Artikel Prävention

Abhängig in Deutschland: Sucht ist kein Schicksal

10.09.2024 Maria Sinjakowa 6 Min. Lesedauer

In Deutschland konsumieren Millionen Menschen riskante Mengen an Alkohol, Tabak, Medikamenten oder Drogen, viele sind abhängig. Besonders in Gesundheitsberufen ist das Risiko hoch, da der Zugang zu suchterzeugenden Substanzen einfach ist und die Arbeitsbelastung enorm. Sucht führt zu erheblichen gesundheitlichen Schäden und hohen volkswirtschaftlichen Kosten. Prävention und gezielte Unterstützung sind entscheidend, um die Suchtproblematik einzudämmen und Betroffenen zu helfen.

Foto: Eine Hand hält ein halb gefülltes Bierglas und hält eine Zigarette, daneben steht ein Aschenbecher.
In Deutschland sind rund sieben Millionen Erwachsene abhängig – die meisten von Tabak und Alkohol.

Jeder Mensch hat etwas, wovon er nicht genug kriegt. Wer aber die Kontrolle verliert und nicht mehr aufhören kann, etwas zu tun, kann eine Abhängigkeitsstörung entwickeln. In Deutschland sind rund sieben Millionen Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren abhängig – die meisten von Tabak und Alkohol (4,4 Millionen und 1,6 Millionen). Bei 2,9 Millionen Menschen liegt ein problematischer Medikamentenkonsum vor. Das betrifft vor allem Beruhigungs- oder Schlafmittel sowie opioidhaltige Schmerzmittel. 309 000 sind abhängig von Cannabis und genauso viele konsumieren gefährliche Mengen davon. Darüber hinaus leiden rund 1,3 Millionen Menschen an einer sogenannten Glücksspielstörung, weitere 3,3 Millionen zeigen ein riskantes Glücksspielverhalten mit ersten Anzeichen für eine Sucht.

Warum werden Menschen abhängig?

Können Menschen ihren Konsum nicht mehr kontrollieren, rauchen, trinken oder spielen sie weiter, obwohl sie wissen, dass es ihnen schadet. Der Grund dafür ist der Botenstoff Dopamin, über den die meisten Suchtmittel auf das Belohnungssystem im menschlichen Gehirn wirken. Diese Hirnregion wird aktiv, wenn sich etwas gut anfühlt, etwa zärtliche Berührungen, Sport oder leckeres Essen. Alles, was das Belohnungssystem aktiviert, möchte das Gehirn wiederholen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Suchtmittel die Dopaminproduktion viel stärker anregen als andere Reize. Das führt dazu, dass nicht nur der Konsum selbst, sondern alles, was damit verbunden ist, also Flaschen, Zigarettenpackungen, Apothekenschränke, positiv abgespeichert wird und das Verlangen nach dem Suchtmittel auslöst. Das Belohnungssystem gewöhnt sich an den Dopamin-Kick und braucht immer mehr, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Diesen Drang kann nur der präfrontale Cortex, das Stirnhirn, steuern. Hier finden die Einordnung und Kontrolle diverser Prozesse im Gehirn statt. Er mahnt etwa zur Vernunft, bevor sich Feiernde nach einem feuchtfröhlichen Abend ans Steuer setzen wollen. Je häufiger jemand allerdings dem Drang nach mehr Dopamin nachgibt, desto mehr verfestigt sich der positive Lerneffekt aus dem Suchtmittelkonsum und desto weniger greift das Stirnhirn ein. Der Mensch verliert die Kontrolle über sein Verhalten.

Welche Folgen hat die Sucht?

