Ernährungswende häppchenweise
Von der aktuellen Strategie der Bundesregierung für gesünderes Essen ist auf der Grünen Woche wenig zu spüren. Dafür präsentiert sich das Land Berlin als Vorreiter bei diesem Thema.
Der Minister kann an diesem Freitagvormittag bereits auf einen beachtlichen Streifzug zurückblicken. Es ist der 19. Januar und seit morgens um acht ist er durch Messehallen geeilt,hat holländischen Käse, marokkanische Plätzchen und polnische Pilze probiert, konnte Kaffee kosten, Weißwein testen, Birkenwasser beurteilen. Hektik, Häppchen, Händeschütteln; Eröffnungstag der Grünen Woche in Berlin. Jetzt steht er in einem gelben Container, vor dessen großzügig verglaster Fassade sich drei Dutzend Fotografen drängeln, um im Sekundentakt Bilder durch die Fenster zu schießen.
Für gesundes Essen werben
Drinnen streift sich der Minister eine weiße Jacke über und beginnt damit, Teigklumpen auszurollen. Draußen klicken die Kameras. Während Politik und Presse schöne Bilder produzieren, schlendern zwei junge Frauen im Dirndl vorbei, stoppen und beobachten das Schauspiel. „Was soll daran jetzt besonders sein?“, fragt eine der Trachtenträgerinnen sichtlich erstaunt und zeigt auf den Mann im Container. Der formt gerade seine Teigrolle zur Brezel. „Das ist doch der Cem“, antwortet die Angesprochene. Ihre Begleiterin zuckt mit den Schultern. Offenbar kennt sie den Mann nicht.
Cem Özdemir, in der Bundesregierung zuständig für Ernährung und Landwirtschaft, hat an diesem Tag andere Probleme. Vor dem Messegelände am Funkturm protestieren Landwirte gegen höhere Steuern auf Agrardiesel und auf dem Ausstellungsgelände geht es ebenfalls um die Wurst: Dort demonstrieren Nürnberger, Thüringer, Wiener und Krakauer die Macht der Karnivoren, die ihre Kochstuben nicht kampflos den Pflanzenessern überlassen wollen. Seit fast einhundert Jahren ist die Grüne Woche auch ein Fest der Völlerei. Ausgerechnet auf diesem Terrain will der Vegetarier Özdemir für gesundes Essen werben.
Mehr als jeder Zehnte leidet unter Diabetes
Wenige Tage zuvor hatte die Bundesregierung eine Ernährungsstrategie beschlossen. So sollen unter anderem Qualitätsstandards ein reichhaltigeres Angebot an pflanzenbasierten Mahlzeiten in Schulen, Kitas, Krankenhäusern und Kantinen garantieren. Hintergrund: Mehr als jeder zehnte Mensch leidet hierzulande unter Diabetes, ungesunde Ernährung soll rund 14 Prozent aller Todesfälle verursachen. Die Vorstandschefin des AOK-Bundesverbandes, Carola Reimann, warnte kürzlich, dass der Zucker- und Fleischkonsum in Deutschland die empfohlenen Mengen deutlich übersteige. Diese Fehlernährung stelle die sozialen Sicherungssysteme vor große und vor allem vermeidbare Herausforderungen. Reimann erkennt in der Strategie „gute Ansätze“, kritisiert aber, dass das Papier „an vielen Stellen schwammig“ sei. Auf der Grünen Woche ist das Thema „Gute Ernährung“ einer von fünf Schwerpunkten des Ernährungsministeriums. Wie also präsentiert die Politik ihre geplante Ernährungswende während einer der weltweit wichtigsten Agrarmessen?
In der Schaubackstube der Deutschen Innungsbäcker hat Özdemir das Salzgebäck mittlerweile vollendet. Jetzt muss er weiter. Sein nächstes Ziel: Der Gemeinschaftsstand der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) und des Lebensmittelverbands Deutschland. Beiden Lobbyorganisationen schmeckt die Ernährungsstrategie der Bundesregierung naturgemäß maximal mittelprächtig. Weder einzelne Lebensmittel noch „damit verbundene Lebenswirklichkeiten“ dürften diskreditiert werden, heißt es aus dem Lebensmittelverband. Man fordere „Realitätschecks und Folgenabschätzungen für alle Maßnahmen“, einfache Lösungen für komplexe Sachverhalte seien „nicht zielführend“. Und der BVE warnt: „Ob allen Unternehmen die Transformation gelingt, ist offen.“ Für ihren Messeauftritt haben sich beide Verbände unter anderem mit Marken wie Mars, Milka, McDonalds und Coca Cola zusammengetan.
