Interview Gesundheitssystem

„Die Koordination der Versorgung ist in Deutschland außerordentlich schlecht“

13.01.2025 Thorsten Severin 5 Min. Lesedauer

Volle Notaufnahmen, überfüllte Facharztpraxen, lange Wartezeiten und unnütze Untersuchungen: Medizinische Leistungen werden in Deutschland weitgehend unstrukturiert in Anspruch genommen. Angesichts der älter werdenden Gesellschaft und des Fachkräftemangels gilt Patientensteuerung als ein Weg zu mehr Effizienz. Welche Modelle sinnvoll sind und was sich nach der Bundestagswahl ändern muss, erläutert Versorgungsforscher Professor Ferdinand Gerlach von der Universität Frankfurt.

Versorgungsforscher Professor Ferdinand Gerlach dargestellt als gezeichnetes Portrait
Versorgungsforscher Professor Ferdinand Gerlach

Herr Professor Gerlach, wie wichtig ist aus Ihrer Sicht eine bessere Steuerung der Patienten?

Prof. Dr. Ferdinand Gerlach: Internationale Vergleichsstudien, zum Beispiel des Commonwealth Funds, zeigen, dass Deutschland bei der Koordination der Versorgung außergewöhnlich schlecht dasteht. Das gilt insbesondere mit Blick auf chronisch Kranke und Mehrfacherkrankte. Die Patienten werden völlig unzureichend vor zu viel und falscher Medizin geschützt. Die vermeintlichen Vorteile der freien Arztwahl verkehren sich hier ins Gegenteil. Beim Thema bedarfsgerechte Steuerung besteht daher ein großer Nachholbedarf. Wir müssen dahin kommen, dass Behandlungen möglichst evidenzbasiert erfolgen und auf den einzelnen Patienten und seine Bedürfnisse ausgerichtet sind. Zurzeit läuft es bei uns nicht selten wild und chaotisch.

Warum hinken wir in diesem Bereich so stark hinterher? 

Gerlach: In der Notfallversorgung haben wir drei Sektoren: den ärztlichen Bereitschaftsdienst, die Notaufnahmen der Krankenhäuser und den Rettungsdienst. Zwischen ihnen gibt es eine völlig unzureichende Koordination. Ähnlich ist es in der Regelversorgung zwischen Haus- und Fachärzten sowie zwischen dem ambulanten und stationären Bereich. Definierte Schnittstellen zwischen den Sektoren gibt es nicht. Wir haben auch bisher keine in Echtzeit synchronisierte elektronische Patientenakte – also eine Plattform, auf der Informationen über Diagnostik und Therapie, Allergien und so weiter zur Verfügung stehen. 

Wo liegen Lösungswege?

Gerlach: Bei der Notfallversorgung brauchen wir zunächst eine einheitliche, digital gestützte Ersteinschätzung per Telefon oder Video zur Steuerung der Patienten in die am besten geeignete Behandlungsebene. Im ambulanten Bereich sehe ich große Chancen in einer durch Generalisten – also Haus- und Kinderärzte – gesteuerten Versorgung. Ein besonders gutes Beispiel ist die Hausarztzentrierte Versorgung (HZV), an der bereits fast zehn Millionen Patienten in Deutschland teilnehmen. Vorbildlich umgesetzt wurde sie in Baden-Württemberg. Dort hat die HZV zusammen mit daran gekoppelten Facharztverträgen zu einer deutlich besseren, koordinierteren und bedarfsgerechten Versorgung geführt, wie Evaluationen eindrucksvoll zeigen. 

Wie kann die Steuerung gelingen?

Gerlach: Am besten durch Anreize. Patienten, die sich für eine Hausarztpraxis entscheiden und Spezialisten nur mit einer qualifizierten Überweisung in Anspruch nehmen, sollten Vorteile haben. Diejenigen, die ohne Überweisung die nächste Versorgungsebene ansteuern, sollten an den daraus entstehenden Mehrkosten beteiligt werden. Der Sachverständigenrat Gesundheit hat dazu unter meiner Leitung schon 2018 Empfehlungen ausgesprochen. Eine Ausnahme könnten Besuche bei Augenärzten und Gynäkologen darstellen. Bei dezidierten gesundheitlichen Fragestellungen sollte für die Inanspruchnahme von Fachspezialisten eine begründete Überweisung notwendig sein.

„Zurzeit läuft es bei uns nicht selten wild und chaotisch.“

Prof. Dr. Ferdinand Gerlach

Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main

Wie sollten die Anreize für Versicherte, sich in Hauarztmodelle einzuschreiben, konkret aussehen?

