsstudien. Das sei jedoch nicht mit einer Unterversorgung oder gar einem Mangel gleichzusetzen.
Nur in Einzelfällen sinnvoll
BfR und DGE halten Supplemente daher nur in Einzelfällen für sinnvoll, beispielsweise Vitamin B12 für Veganer, Folsäure und Jod für Frauen mit Kinderwunsch, Schwangere und Stillende sowie Vitamin D für Menschen, die sich kaum im Freien aufhalten beziehungsweise ihre Haut vollständig bedecken.
Eine ausgewogene, abwechslungsreiche Ernährung sei immer noch das Beste, wenn es um die Nährstoffversorgung gehe. „Die Gefahr einer Überdosierung ist bei einer Ernährung mit üblichen Lebensmitteln zudem nahezu ausgeschlossen“, sagt Virmani.
Wer unsicher ist, ob er gut mit Nährstoffen versorgt ist, sollte eine Ärztin beziehungsweise einen Arzt oder eine Ernährungsfachkraft aufsuchen. Sie können anhand eines Blutbildes oder Ernährungsprotokolls fachgerechte Empfehlungen geben.
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