Lernen, woher Lebensmittel kommen
Für den Bundesernährungsminister haben sie ein Alternativprogramm vorbereitet. Ein Starkoch zelebriert eine Pasta mit Gemüsebolognese und Özdemir sagt: „Das machen wir jetzt überall in Deutschland, in jeder Schule, damit die Kinder kochen lernen und wissen, woher die Lebensmittel kommen.“ Der Verbandschef sagt: „Wir haben eine Neuheit, Sie werden überrascht sein.“
Die Neuheit ist ein veganer Döner am Drehspieß. Özdemir wirkt wenig überrascht. Aus „entwaldungsfreiem Soja“, legt der Verbandschef nach. Kurz darauf verschwinden Özdemir, seine Entourage und die Journalisten durch einen Seitenausgang, quetschen sich in Busse, die einige hundert Meter fahren, um kurz darauf vor der nächsten Messhalle zu parken. Mehr als vier Stunden geht das so: Rein in die Halle, warme Worte, Gruppenfoto, raus aus der Halle, Shuttleservice, rein in die nächste Halle. Immer dabei: Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner und der Präsident des Deutschen Bauernverbands, Joachim Rukwied. Wegner betont fast an jedem Stand, dass „wir auch in Berlin eine Landwirtschaft haben.“ Irgendwann erreicht der Tross die Ausstellungsfläche des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft.
Hier ist es vergleichsweise ruhig. Das Bundessortenamt präsentiert Kartoffelsorten, die Bundesanstalt für Ernährung und Landwirtschaft beantwortet unter anderem die Fragen: „Was ist an Obst und Gemüse so gesund?“ und: „Wie viel Erdbeere steckt in einem Erdbeereis?“ Erstens: Aufgrund von Vitaminen und Mineralstoffen. Zweitens: Mindestens 20 Prozent. Eine freundliche Mitarbeiterin schüttelt den Kopf auf die Frage, ob es schon weitergehende Informationen zur Ernährungsstrategie gibt. „Aber Sie können ein Stück Schokolade bekommen.“
Hebel zu Ernährungswende vergrößern
Nebenan, in der Hauptstadt-Halle, ist der Trubel größer. „Berlin ist Biohauptstadt“, behauptet Berlins Regierender. Schon 2020 hat das Land eine eigene Ernährungsstrategie verabschiedet. Wie die konkret funktioniert, erfahren Besucher an den Messeständen. In Berlin gibt es einen Ernährungsrat, Ernährungsbotschafterinnen, Ernährungslotsen und eine Ernährungswende im Kleingarten. „Da können sich andere Städte noch ein bisschen was abschauen“, gibt sich Wegner selbstbewusst, verweist aber auch auf die Kooperation mit Özdemirs Ministerium. Die Zusammenarbeit sei „ganz großartig“ und „der Hebel“ zu einer Ernährungswende werde größer, „wenn Bund und Länder zusammenarbeiten.“
Am Ende des Eröffnungsrundgangs landen die beiden Politiker wieder bei den Bäckern. Auf einer Bühne steht die Innungschefin. Hinter ihr steht: „Berlin isst gut und gesund.“ Sie bittet Kai Wegner aufs Podium. Nach einem halben Tag Fußmarsch durch die Messehallen verleihen ihm die Berliner Bäcker die „Goldene Brezel". „In Anerkennung seiner Verdienste um das Berliner Bäckerhandwerk“, heißt es in der Laudatio. Cem Özdemir sagt zum Abschluss: „Ich möchte etwas vom Spirit der Grünen Woche in den Alltag tragen.“ Es gebe ja gerade spannende Diskussionen in der Politik. Dann fügt er hinzu: „Mehr will ich aus aktuellem Anlass zu dem Thema nichts sagen.“
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