Gerlach: Da ist vieles denkbar. In Dänemark zum Beispiel ist es so, dass Patienten, die stets zuerst mit ihrer Hausarztpraxis Kontakt aufnehmen, von Zuzahlungen etwa bei Arzneimitteln befreit werden. Sinnvoll wären Hausarzttarife, bei denen eingeschriebene Versicherte einen geringeren Beitrag zahlen. Wenn die tatsächliche Inanspruchnahme dann anders als vereinbart erfolgt, müssen Patienten den Normaltarif beziehungsweise bei ungesteuerten Direktinanspruchnahmen einen Praxiszuschlag bezahlen. Auch bei den Fachärzten selbst könnte eine Steuerung stattfinden, sodass diese kein Interesse mehr an Patienten ohne Überweisung haben. Behandlungen ohne qualifizierte Überweisung durch den Hausarzt werden den Spezialisten dann beispielsweise nur noch mit einem Abschlag bezahlt. Natürlich ist eine Mischung aus verschiedenen Anreizvarianten denkbar.  

Bleibt dabei die freie Arztwahl erhalten, die ja in Deutschand ein hohes Gut darstellt?

Gerlach: Ja, denn jeder hat bei der HZV freien Zugang zu einer Hausarzt- oder Kinderarztpraxis seiner Wahl. Und jeder kann sich jeden Spezialisten aussuchen, wenn eine qualifizierte Überweisung vorliegt. Wir sollten es aber in Zukunft nicht mehr unterstützten, dass Patienten selbst die vermeintlich geeignete Versorgungsebene wählen und zum Beispiel mit unspezifischen Kopfschmerzen direkt in die neurologische Spezialambulanz einer Universitätsklinik gehen. Durch eine qualifizierte Ersteinschätzung im Notfall oder eine gezielte Überweisung durch den Hausarzt werden die Patienten gezielter und besser versorgt. Die Evaluation der HZV in Baden-Württemberg durch die Universitäten Heidelberg und Frankfurt hat zum Beispiel gezeigt, dass es bei Diabetikern zu weniger Herzinfarkten, weniger Schlaganfällen, weniger Amputationen, weniger Erblindungen und weniger Klinikeinweisungen kommt. Zudem ist die Zufriedenheit höher und die Kosten sind geringer. Es entsteht zurzeit ganz viel Schaden dadurch, dass Patienten aus eigenem Antrieb wie Flipperkugeln im System umherirren und zu irgendwelchen Fachspezialisten gehen, die dann überspitzt gesagt ihren Maschinenpark anschmeißen und teils unsinnige und unnötige Untersuchungen und Therapien einleiten.

Eine Praxisgebühr 2.0 kommt für Sie nicht infrage?

Gerlach: Die von 2004 bis 2012 erhobene Praxisgebühr war kompliziert und unbeliebt. Ihre Steuerungswirkung war begrenzt und ging weiter zurück, denn viele Menschen waren von der Gebühr befreit. Sie hielt nicht zuletzt Menschen mit geringem Einkommen von Arztbesuchen ab. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass wir eine aufwandsarme, bargeldlose, digital gestützte Lösung finden. Der eigentliche Anreiz sollte sein, dass die Patienten, die von einer Hausarztpraxis kontinuierlich betreut werden, unter dem Strich eine bessere Versorgung erhalten. 

Sehen Sie nicht die Gefahr, dass Hausärzte zu lange selbst herumdoktern und zu spät an Spezialisten überweisen?

Gerlach: Das ist aus meiner Sicht eher ein Problem aus früheren Zeiten, wo Hausarztpraxen nicht ausgelastet waren und Haus- und Fachärzte im scharfen Wettbewerb zueinander standen. Heute muss man in vielen Regionen fast schon froh sein, überhaupt eine Hausarztpraxis zu finden. Und die Praxen sind in der Regel überlastet und haben kein Interesse daran, Patienten auf Biegen und Brechen zu halten. Außerdem ist es so, dass die Hausärzte und die Spezialisten inzwischen getrennte Budgets haben. Der Deutsche Ärztetag hat sich 2024 mit überwältigender Mehrheit für ein Primärarztmodell und die Stärkung der HZV ausgesprochen, inklusive der Spezialisten. Selbst konservative Ärzteverbände wie der Hartmannbund fordern ein solches System. Nicht zuletzt in der Politik ist die Erkenntnis angekommen, dass eine bedarfsgerechte Steuerung notwendig ist, weil die Koordinationsdefizite so eklatant sind. Das schlägt sich auch in den Wahlprogrammen nieder.

Die Praxen sind ja oft sehr überfüllt und Zeit ist knapp. Können die Ärzte die verantwortungsvolle Rolle des Gatekeepers überhaupt erfüllen?   