Der exzessive Konsum von Suchtmitteln bleibt für die Betroffenen oft nicht ohne gesundheitliche Folgen. Er begünstigt viele Krankheiten wie Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, schädigt das Gehirn, die Organe und das Nervensystem. Und er führt nicht selten zum vorzeitigen Tod. Im Jahr 2019 war Tabakkonsum weltweit für 8,7 Millionen Todesfälle verantwortlich, Alkoholkonsum für 2,4 Millionen und der Konsum illegaler Drogen für 494.000 Todesfälle. Trotzdem gehört der Pro-Kopf-Alkoholkonsum in Deutschland weiterhin zu den höchsten weltweit. Die damit verbundenen volkswirtschaftlichen Kosten sind enorm: Alkoholkonsum verursacht jährlich 57 Milliarden Euro, Tabakkonsum sogar rund 97 Milliarden Euro. Darin enthalten sind sowohl die direkten Kosten wie Ausgaben für die Behandlungen von konsumbedingten Krankheiten und Arzneimitteln sowie indirekte Kosten, die sich aus der Erwerbsunfähigkeit, Frühberentung und Todesfällen ergeben.

Wer ist besonders betroffen?

Warum manche Menschen eine Suchterkrankung entwickeln und andere nicht, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Sicher ist, dass Suchtanfälligkeit viele individuelle Gründe hat. Dazu zählen die Persönlichkeit, das soziale Umfeld, die Biografie, akute Lebenskrisen und eine genetische Veranlagung. Das Risiko steigt, wenn Menschen sich einsam fühlen, nicht gelernt haben, Konflikte zu lösen, überfordert und gestresst sind oder mit ihren schmerzhaften Gefühlen nicht umgehen können. Eine weitere Annahme besagt, dass Menschen zu Suchtmitteln greifen, um ihre eigenen Leiden zu behandeln. So ist bekannt, dass Alkohol angstlösend und dämpfend wirkt. Zum Alkohol neigen gerade Menschen mit sozialen Ängsten, die sich in Gesellschaft anderer unwohl fühlen, oder solche, die Gefühlskrisen durchleben. Nikotin hat eine beruhigende Wirkung und lindert akuten Stress. Und Menschen mit Antriebsproblemen wie etwa bei Depressionen oder Burnout nutzen Stimulanzien, um sich lebhafter zu fühlen.

Warum Suchtverhalten in der Pflege besonderer Aufmerksamkeit bedarf?

Sucht betrifft Menschen aus allen Berufsgruppen. Pflegekräfte sind jedoch einem erhöhten Suchtrisiko ausgesetzt. Der einfache Zugang zu Schmerzmitteln wie Opioiden und Amphetaminen erhöht die Gefahr des Missbrauchs, der gerade bei Medikamenten oft unbemerkt bleibt. Hinzu kommen hohe Arbeitsbelastung, Schichtarbeit, die den Schlafrhythmus stört, sich auf psychische Gesundheit und soziales Leben auswirkt, sowie Frustration im Job. All das macht Menschen in Pflegeberufen besonders anfällig für Abhängigkeiten.

Zwar ist das Thema noch wenig erforscht. Es gibt aber einige Studien, die die Situation in der Pflege beleuchten. Im Rahmen einer Online-Befragung der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg, an der 2020 rund 1.000 Pflegekräfte aus Deutschland und Österreich teilnahmen, gaben knapp 60 Prozent der befragten deutschen Pflegenden an, Kenntnis von Kolleginnen und Kollegen mit suchtmittelbasiertem Verhalten zu haben. Fast neun von zehn Befragten wussten von mindestens einem Team-Mitglied mit einem Suchtproblem. Im Mittel gaben die deutschen Pflegekräfte fast vier von Sucht betroffene Fälle im Kollegenkreis an. Die Autoren schlussfolgern zwar, dass sich die Situation in der Pflege weniger dramatisch darstelle, als viele vermuten. Sie betonen jedoch, dass Pflegepersonal, das unter dem Einfluss von Alkohol oder Medikamenten steht, nicht nur sich selbst schadet, sondern auch ein unnötiges Risiko für Pflegebedürftige sowie Patientinnen und Patienten birgt.

Was lässt sich gegen Abhängigkeit tun?

