„Jeder Tag ist bei uns wie eine Wundertüte“
Beim therapeutischen Gammeln entscheiden die Demenzerkrankten selbst, wie sie ihren Alltag gestalten möchten. Im Interview mit G+G erläutert der Erfinder Stephan Kostrzewa, wie das Konzept funktioniert, welche Hürden zu nehmen sind und weshalb es viele Vorteile bietet.
Wie kamen Sie auf die Idee zum Konzept des therapeutischen Gammelns?
Dr. Stephan Kostrzewa: In meiner Ausbildung zum examinierten Altenpfleger Ende der 1980er-Jahre wurden mir Leitsätze vermittelt wie „Menschen mit Demenz brauchen eine enge Struktur.“ Während meines Studiums der Sozialwissenschaften habe ich damit begonnen, dies zu hinterfragen. Vorgefunden habe ich eine relativ dünne Studienlage, die dies nicht beweist. Vielmehr zeigte sich, dass die Erkrankung sehr individuell erlebt wird. Es gibt also keinen Königsweg. Viel wichtiger ist, was die Betroffenen selbst sich wünschen. Daraus entstand das Konzept des therapeutischen Gammelns. Dabei geben wir Pflegenden die Regie ab und reagieren anstatt zu agieren.
In wie vielen Einrichtungen in Deutschland kommt es bereits zur Anwendung?
Kostrzewa: Derzeit wird das Konzept in der ersten Einrichtung in Deutschland ausprobiert. Dabei handelt es sich um das Julie-Kolb-Seniorenzentrum, einer AWO-Einrichtung im nordrhein-westfälischen Marl. Dort gibt es sieben Wohnbereiche. Einer davon ist die sogenannte „Gammeloase“, eine weitere ist geplant. Wir haben hier nur Doppelzimmer, denn Studien zeigen, dass die Stresswerte bei den Demenzerkrankten dadurch niedriger sind.
Hierzu eine Anekdote: In einem unserer Zimmer leben zwei Herren, die jeden Abend überlegen, wer welches Bett nimmt. Das gleiche gilt für die Kleidung. Das mag Angehörige manchmal erschrecken, gibt aber den Bewohnern Entscheidungsfreiheit – und sie werden nicht ständig auf ihre Defizite hingewiesen.
Wie gelingt die Umsetzung des Konzepts?
Kostrzewa: Beim therapeutischen Gammeln in der stationären Altenpflege stellen wir Räumlichkeiten und Nahrung zur Verfügung, verzichten aber auf eine vorgetaktete Tagesstruktur und ein festes Programm. Stattdessen machen die Mitarbeitenden Angebote, die auch abgelehnt werden dürfen. Das heißt, die Pflege, die Betreuung und die Hauswirtschaft sollen sich immer wieder fragen: „Hat mir die demenzerkrankte Person den Auftrag dafür gegeben?“ So ist jeder Tag bei uns wie eine Wundertüte. Zum Beispiel müssen die Bewohner nicht um eine bestimmte Uhrzeit Mittagessen. Damit das funktioniert, haben wir eine eigene Spülmaschine sowie eigenes Geschirr, um nicht auf die Zentralküche angewiesen zu sein. Dadurch wird der Alltag entschleunigt.
Welche Vorteile bietet das therapeutische Gammeln noch?
Kostrzewa: In klassischen Pflegeeinrichtungen gibt es jeweils eigene Konzepte für die Pflege, die Hauswirtschaft und die Betreuungsarbeit. Beim therapeutischen Gammeln haben wir ein Konzept für das gesamte Team. Da muss auch der Fachpfleger ab und an die Spülmaschine ausräumen. Natürlich gibt es auch Vorbehaltsaufgaben, wie Medikamente stellen oder Verbände wechseln, die nur den Pflegekräften unterliegen. Ansonsten werden aber alle Aufgaben gemeinsam erledigt. Dadurch entsteht eine ganz andere Achtung unter den Mitarbeitenden.