Gerlach: Wir müssen flankierend ein paar zentrale Dinge ändern. So haben wir in Deutschland eine viel zu hohe Zahl von Arzt-Patienten-Kontakten pro Jahr. Schätzungen zufolge sind es um die 20 pro Einwohner. Ganz genau weiß man das nicht, weil das nach dem zweiten Kontakt pro Quartal in den Praxen nicht mehr dokumentiert wird, da es nicht mehr abrechnungsrelevant ist. Es wäre sinnvoll, Dinge umzusetzen, die schon im Entwurf des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes standen, nämlich Strukturpauschalen, eine kontaktunabhängige Vergütung, Anreize für die hausarztzentrierte Versorgung und die Überwindung der Quartalslogik. Dadurch würde der Fehlanreiz, Patienten zwei Mal pro Quartal einzubestellen, wegfallen. In Haus- und Facharztpraxen ist es zurzeit am attraktivsten, chronisch Kranke mit wenigen akuten Beschwerden zu kontrollieren. Bei diesen „gesunden Chronikern“ handelt es sich etwa um gut eingestellte Patienten mit Diabetes oder Bluthochdruck. Die Kontrollen zwei Mal im Vierteljahr gehen bei ihnen schnell und verursachen keinen großen Aufwand. Doch diese Patienten verstopfen unnötig die Praxen und führen dazu, dass andere, oft mehrfach oder akut Erkrankte, keine Termine bekommen und nicht ausreichend versorgt werden. Hinzu kommen zeitaufwendige Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) und unsinnige, nicht evidenzbasierte aber unbudgetierte „Vorsorge“-Maßnahmen.

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Wo ist aus Ihrer Sicht eine Entlastung der Ärzte möglich?

Gerlach: Weniger und gezielte, bedarfsgerechte Kontakte sind, wie beschrieben, die erste wichtige Entlastung. In den Praxen sollten zudem mehr Aufgaben an das gesamte Team delegiert und entsprechend honoriert werden können. Wir haben zurzeit das Dogma der persönlichen Leistungserbringung durch den Vertragsarzt. Wenn aber zum Beispiel das Team Routinekontrollen bei chronisch Kranken oder im Rahmen von Disease-Management-Programmen übernimmt, wäre das entlastend. Dazu gehören auch Hausbesuche durch Medizinische Fachangestellte beziehungsweise VERAH. Ganz schwach sind wir darüber hinaus bei der digitalen Transformation. Wir könnten mit Künstlicher Intelligenz, mit digitalen Tools, der sektorenübergreifenden elektronischen Patientenakte, einem elektronischen Impfausweis, der Zusammenführung von Labor- und Bilddaten sowie einem elektronischen Medikationsplan enorm viel Ineffizienz im System überwinden. 

Müssen für eine bessere Steuerung nicht die „sprechende“ und grundversorgende Medizin gestärkt werden?  

Gerlach: Ja, unbedingt. Wir haben in Deutschand  nicht nur eine schlechte Koordination, sondern auch eine Vielzahl von unnötigen diagnostischen Prozeduren. Kurz gesagt: Wir machen ganz viele Untersuchungen, die nicht unbedingt erforderlich und auch nicht sinnvoll sind. Wenn wir da abrüsten und gleichzeitig, durch gezielte Anreize, mehr in zuwendungsorientierte, gesprächsorientierte Medizin investieren, ist das für die Patienten und für alle Beteiligten ein Gewinn. Gespräch, Begleitung, Betreuung kommen in unserem System ganz klar zu kurz.


Bei der Notfallreform war die Ampel-Koalition vor ihrem Zusammenbruch ja schon sehr weit. Wie sollte es nach der Wahl weitergehen?

Gerlach: Im Wesentlichen handelte es sich um Empfehlungen des Sachverständigenrats mit gemeinsamen Leitstellen, einer einheitlichen Ersteinschätzung und Integrierten Notfallzentren (INZ). Der Patient, der die 116 117 oder die 112 wählt, soll eine digial unterstützte qualifizierte Ersteinschätzung erhalten und dann in die am besten geeignete Versorgungsebene gelenkt werden. Je nach Bedarf wird er telemedizinisch beraten, aufgesucht, zum Krankenhaus gebracht, erhält einen Termin beim Haus- oder Facharzt oder bei einem INZ in der nächstgelegenen Klinik. Schon unter der Großen Koalition scheiterte die Umsetzung am Widerstand der Länder. Die Reform stand dann erneut im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition. Das Gesetz wäre wahrscheinlich durchgegangen, wenn das Bündnis nicht zerbrochen wäre. Ich habe aber von verschiedenen Seiten aus CDU, SPD, Grünen und FDP gehört, dass sie das erneute Scheitern bedauern. Die Notfallreform soll nun zu den ersten Gesetzen in der nächsten Legislaturperiode gehören. Es wäre auch Wahnsinn, die zunehmenden Probleme weiter zu ignorieren.

Zur Person

Professor Ferdinand M. Gerlach (Jahrgang 1961) ist seit 2004 Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 2012 bis zu seinem Ausscheiden 2023 war der Mediziner Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und in der Pflege. In das Gremium wurde Gerlach erstmals 2007 berufen. Der mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftler arbeitete in zahlreichen weiteren Experten- und Gutachtergremien mit. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Deutschen Stiftung für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DESAM).

13.01.2025Irja Most6 Min
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