„Ich wünsche mir eine möglichst analoge Kindheit für Heranwachsende“
Immer früher greifen Kinder zum Smartphone und sind auf Instagram, TikTok und Co. unterwegs. Doch die übermäßige Nutzung Sozialer Medien kann das kindliche Gehirn überfordern und krank machen. Ob ein Verbot von Online-Plattformen für unter 16-Jährige nach australischem Vorbild Sinn macht, ist umstritten. Der Psychologe Christian Montag ordnet im Interview ein, welche Schritte für einen verantwortungsbewussteren Umgang mit digitalen Medien von Seiten der Familie, aber auch der Politik und Gesellschaft notwendig sind.
Was geht im kindlichen oder jugendlichen Gehirn bei der Nutzung von Social Media vor sich?
Prof. Dr. Christian Montag: Leider ist das, was wir neurobiologisch in diesem Forschungsbereich wissen, noch sehr spärlich. Es gibt verschiedene Studien, die zeigen, dass Likes das Belohnungszentrum im Gehirn stimulieren. Zusätzlich weist eine weitere Studie darauf hin, dass jugendliche Vielnutzerinnen und -nutzer der Sozialen Medien über die Zeit sensitiver auf soziales Feedback reagieren. Grundsätzlich brauchen wir aber noch deutlich mehr neurowissenschaftliche Studien zu diesem Thema. Besonders überraschend ist, dass die Forschungslage so spärlich ist, wenn man die medizinische Alltagssprache in diesem Bereich genauer betrachtet. Denn hier wird von Dopamin-Triggern oder auch schnell von Sucht gesprochen.
Was ist an der Nutzung von Social Media anders als am „normalen Surfen“?
Montag: Das kommt ein wenig auf die Art und Weise der Nutzung an. Wird Social Media passiv genutzt, im Sinne von „Ich lasse mich auf Plattformen berieseln“, kann das zu einem sozialen Aufwärtsvergleich führen. Wenn ich ständig mit geschönten Lebenswelten konfrontiert werde, kann mich das neidisch und unzufrieden machen. Das gilt aber nicht nur für Jugendliche, sondern auch für Erwachsene. Außerdem nutzen die sozialen Medien „soziales“ Feedback. Das heißt: „Likes“ sind heutzutage eine Währung für Jugendliche, um sich in ihrer eigenen sozialen Gruppe, ihrer Peer-Group, zu verorten.
Warum sind junge Menschen als Nutzerinnen und Nutzer von Social Media besonders anfällig, suchtähnliche Nutzungsmuster zu entwickeln?
Montag: Eine gängige Hypothese lautet, dass der präfrontale Kortex noch „reifen“ muss, bevor Menschen gute Selbstregulationsfähigkeiten aufweisen können. Konkreter meine ich damit, dass Kinder und Jugendliche emotionalere Wesen als Erwachsene sind. Sie können sich schlechter selbst regulieren und reagieren deshalb stärker auf Versuchungen. In diesem Fall sind das Apps auf dem Smartphone. Aber wie gesagt, die neurobiologische Evidenz ist in der Erforschung von Social Media noch recht dünn.
Welche Symptome treten nach der Nutzung von Social Media bei jungen Menschen am häufigsten auf?
Montag: Es wird schnell über eine suchtähnliche Nutzung von Social Media diskutiert, die bei manchen exzessiven Nutzerinnen und Nutzern möglicherweise existiert. Richtig ist aber auch, dass Sucht im Bereich Social Media aktuell nicht offiziell von der Weltgesundheitsbehörde anerkannt wird. Wir diskutieren in diesem Zusammenhang Symptome wie Kontrollverlust und Priorisierung von Social Media über wichtigen anderen Dingen im Leben. Aber auch darüber, dass Nutzerinnen und Nutzer immer weitermachen, obwohl schon Probleme bestehen. Ein Beispiel hierfür wäre, wenn jemand bis tief in die Nacht in den Sozialen Medien unterwegs ist und dann die Klausur am nächsten Tag verschläft. Die Symptome sind übrigens der Diagnose „Gaming Disorder“ entlehnt – der problematischen Nutzung von Computerspielen. Die ist offiziell anerkannt. Um Alltagshandlungen nicht krankhaft zu bewerten, also nicht zu pathologisieren, ist es wichtig, dass wir beobachten, ob Nutzerinnen und Nutzer wirklich funktionell beeinträchtigt sind. Da müssen wir genau hinschauen, ob ein bestimmter Schweregrad von problematischem Verhalten vorhanden ist. Sonst werden Alltagshandlungen möglicherweise zu schnell pathologisiert. Klar ist aber, dass die sozialen Medien Druck auslösen können – auch jenseits einer Suchtdiagnose. Auch das sogenannte Cyberbullying in Form von Beleidigungen, Bedrohungen und Belästigungen ist ein Problem, das in den Sozialen Medien zu beobachten ist.
