Interview Pflege

Anwerbung von ausländischen Pflegekräften eröffnet gesellschaftlich neue Möglichkeiten

11.04.2024 Solveig Giesecke 6 Min. Lesedauer

Der Personalmangel in der Pflege wächst und die Bundesregierung wirbt verstärkt Pflegekräfte im Ausland an – unter anderem in Marokko. Susanne Baumgart, Leiterin des Goethe-Instituts in der marokkanischen Hauptstadt Rabat, erläutert im Interview mit G+G, welche Folgen die Anwerbungsofferten insbesondere für Frauen haben.

Foto: Eine Pflegekraft hilft einer älteren Frau mit Rollator beim Laufen.
Im Jahr 2022 waren laut Bundesagentur für Arbeit rund 244.000 ausländische Pflegekräfte in Deutschland beschäftigt. Ihr Anteil hat sich von acht Prozent 2017 auf 14 Prozent 2022 nahezu verdoppelt.

Frau Dr. Baumgart, die Bundesregierung wirbt unter anderem in Marokko um Arbeitskräfte. Wie kommt das an?

Dr. Susanne Baumgart: Die Bemühungen der Ministerinnen und Minister um Arbeitskräfte werden sehr positiv aufgenommen, sowohl von der Bevölkerung als auch von der marokkanischen Regierung. Insbesondere das Werben um Gesundheitspersonal hat ein Boosting ausgelöst. Das Interesse von Mädchen und Frauen an einer Migration nach Deutschland ist stark gestiegen. 

Wird das von marokkanischer Seite aus unterstützt?

Baumgart: Arbeitsmigration hat eine lange Tradition in Marokko und wird positiv bewertet, unter anderem, weil die Menschen, die das Abenteuer Arbeit im Ausland wagen, reichhaltige Erfahrungen und nicht unerhebliche Einkünfte mit in die Heimat bringen. Die Zuwendungen von den im Ausland arbeitenden Bürgern machen rund 8,3 Prozent des marokkanischen Bruttosozialproduktes aus. Das Interesse an einer Ausbildung oder Arbeit im Ausland war in Marokko schon immer recht hoch. Klassische Migrationsländer sind allerdings eher Frankreich, Belgien, die Niederlande oder auch Italien und saisonal Spanien. Deutschland kommt nun hinzu, wird sozusagen wiederentdeckt.

Wiederentdeckt?

Baumgart: Deutschland hat bereits vor 55 Jahren ein Anwerbe-Abkommen mit Marokko geschlossen. Damals ging es um Arbeitnehmer für die Metallindustrie in Hanau und Offenbach etwa. Neu ist, dass nun mit der Gastronomie und Hotellerie sowie vor allem den Gesundheits- und Pflegeberufen auch Mädchen und Frauen angesprochen werden. Das schafft auch gesellschaftlich neue Möglichkeiten für die Frauen.

Die Chance auf mehr Bildung und damit Eigenständigkeit und Anerkennung?

Baumgart: Richtig. Viele junge Frauen wollen in deutschen Krankenhäusern und Alteneinrichtungen arbeiten. Sie verbinden mit Deutschland die Hoffnung, Selbstbestimmtheit zu erlangen, die Chance auf ein besseres Leben. Wie in recht vielen Ländern ist es auch in Marokko so, dass die Familie zusammenlegt, um meist einem Jungen eine gute Ausbildung oder ein Studium zu ermöglichen – in der Erwartung, dass er dann die Familie mit Zahlungen unterstützt. Dieses Investment lohnt sich nun auch in Töchter. In Marokko ist die Pflegeausbildung eine akademische, heißt, die Mädchen dürfen studieren, einen Abschluss und einen Sprachkurs machen. Das stärkt sie innerhalb der Familie, aber auch in der Gesellschaft insgesamt.

Stellen Sie in den Sprachkursen am Goethe-Institut fest, dass mehr Mädchen kommen?

Baumgart: Auf jeden Fall. Wir haben deutlich mehr Mädchen und Frauen in den Sprachkursen, die vor allem im Bereich Gesundheit und Pflege in Deutschland eine Ausbildung machen, beziehungsweise arbeiten wollen, einige auch in Hotellerie und Gastgewerbe. Und wir stellen fest: Die Mädchen sind oft motivierter und lernen schneller.

