Lärm geht auf Herz und Ohren
Laute Musik oder dröhnende Motoren schädigen nicht nur das Gehör. Lärm kann auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Depressionen verursachen. Der Psychoakustiker André Fiebig erforscht, wie sich verhaltensbedingte Geräusche mindern lassen.
Herr Professor Fiebig, was genau ist unter Psychoakustik zu verstehen?
Prof. Dr. André Fiebig: Psychoakustik ist die Lehre von den funktionalen Zusammenhängen zwischen den akustischen Reizen und den durch sie hervorgerufenen Empfindungen. Wir entwickeln mathematische Modelle, um bei einer gegebenen physikalischen Reizstärke vorhersagen zu können, wie die menschliche Wahrnehmung ausfällt.
Wie individuell ist diese Wahrnehmung?
Fiebig: Bei den sensorischen Eindrücken sind die individuellen Unterschiede nicht so groß, wie man vielleicht denken könnte. Aber wenn es darum geht, das Gehörte, die Empfindung einzuordnen, zu interpretieren, spielen Erfahrung, kultureller Hintergrund und viele verschiedene Dinge mit hinein, die dann die Reaktion beim Menschen beeinflussen.
Wie wird Lärm definiert?
Fiebig: Lärm ist definiert als unerwünschter Hörschall. Lärm ist nicht per se ein lautes Geräusch, sondern etwas, was stört. Das kann auch ein leiseres Geräusch sein. Ob mich ein Geräusch beeinträchtigt, ist stark an den Kontext geknüpft. In der Nacht oder am Arbeitsplatz fühlen wir uns anders gestört, als wenn wir uns in der Freizeit bewegen. Auch der kulturelle Hintergrund ist eine Komponente, die letztendlich die Reaktion auf ein Geräusch moderiert. Die Tatsache, dass in manchen Kulturen möglicherweise die Lärmtoleranz höher ist, heißt nicht, dass es nicht entsprechende Lärmwirkungen gibt, also gesundheitliche Beeinträchtigungen. Diese können sich unabhängig davon einstellen, ob man ein Geräusch als angenehm und akzeptabel oder als störend empfindet.
Welche Rolle spielt der Schalldruck?
Fiebig: Die Reaktion auf ein Geräusch ist auch ein Stück weit am Schaltdruckpegel orientiert. Das heißt, ein unerwünschtes Geräusch wird noch unerwünschter, wenn es lauter wird. Beispielsweise beim Fluglärm ist der Zusammenhang zwischen dem Schalldruckpegel und der Belästigung gekoppelt. Wir können aber nicht generell sagen, dass der Schalldruckpegel ein gutes Maß ist, die Belästigung vorherzusagen. Das hängt immer von der Art des Geräuschs ab: Sitzen wir in einem Konzert, vor dem Fernseher oder Radio, ist ein höherer Pegel mitunter völlig in Ordnung. Wir gehen davon aus, dass 30 bis 40 Prozent der Belästigungsreaktionen durch den Schalldruckpegel erklärt werden können.
Welche Gesundheitsschäden kann der Lärm verursachen?
Fiebig: Unser Gehör leidet, wenn wir dauerhaft sehr hohen Geräuschpegeln ausgesetzt sind. Die Sinneszellen werden geschädigt, wenn sie keine Zeit mehr haben, sich zu erholen. Da sind Stoffwechselprozesse betroffen, sodass die Haarzellen im Innenohr irgendwann mechanisch abbrechen. Das ist losgelöst davon, ob jemand das Geräusch angenehm findet oder nicht. Wir kennen das vom Arbeitsplatz: Lärmschwerhörigkeit ist nach wie vor die Berufskrankheit Nummer eins. Auch wenn wir dauerhaft laut Musik konsumieren, hat das eine negative Auswirkung aufs Gehör.
Welche Lärmwirkung gibt es darüber hinaus?