Sucht ist eine Krankheit, die sich oft schleichend und unbemerkt entwickelt. Selbst Betroffene erkennen die eigene Abhängigkeit meist erst mithilfe von anderen. Für Außenstehende können Änderungen im Verhalten der Betroffenen erste Hinweise für Suchtmittelmissbrauch sein. Dazu zählen Leistungsschwankungen, erhöhte Fehlzeiten am Arbeitsplatz, scheinbare Gleichgültigkeit oder ein verändertes äußeres Erscheinungsbild. Möglichkeiten, sich Unterstützung und Rat zu holen, ohne Angst vor Stigmatisierung haben zu müssen, helfen Menschen, sich zu öffnen.

Solche Möglichkeiten können Unternehmen ihren Beschäftigten im Rahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung schaffen. Krankenkassen und Berufsgenossenschaften unterstützen sie dabei, sichere Anlaufstellen zu etablieren, an die sich Beschäftigte mit Suchtproblemen wenden können, ohne eine Sanktionierung fürchten zu müssen. Dabei ist es wichtig, die Führungskräfte für das Thema zu sensibilisieren – und in größeren Einrichtungen auch betriebliche Suchtbeauftragte als erste Ansprechperson für Führungskräfte und Betroffene zu benennen. Die Suchtbeauftragten und Anlaufstellen begleiten die Betroffenen auf ihrem Weg aus der Abhängigkeit. Sie vermitteln auch Angebote der Beratung, der Rehabilitation und der Wiedereingliederung ins Arbeitsleben für diejenigen, die nicht allein gegen die Sucht ankämpfen können. Laut der Deutschen Suchthilfe haben 2022 insgesamt über 1.000 Suchtkliniken rund 316.000 Menschen ambulant betreut und rund 37.000 stationär behandelt. Das ist jedoch nur ein Bruchteil der Menschen in Deutschland, die Schätzungen zufolge abhängig sind.Zu einer wirksamen Hilfe gehört es, mit dem Thema Sucht offen umzugehen, auffälliges Konsumverhalten zu erkennen und anzusprechen sowie über die Risiken aufzuklären, um Suchtverhalten vorzubeugen.

Foto: Ein Mann in Lederjacke sitzt mit dem Rücken zur Kamera auf einem Gehweg, daneben steht auf einer Mauer "Stop Drugs".
In Deutschland starben 2023 über 2.200 Menschen an einer Drogenüberdosis. Vor allem Crack- und Opioid-Abhängige sind immer öfter im Straßenbild zu sehen. Was kann die Politik tun, um die Drogen- und Suchthilfe in Städten und Gemeinden zu unterstützen?
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Was tut die Politik?

Prävention ist auch eine der vier Säulen der Nationalen Strategie der Drogen- und Suchtpolitik der Bundesregierung. So soll eine umfassende Aufklärung dazu beitragen, dass gesundheitsschädlicher Konsum und Suchtverhalten zurückgehen oder erst gar nicht auftreten. Darüber hinaus will die Politik bestehende Beratungs- und Therapieangebote ausbauen, damit Betroffene die benötigte Unterstützung erhalten. Ein Beratungsangebot ist die Drogen & Sucht Hotline, die telefonische Beratung, Hilfe und Informationen durch erfahrene Fachleute aus der Drogen- und Suchthilfe bietet. Überlebenshilfen und Maßnahmen zur Schadensreduzierung, wie Drogenkonsumräume mit Spritzentausch, sollen dazu beitragen, die gesundheitliche und soziale Stabilität von Suchtkranken zu verbessern. Dies schafft wichtige Voraussetzungen für einen möglichen späteren Ausstieg aus der Sucht. Und schließlich sollen gesetzliche Maßnahmen wie das Jugendschutzgesetz und das Betäubungsmittelrecht das Angebot von Suchtmitteln reduzieren und die Drogenkriminalität eindämmen.

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