Wie reagieren Männer auf diese Entwicklung?

Baumgart: Das ist unterschiedlich. Es kommt auf die Erwartung an. Ein Vater ist vermutlich stolz auf seine Tochter, die studiert und Deutsch lernt. Es ist aber tatsächlich so, dass einige Männer die Frauen in den Sprachkursen darauf ansprechen. Sie fragen dann zum Beispiel: Warum willst du Deutsch lernen, ich gehe doch ins Ausland und mache Karriere, du kannst mich ja dann heiraten. Da findet also ein Wandel statt, der männliche Privilegien infrage stellt. Tatsächlich werden diejenigen, die ins Ausland gehen, in Marokko sehr geschätzt und sind begehrte Heiratskandidaten. Das gilt nun also auch für die Mädchen, die zum Beispiel nach Deutschland gehen wollen, um in Kliniken oder Altenheimen zu arbeiten.

„Viele junge Frauen verbinden mit Deutschland die Hoffnung, Selbstbestimmtheit zu erlangen.“

Dr. Susanne Baumgart

Leiterin des Goethe-Instituts Marokko

Foto: Porträt von Dr. Susanne Baumgart ist Leiterin des Goethe-Instituts Marokko.
Dr. Susanne Baumgart ist Leiterin des Goethe-Instituts Marokko.

Gibt es in Marokko ausreichend Personal für den heimischen Gesundheitsbereich? Auf der WHO-„Health Workforce Support Liste and Safeguard List 2023“ der Länder mit einer Mangelsituation ist es nicht aufgeführt.

Baumgart:Es fehlen vor allem Ärzte, aber auch Pflegefachpersonal. Auch Marokko benötigt fertig ausgebildetes Personal für die zahlreichen im Bau befindlichen neuen Kliniken. Andererseits gibt es eine hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere jungen Menschen und bei Frauen. Auch bei Akademikern steigt die Arbeitslosigkeit. Die Angebote, im Ausland eine Ausbildung zu machen oder eine Arbeit zu finden, sind daher ausgesprochen willkommen. Hier muss also zwischen den ausgebildeten Fachkräften, deren Abwanderung unerwünscht ist und den potenziellen Auszubildenden unterschieden werden.

Ist eine Ausbildung zur Pflegefachfrau beziehungsweise zum Pflegefachmann in Deutschland eine Alternative zum Studium in Marokko?

Baumgart: Das mag verwundern, aber ja. In Marokko hat der Pflegeberuf einen anderen Status als in Deutschland. Die körperliche Pflege übernimmt meist die Familie des Patienten. Das gilt für viele Länder, in denen der Pflegeberuf eine akademische Ausbildung erfordert und führt ja dann auch hin und wieder zu Konflikten in gemischten Teams in Deutschland. Das ist aber nur die eine Seite. Es gibt auch eine andere. Überrascht wird dann etwa in Social Media nach Hause berichtet: Hier, in Deutschland, bekommst du sogar Geld, wenn du eine Pflegeausbildung machst und musst gar nicht erst studieren. Das ist für viele Mädchen und Familien eine sehr positive Nachricht. Andererseits sind die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen in der Pflege in Deutschland für viele in der Realität sehr hart, so dass die Ausbildung abgebrochen und die Suche nach dem Traumberuf in Deutschland fortgesetzt wird.

Es wird hier vor allem Fachpersonal gesucht und weniger Auszubildende…

Baumgart: Das gilt vielleicht für den Gesundheitssektor. Tatsächlich werden über Handels- und Handwerkskammern in Zusammenarbeit mit der Arbeitsbehörde in Marokko schon recht viele Ausbildungsplätze in Deutschland angeboten und vermittelt. Wir, als Goethe-Institut Marokko, bieten dann Rundumpakete an: Spracherwerb bis Level B1, was Voraussetzung für ein Ausbildungsvisum ist, und Vorbereitung auf die Ausbildung in Deutschland. In der Regel klappt es dann auch reibungslos mit der Visumserteilung.

Sonst hakte es öfter beim Visum?