Fiebig: Lärm kann Herz- und Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, Stoffwechsel-Veränderungen bis hin zu mentalen Erkrankungen verursachen. Das Depressions-Risiko steigt, wenn man dauerhaft zum Beispiel Verkehrslärm ausgesetzt ist. Wir sehen also verschiedene Auswirkungen auf die allgemeine Gesundheit, denen wir uns nicht bewusst sein müssen. Nehmen wir zum Beispiel die Schlafqualität. Menschen wohnen an einer stark befahrenen Straße und sagen, dass die nächtlichen Geräusche sie nicht stören. Doch der Körper reagiert immer auf Lärm. Diese autonome Reaktion können wir nicht unterbinden, weil unsere Ohren dauerhaft geöffnet sind. Wenn wir schlafen und im Hintergrund Geräusche sind, reagiert der Körper darauf, schüttet Hormone aus. Dieser Dauerstress ist kritisch für die Gesundheit.
Gibt es zur Häufigkeit lärmbedingter Gesundheitsschäden epidemiologische Daten?
Fiebig: Wir können das statistisch anhand einer größeren Anzahl von Menschen, die Lärm ausgesetzt sind, schätzen. Beispielsweise beim Herzinfarkt sind ein paar tausend Fälle im Jahr dem Lärm zuzuordnen. Das ist eine Schätzung, die man nicht einfach belegen kann. Hingegen lässt sich viel einfacher belegen, dass sich 75 Prozent der Bevölkerung in Deutschland durch Straßenverkehrslärm gestört fühlen. Darüber hinaus können wir sagen, dass mehrere Millionen Menschen gesundheitsschädlichem Lärm ausgesetzt sind. Diese Menschen erleben in ihrer Wohnung Verkehrslärm, der auf Dauer krank macht.
„Mehrere Millionen Menschen in Deutschland sind gesundheitsschädlichem Lärm ausgesetzt. Diese Menschen erleben in ihrer Wohnung Verkehrslärm, der auf Dauer krank macht.“
Gastprofessor Psychoakustik an der Technischen Universität Berlin
Welche Lärmquellen spielen im Alltag der Menschen die größte Rolle?
Fiebig: Der Straßenverkehrslärm ist am stärksten präsent. Beim Schienenverkehr und beim Flugverkehr sind weniger Menschen betroffen. Aber diejenigen, die ihm ausgesetzt sind, leiden häufig stark. Gerade Fluglärm erleben Menschen als stärker belästigend als beispielsweise Straßenverkehrslärm. Neben diesen klassischen Lärmquellen hat der Nachbarschaftslärm eine große Bedeutung. Mehr und mehr Menschen fühlen sich durch den Lärm aus der Nachbarschaft belästigt. Hinter dem Straßenverkehrslärm rangiert der Nachbarschaftslärm in der Reihenfolge der Belästigungen.
Warum nimmt die Belästigung durch Nachbarschaftslärm zu?
Fiebig: Vermutlich sind verschiedene Faktoren dafür verantwortlich, beispielsweise die sinkende Lärmtoleranz und auch die heutigen Verhaltensweisen. Mehr Menschen arbeiten im Homeoffice, halten sich deshalb lange in der Wohnung auf. Auch durch den Aufenthalt im Freien entstehen Lärmkonflikte. Deutschland steht im europäischen Vergleich an zweiter Stelle, wenn es darum geht, Nachbarschaftslärm als Mangel im Wohnumfeld zu empfinden.
Sie versuchen, die Verursacher von Lärm zu erreichen. Wie gehen Sie vor?