Natürlich können auch wir die Defizite der Demenz nicht wegzaubern. Jedoch gestalten die Erkrankten den Alltag bei uns bewusst mit. Denn auch wenn die Sprache zerfällt, sind sie noch in der Lage mitzuteilen, was sie möchten und was nicht. Diese Entscheidungsfreiheit führt zu mehr Lebendigkeit. So konnten wir bei fast allen Bewohnern die Psychopharmaka herunterfahren oder ganz absetzen. Zudem tauschen wir uns intensiv mit den Angehörigen aus. Denn sie sind die Experten für ihre erkrankten Familienmitglieder.
„In der Gammeloase steht die Normalität in Frage.“
Diplom-Sozialwissenschaftler, examinierter Altenpfleger und Fachpfleger Palliative Care
Welche Hürden können bei der Umsetzung auftreten?
Kostrzewa: Das therapeutische Gammeln stößt auf großes Interesse bei Einrichtungs- und Pflegedienstleitungen sowie Trägern. Es wird aber noch mit Vorsicht wahrgenommen. Denn für das Konzept müssen wir die Bewohner mit fortgeschrittener Demenz von den orientierten Bewohnern trennen. Das nennt sich segregiertes Modell. Letztere haben nämlich oft Berührungsängste oder gar Angst vor den Demenzerkrankten. Dies wäre für das therapeutische Gammeln zu konfliktträchtig.
Zudem steht in der Gammeloase die Normalität in Frage. Deshalb haben wir im Julie-Kolb-Seniorenzentrum bewusst eine „Hausunordnung“, die den dortigen Alltag regelt. Wir brauchen aber kein zusätzliches Personal. Jedoch müssen die Mitarbeitenden geschult und bei der Umsetzung des Konzepts engmaschig begleitet werden. Denn es ist ein Umdenken nötig, um die Kontrolle abzugeben. Dies verursacht natürlich auch Kosten.
Und wie sieht es mit den Bewohnern aus?
Die Gammeloase ist ein offener Bereich und wir haben auch Bewohner mit einem starken Bewegungsdrang. Diesem sogenannten „herausfordernden Verhalten“ begegnet das Team in Fallbesprechungen mit Verstehenshypothesen. Das heißt, es geht darum, die Ursachen herauszufinden. Denn oftmals liegt das Verhalten nicht an der Demenz an sich, sondern an somatischen Problemen, wie Schmerzen oder einem Juckreiz. Erst dann betrachten wir den psychosozialen Bereich, wie etwa Probleme mit Angehörigen.
Gibt es wissenschaftliche Studien oder empirische Belege, die die Wirksamkeit des Konzepts unterstützen?
Kostrzewa: Jüngst hat eine Studentin der Sozialen Arbeit in ihrer Bachelorarbeit bestätigt, dass das therapeutische Gammeln die Autonomie von Menschen mit Demenz fördert. Zudem evaluieren wir das Konzept weiter.
Welche politischen Hürden sehen Sie bei der Implementierung des therapeutischen Gammelns?
Kostrzewa: Die Rahmenbedingungen sind für alle Pflegeeinrichtungen gleich. Auch die Gammeloase im Julie-Kolb-Seniorenzentrum unterliegt der sogenannten WTG (Wohn- und Teilhabegesetz)-Behörde, also der ehemaligem Heimaufsicht, sowie dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung. Zudem ist auch dort die Personaldecke dünn. Die Schaltstelle bei der Einführung und Umsetzung des Konzepts sind vielmehr die Einrichtungs- und Pflegedienstleitung. Sie müssen es wollen.
Zur Person:
Dr. rer. medic Stephan Kostrzewa ist Diplom-Sozialwissenschaftler, examinierter Altenpfleger, Fachpfleger Palliative Care sowie Fachbuchautor. Kostrzewa ist als Inhaber des „Instituts für palliative und gerontopsychiatrische Interventionen“ zudem in der Fort- und Weiterbildung tätig.
Fachliteratur zum Thema:
Kostrzewa, S. (2023). Therapeutisches Gammeln für Menschen mit Demenz, GRIN Verlag, München.
Kostrzewa, S. (2023). Palliative Pflege von Menschen mit Demenz, Hogrefe, Göttingen.
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