Baumgart: Das Visum setzt den Nachweis von Sprachkenntnissen in Deutsch auf Level B1 oder B2 voraus. Und es gibt wegen des hohen Interesses an Migration eben auch einen gewissen Markt an Sprachkursen in Marokko. Und sehr oft können die Kandidaten dann nicht einmal einfachste Fragen in der Visumsstelle der Botschaft beantworten, wie etwa die Frage: In welcher Stadt wollen sie arbeiten? Weil sie die Frage einfach nicht verstehen und weil eben oft nichts wirklich dahintersteht.

RAL-Gütesiegel „Faire Anwerbung Pflege Deutschland“

Das Gütesiegel „Faire Anwerbung Pflege Deutschland“ zeichnet seit 2022 anwerbende Personalservice-Agenturen und Einrichtungen aus, die eine ethisch vertretbare, faire und transparente Anwerbung gewährleisten. Dazu gehört zum Beispiel, dass die migrationsbereiten Menschen nicht die Kosten tragen - etwa für Sprachkurs, Visum oder Reise. Es gilt das Employer-Pays-Prinzip. Die Vermittlungsgebühr und die zur Vermittlung gehörenden Kosten werden vom Arbeitgebenden übernommen. Herausgeber des Gütesiegels ist das Bundesgesundheitsministerium. Entwickelt wurde es vom Deutschen Kompetenzzentrum für internationale Fachkräfte in den Gesundheits- und Pflegeberufen im Kuratorium Deutsche Altershilfe. Erteilt wird es von der Gütegemeinschaft Anwerbung und Vermittlung von Pflegekräften aus dem Ausland. Sie beauftragt unabhängige Prüfer mit der Prüfung der Einhaltung der Voraussetzungen. Das Siegel wird für zwei Jahre vergeben. Bisher haben 67 Personalservice-Agenturen und selbst anwerbende Einrichtungen das Gütesiegel erhalten. Damit die Anwerbung nachhaltig ist, wird den Arbeitgebern zudem ein betriebliches Integrationsmanagement-Konzept an die Hand gegeben, das bereits im Herkunftsland ansetzt.

Noch einmal zurück zum Gesundheitssektor: Denken Sie, dass Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen erfolgreich um Auszubildende in Marokko werben könnten?

Baumgart: Absolut. Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen sollten ihre Ausbildungsplätze auch in Marokko anbieten. Mich hat bei einer Veranstaltung in Rabat gerade ein Vater angesprochen und gefragt, was denn ein Ausbildungsvertrag in Deutschland kostet? Er konnte es kaum glauben, als ich geantwortet habe, dass die Ausbildung in Deutschland von den Einrichtungen oder Unternehmen bezahlt wird. Von der Abwerbung bereits ausgebildeter Fachkräfte dagegen sollte man absehen.

Und der Vater meinte nicht die Kosten, die bis zur Ausreise anfallen, wie etwa den Sprachkurs?

Baumgart: Nein, er war der Meinung, dass etwas so Wertvolles wie eine Ausbildung in Deutschland doch sicher kosten werde. Das ist halt auch eine Erfahrungssache und zeigt auf der anderen Seite auch den Grad der Verunsicherung über mögliche Kosten. Denn ja, es entstehen natürlich Kosten, bevor es überhaupt zur Ausreise kommt. Und da gibt es faire und unfaire Modelle.

Sie sprechen Arbeitsvermittler an, die zum Teil hohe Summen verlangen?

Baumgart: Richtig. Es gibt nicht nur einen Markt für Sprachkurse und Prüfungen, es gibt auch einen Vermittlungsmarkt. Und da gibt es große Unterschiede: Fair ist eine Anwerbung, bei der der künftige Arbeitgeber die Kosten übernimmt. Es gibt aber leider auch Vermittler, die jungen Menschen und ihren Familien Ausbildungsverträge in Deutschland gegen Zahlung von 4.000 bis 6.000 Euro versprechen – und nicht selten wird aus dem Traum dann nichts.

Woran scheitert es?

Baumgart: Oft scheitert der Traum von Deutschland an der Sprache, genauer, am Sprachkurs. Die meisten unserer Schülerinnen und Schüler bestehen die Prüfung zwar beim ersten Versuch, wir haben nur eine Durchfallquote von 20 bis 30 Prozent. Aber es gibt Durchfallquoten von 70 bis 80 Prozent – je nachdem, welcher Kursanbieter eben von der Vermittlungsagentur gebucht wurde. Manche Prüflinge treten sieben Mal an. Und manchmal scheitert es dann eben ganz – spätestens am Bewerbungsgespräch.

