Artikel Prävention

Umgang mit Suizid enttabuisieren

27.09.2024 Tina Stähler 3 Min. Lesedauer

Die Suizidrate ist in den letzten fünf Jahren in Deutschland um 14 Prozent gestiegen. Konkret heißt das: Jede Stunde nimmt sich ein Mensch das Leben, alle sechs Minuten findet ein Suizidversuch statt. Eine Nationale Suizidpräventionsstrategie gibt es bereits, Politik und Verbände fordern zusätzlich ein Suizidpräventionsgesetz und mehr regionale Hilfsangebote. Doch auch jeder Einzelne kann aufmerksam sein und bei Verdachtsfällen Hilfe anbieten.

Foto: Die Hand eines Menschen fasst an die Schulter eines anderen.
Freunde oder Familienangehörige sollten keine Scheu haben, genauer nachzufragen, wenn sie Suizidgedanken bei einem nahestehenden Menschen vermuten.

Fast jeder ist schon einmal mit dem Thema Suizid in Berührung gekommen. Ob unmittelbar im Familien- oder Bekanntenkreis oder im entfernteren Umfeld vom Hörensagen. Um jeden dieser toten Menschen trauern Angehörige und Freunde – oftmals mit Schuldgefühlen und der Frage, ob sie nicht etwas hätten bemerken und damit den Suizid verhindern können. Eine der wichtigsten Maßnahmen, um Suizide zu verhindern, sei die „konsequente Behandlung“ der zumeist zugrundeliegenden psychischen Erkrankung, betonte die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention. Suizide erfolgen laut der Stiftung fast immer vor dem Hintergrund einer nicht optimal behandelten psychischen Erkrankung, beispielsweise einer Depression, Schizophrenie, Suchterkrankung oder Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Angehörige sensibilisieren

Ein „wachsames Umfeld“, das bei akuter Gefahr Hilfe organisiere, sowie konkrete Aufklärungsangebote in den jeweiligen Regionen seien wichtige Bausteine der Suizidprävention. Die Stiftung will Angehörige dafür sensibilisieren, Suizidankündigungen immer ernst zu nehmen. Aussagen wie „Es hat alles gar keinen Sinn mehr …“ seien bei depressiven Menschen ein Hinweis auf eine ernste Gefährdung. Freunde oder Familienangehörige sollten keine Scheu haben, genauer nachzufragen und suizidgefährdete Menschen auf ihrem Weg zu professioneller Hilfe zu unterstützen und zu begleiten.

Die Anzeichen für Suizidgedanken können laut Berliner Fachstelle Suizidprävention sehr unterschiedlich sein – oft gebe es nur indirekte Hinweise. Betroffene zögen sich beispielsweise von Familie und Freunden zurück, unterlägen starken Stimmungsschwankungen oder veränderten Ess- und Schlafgewohnheiten.

Viele psychische Erkrankungen gut behandelbar

„Menschen mit Depression haben durch die Erkrankung das Gefühl, dem unerträglichen Zustand nie mehr entkommen zu können. Sie leiden unter quälenden Schuldgefühlen, einer inneren Daueranspannung und Schlaflosigkeit“, machte Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention, gegenüber G+G deutlich.

Die Kombination aus hohem Leidensdruck und völliger Hoffnungslosigkeit führe zu den Gedanken, sich das Leben zu nehmen. Depressionen und auch viele andere psychische Erkrankungen seien aber gut behandelbar, betonte Hegerl. „Wer selbst an Suizid denkt oder gefährdete Menschen kennt, sollte Hilfe holen beim behandelnden Hausarzt oder Psychiater.“ Anlaufstellen könnten auch Psychologische Psychotherapeuten und – bei akuter Lebensgefahr – die nächste psychiatrische Klinik, ein Notarzt oder Krisendienst sein.

„Über Suizid zu reden, ist immer noch ein Tabu. Dabei kann es Leben retten.“

Thomas Gleißner

Leiter der Stabsstelle Kommunikation des Caritasverbandes für das Erzbistum Berlin

Netzwerkstrukturen im ländlichen Raum schaffen

Der Caritasverband für das Erzbistum Berlin setzt sich für eine regional aufgestellte Suizidprävention ein, um Hilfsmöglichkeiten vor Ort bekannter zu machen und vorhandene Hilfsstrukturen miteinander zu vernetzen. „Über Suizid zu reden, ist immer noch ein Tabu. Dabei kann es Leben retten, über Suizidgedanken zu sprechen“, erklärte Thomas Gleißner, Leiter der Stabsstelle Kommunikation, gegenüber G+G.

Durch öffentliche Aktionen und Informationen im Internet könnten viele Gefährdete und Angehörige erreicht werden. Im ländlichen Raum, wie in Teilen Brandenburgs, seien psychosoziale Angebote häufig schwieriger zu erreichen als in einer Großstadt, die über gute Netzwerkstrukturen aus Akteuren der Zivilgesellschaft, der psychosozialen Versorgung und der Verwaltung verfüge. Digitalisierung spiele deshalb eine besondere Rolle. „Insgesamt gilt in Stadt und Land: Suizidgedanken und -absichten müssen entstigmatisiert werden, so dass Betroffene sich nicht scheuen, Hilfsangebote wahrzunehmen oder mit ihren nahen Bezugspersonen zu sprechen.“

Thema Depression im Lehrplan verankern

Deutschlandweit gibt es 90 regionale Bündnisse gegen Depression, die im Netzwerk der Stiftung Deutsche Depressionshilfe vereint sind. In der jeweiligen Stadt oder Gemeinde finden Kooperationen und Schulungen mit Hausärzten, Öffentlichkeitsarbeit in Form von Plakatkampagnen und Veranstaltungen, Schulungen von Multiplikatoren, wie Pfarrern, Lehrkräften und der Polizei, sowie Unterstützung für Betroffene und deren Angehörige statt. Dieser sogenannte Vier-Ebenen-Interventionsansatz ist eines der am häufigsten implementierten Suizidpräventionsprogramme in Deutschland. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention setzt sich außerdem dafür ein, das Thema Depression in den Schullehrplänen zu verankern, um gerade jüngere Menschen für psychische Gesundheit zu sensibilisieren.

Gesetzlichen Rahmen schaffen

Ein breites Bündnis aus Politik und Verbänden hat kürzlich dafür geworben, die Suizidprävention zu stärken und einen verbindlichen gesetzlichen Rahmen zur Verhinderung von Suiziden zu schaffen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte Anfang Mai eine Nationale Suizidpräventionsstrategie vorgestellt – ein Entwurf für das angekündigte Suizidpräventionsgesetz steht aber noch aus.

Im Jahr 2023 nahmen sich nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 10.304 Menschen das Leben. Das waren mehr als dreimal so viele Todesfälle wie beispielsweise in Folge von Verkehrsunfällen. Im Vergleich zum Vorjahr nahm die Zahl der Suizide um 1,8 Prozent zu, gegenüber 2019 betrug der Anstieg 14 Prozent. Bei Kindern und jungen Erwachsenen unter 25 Jahren war Suizid im vergangenen Jahr die häufigste Todesursache, vor Verkehrsunfällen und Krebs.

Anlässlich des Welttages der Suizidprävention morgen fordern Verbände eine Stärkung der Suizidprävention und einen verbindlichen gesetzlichen Rahmen dafür. „Wenn Menschen sagen, dass sie nicht mehr leben wollen, sind wir alle gefordert“, sagte der Präsident der Diakonie Deutschland, Rüdiger Schuch, heute. Das im Sommer 2023 vom Bundestag…
09.09.20243 Min

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