Fiebig: In qualitativen Interviews haben wir erfragt, in welchen Situationen Geräusche erzeugt werden. Bisher gibt es wenige Studien dazu, wie wir unser eigenes Verhalten reflektieren, ob uns bewusst ist, dass wir mit unserem Verhalten vielleicht Geräusche erzeugen, die andere Menschen stören können. Fast alle Menschen denken, dass nur die anderen den Lärm machen. Uns fehlt also ein Stück weit das Bewusstsein dafür, dass wir auch ein Teil des Problems und nicht nur betroffen sind. Nehmen wir den motorisierten Individualverkehr: Wenn ich im Auto unterwegs bin, trage ich zu einer Geräuschentwicklung bei, die andere Menschen stört. Viele Lärmkonflikte sind verhaltensbedingt – wenn beispielsweise so laut Musik gehört wird, dass der Nachbar sich gestört fühlt. Manche Menschen haben ein höheres Problembewusstsein, erkennen Lärm als wichtiges Thema an, haben sich mehr mit dem Thema auseinandergesetzt und zeigen dann eine größere Rücksichtnahme.
Wie ließen sich der Straßenverkehrslärm und der Nachbarschaftslärm vermindern?
Fiebig: In unseren Projekten ging es um freiwillige Verhaltensänderungen. Wir gehen davon aus, dass die Stärkung des Problembewusstseins hilft. Das könnte beispielsweise in Fahrschulen vermittelt werden. In Berlin wurde ein Lärmblitzer eingesetzt und Tausende von besonders lauten Ereignissen gemessen. Wenn diese lauten Ereignisse gar nicht erst aufträten, würde das die Lärmbelästigung durch Straßenverkehr erheblich mindern. Lärmblitzer könnten also helfen, das Lärmbewusstsein zu erhöhen. Außerdem könnte der Staat lärmarme Produkte fördern. Bei der Benutzung von Werkzeugen, von Gartengeräten oder ähnlichem entstehen viele Lärmkonflikte.
Ich vermute, dass Menschen manchmal auch Freude am Lärmen haben und dadurch Konflikte hervorrufen.
Fiebig: Ja, es kann faszinierend sein, laute Geräusche zu erleben. Ich denke dabei an Musikkonzerte. Auch wenn man mit seinem eigenen Instrument in der Wohnung über einen längeren Zeitraum laut musiziert, empfindet man das selber vielleicht als sehr angenehm, aber die Nachbarn können sich gestört fühlen. Dafür kann man Menschen sensibilisieren. Doch nicht jeder wird sein Verhalten verändern. Vielen ist schon bewusst, dass die Abwesenheit von Lärm die Lebensqualität erhöht. Und daher nimmt die Toleranz dem Lärm gegenüber auch ab. Der Staubsauger, das eigene Fahrzeug, der Rasenmäher, sollen heutzutage längst nicht mehr so laut sein, wie wir das vor 20, 30 Jahren akzeptiert haben. Aber es wird lange dauern, bis wir freiwillige Verhaltensänderungen erreichen, und das auch nicht bei allen gleichermaßen. Doch es gibt gesetzliche Regelungen. Wenn jemand sein Fahrzeug so manipuliert, dass es lauter ist als technisch notwendig, ist das ein Gesetzesverstoß, der sanktioniert werden muss.
Was bringen zum Beispiel Tempo-30-Zonen in der Innenstadt?
Fiebig: Es würde sich positiv auswirken, wenn wir in der Stadt Tempo 30 zur Regelgeschwindigkeit machen würden. Es gibt auch viele Möglichkeiten, verkehrsarme Bereiche in der Stadt zu schaffen. Laute Fahrzeuge könnte man anders besteuern: Wer unbedingt mit seinem lauten Motorrad unterwegs sein will, muss entsprechend zur Kasse gebeten werden, denn Lärm verursacht Gesundheitskosten. Wenn man das den Geräuschverursachern anlastet, wird es gegebenenfalls unattraktiv, sich laute Fahrzeuge zu kaufen. Ein weiterer Punkt, der mir am Herzen liegt, ist die Schaffung von ruhigen Gebieten nach der Umgebungslärmrichtlinie. In Europa ist es verpflichtend für größere Städte, ruhige Gebiete zu identifizieren und vor Lärm zu bewahren. Denn es hat sich gezeigt, dass Menschen sich weniger belästigt fühlen, wenn sie wissen, dass sie bei Bedarf in einen nahegelegenen Park ausweichen können.
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