Das ist keine gute Werbung für eine Migration nach Deutschland. Wird das in Social Media kommuniziert?

Baumgart: Über Social Media läuft sehr viel. Da gibt es erschreckende Berichte über unseriöse Praktiken. Die befeuern dann Gerüchte. Es wird vor Abzocke gewarnt. Der Haken ist: Die Agenturen schließen dann und benennen sich um.

In Deutschland gibt es das Gütesiegel „Faire Anwerbung Pflege Deutschland“ für Personalservice-Agenturen, die ethisch, fair und nachhaltig anwerben – und auch in Marokko anwerben.  Gibt es ein ähnliches Konzept auch in Marokko?

Baumgart: Bis jetzt nicht, nein. Das wäre eine gute Maßnahme, denke ich. Schließlich kann man mithilfe eines solchen Gütesiegels sehr schnell die seriösen Agenturen herausfiltern. Natürlich gibt es auch seriöse Vermittlungsagenturen, bei denen es so läuft, wie beispielsweise bei den Vermittlungen über die Handwerks- und Handelskammern, bei denen regelmäßig die Arbeitgeber die Kosten übernehmen. Und es gibt, umgekehrt leider auch große, deutsche Institutionen, die selbst anwerben und tatsächlich erwarten, dass die Familien für die Kosten aufkommen. Es wäre gut, wenn Bewerberinnen besser geschützt würden und ihrerseits stärker auf den Punkt Kostenübernahme achten würden. Dann gäbe es auch weniger abschreckende Berichte über Abzocke. Dabei kann dann das Gütesiegel helfen.

Wie werden Berichte über Ausländerfeindlichkeit und Rechtsradikalismus in Deutschland bei Ihnen wahrgenommen?

Baumgart: Es wird über Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit in Deutschland berichtet. Das wird kritisch beobachtet und trägt sicher nicht zu einem positiven Image Deutschlands bei – und es wirbt ja nicht nur Deutschland in Marokko an. Ich würde es aber so einschätzen, dass die Einstellung, insbesondere der Männer hier eine unerschrockenere, selbstbewusstere ist. Wenn „Mann“ sich vorgenommen hat, in Deutschland gute Arbeit zu leisten und gutes Geld zu verdienen, dann wird er dies umsetzen wollen und hofft, dass es ihn nicht betrifft.

Trifft das auch auf Mädchen und Frauen zu?

Baumgart: Das ist schwer zu sagen. Es gab aber gerade auf Facebook einen Post einer jungen Frau, die wegen ihres Kopftuchs in Deutschland beleidigt wurde. Tatsächlich überwogen die Kommentare, die sie aufforderten, nicht zu jammern, weiter gut zu arbeiten und durchzuhalten. Der Angst vor Ausländerfeindlichkeit steht hier, in Marokko, die Sorge vor Arbeitslosigkeit entgegen. Oder positiv formuliert: Es besteht für diejenigen, die in Deutschland waren, die Aussicht, mit ihren Erfahrungen sehr willkommen zu sein.

Das heißt, man ist willkommen, wenn man in deutschen Kliniken oder Einrichtungen gearbeitet hat, obwohl es einheimisches, gut ausgebildetes Pflegepersonal gibt?

Baumgart: Ja, definitiv. Grundsätzlich haben Sie auf dem marokkanischen Arbeitsmarkt sehr gute Chancen, wenn Sie im Ausland eine Ausbildung gemacht oder gearbeitet haben. Lange Zeit war das vor allem der Oberschicht vorbehalten. Ihre Kinder besuchten französische Schulen und Universitäten, und diese jungen Menschen waren und sind immer noch prädestiniert für verantwortungsvolle, einflussreiche Jobs. Die Arbeitsmigration ermöglicht es nun aber auch Kindern aus der Mittelschicht, mit Auslandserfahrungen zu punkten. Und gerade im Gesundheitssektor sind Rückkehrer aus Deutschland sehr begehrt. Das gilt auch, wenn sie eine Ausbildung statt Studium absolviert haben. Grund sind zum Beispiel Kenntnisse über neueste Technik und deren Anwendungen. Auch hier profitieren wieder die Mädchen und Frauen besonders, deren Know-how im Bereich Pflege und Gesundheit sehr geschätzt wird.

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