„Die aktuellen Alterschecks fallen leider dürftig aus.“
Professor für Molekulare Psychologie an der Universität Ulm
In welchem Alter sollten Kinder frühestens ein Smartphone bekommen?
Montag: Wir wissen, dass besonders jüngere Menschen Smartphones und Social Media exzessiver oder suchtähnlicher nutzen. Vor diesem Hintergrund müssen wir hier besonders vorsichtig sein. Ich plädiere dafür, dass Kinder im Grundschulalter noch kein eigenes Smartphone haben. Die sozialen Medien sind aktuell sowieso erst ab 13 Jahren erlaubt und sollten auch nicht früher genutzt werden. Diese Altersangabe geht meines Erachtens auf den „Children‘s Online Privacy Protection Act“ in den USA zurück. Dieser kommt aus einer Zeit, in denen es die Sozialen Medien wie heute noch gar nicht gab. Ob ein Alter von 13 Jahren ein zu junges Alter darstellt, muss die Forschung noch beantworten. Die aktuellen Alterschecks fallen leider dürftig aus. Grundsätzlich gilt auch hier: Es gibt bis jetzt kaum aussagekräftige Studien, die eine ganz genaue Altersangabe untermauern könnten. Kinder und Jugendliche entwickeln sich unterschiedlich schnell. Ich wünsche mir eine möglichst analoge Kindheit für die Heranwachsenden, in der Entwicklungsaufgaben erfolgreich gemeistert werden können. Dazu gehören ausreichend Lern- und Spielzeit – und die Spielzeit auch gerne draußen im Grünen.
Und wie sieht es in Schulen mit der Nutzung von digitalen Geräten aus – zu Lernzwecken?
Montag: Lassen sich Lerninhalte digital gut vermitteln, dann ist es natürlich sinnvoll, wenn Schulen über eigene Endgeräte verfügen. In Familien hilft es, ein Gemeinschaftstablet zu haben, was sich die Kinder unter Aufsicht ausleihen dürfen. In unserem aktuellen Buch „Das Digital Dilemma“ plädieren meine Kollegen und ich für eine „digitale Schuluniform“, die über Smartphone-Verbote hinausgeht und die Frage nach einem vernünftigen Digitalisierungskanon für den Schulunterricht in den Mittelpunkt rückt. Jenseits dessen halten wir es für sinnvoll, dass alle Schülerinnen und Schüler einen qualitativ gleichguten Zugang zu Onlinemedien bekommen – aber nur wenn dies evidenz-basiert das Erreichen des Lernziels verbessert.
„Ein Geschäftsmodell, das damit arbeitet, Onlinezeiten zu verlängern, kann logischerweise nicht zu gesünderen Onlinezeiten (…) führen.“
Professor für Molekulare Psychologie an der Universität Ulm
Welche Handlungsempfehlungen geben Sie Eltern, aber auch Ärzten, Forschern und der Politik mit an die Hand?
Montag: Kinder sollten von den sozialen Medien ferngehalten werden. Bevor der erste Account im Jugendalter eingerichtet wird, legen am besten die Erziehungsberechtigten auf der gewünschten Plattform ein Konto an. So lässt sich mit dem Nachwuchs zusammen ein Verständnis erarbeiten. Gut ist auch, auf eine strukturierte Nutzung zu achten. Das heißt: Muss Social Media unbedingt auf dem Smartphone laufen und damit überall verfügbar sein, oder reicht die Nutzung über den Laptop aus? Eltern sollten offen und hellhörig sein, gerade dann, wenn Jugendliche von Negativerlebnissen auf Plattformen berichten. Wenn wir das Ganze auf eine Gesellschaftsebene heben, dann plädiere ich für ein Überdenken des Datengeschäftsmodells. Denn ein Geschäftsmodell, das damit arbeitet, Onlinezeiten zu verlängern, kann logischerweise nicht zu gesünderen Onlinezeiten bei Heranwachsenden führen.
Prof. Dr. Christian Montag führt zurzeit eine anonyme Studie über digitales Wohlbefinden in einem digitalen Zeitalter durch. Dafür werden Teilnehmende gesucht, die bereit sind einen Onlinefragenbogen (unvergütet) auszufüllen. Viele Teilnehmende erlauben es, den Themenkomplex digitales Wohlbefinden besser zu verstehen.
Mehr Infos hier: http://digital-well-being.de
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