Gefragt ist ein halbwegs stimmiges Gesamtkonzept
In diesem Januar gibt es für viele Menschen in Deutschland ein böses Erwachen, wenn sie ihre Gehaltsabrechnung bekommen. So viel Geld für ihre Krankenkasse haben sie noch nie bezahlt. Gleichzeitig ist auch der Beitrag zur Pflegeversicherung schon wieder gestiegen. Vielleicht ist es ja passend, dass im Februar gewählt wird.
Dass mit Gesundheitspolitik keine Wahlen gewonnen, wohl aber verloren werden können, hat Horst Seehofer gesagt. Er war letzter Gesundheitsminister einer Kohl-Regierung und wusste, wovon er sprach. Den nächsten Gesundheitsminister stellte die Union erst wieder 15 Jahre später. Freilich hatte kurz zuvor auch ihr Koalitionspartner FDP die Wahrheit von Seehofers Aussage schmerzlich erfahren müssen: Nach einer Legislaturperiode Schwarz-Gelb mit den liberalen Gesundheitsministern Rösler und Bahr verpasste die FDP 2013 den Wiedereinzug in den Bundestag. Das konnte auch die Abschaffung der Praxisgebühr nicht mehr verhindern.
Keine zentrale Rolle im Wahlkampf
Offenbar sehen auch die heutigen Wahlkampfstrategen in Gesundheit und Pflege keine Gewinnerthemen, denn im aktuellen Wahlkampf spielen sie keine zentrale Rolle. Auch die Programme der Parteien enthalten wenig Greifbares. So setzt etwa die Union bei der Pflegefinanzierung auf einen Finanzierungsmix aus gesetzlicher Pflegeversicherung, betrieblicher Mitfinanzierung, Steuermitteln sowie einer eigenverantwortlichen Vorsorge, inklusive verbesserter steuerlicher Absetzbarkeit. Doch wie soll dieser Mix konkret aussehen und wem nutzt er? Bezahlbare Pflegezusatzversicherungen, heißt es, könnten die Pflegelücke schließen. Das setzt aber die Kenntnis der Eigenanteile beim Eintritt von Pflegebedürftigkeit voraus, was zurzeit nicht einmal für das Jahresende der Fall ist.
Und die SPD als Partei des noch amtierenden Gesundheitsministers Karl Lauterbach? Der wollte im Herbst 2024 seine große Pflegereform vorstellen, von der nie etwas bekannt geworden ist. Jetzt will die SPD die privaten Pflegeversicherungen – nicht etwa die privatversicherten Menschen – in den Risikostrukturausgleich einbeziehen, den es in der Pflegeversicherung gar nicht gibt. Außerdem soll der Eigenanteil bei den Pflegekosten auf 1.000 Euro im Monat begrenzt werden. Hierfür hatte Jens Spahn, Lauterbachs Vorgänger, Ende 2020 schon einmal einen Deckel von 700 Euro im Monat vorgeschlagen. Stattdessen gab es dann aber – zusammen mit der SPD – prozentuale Zuschüsse nach Pflegedauer, deren Wirkung schnell verpufft ist.
Eine Frage der Glaubwürdigkeit
Dies verweist auf ein Problem aller Parteien, die für die nächste Regierung realistisch in Frage kommen: mangelnde Glaubwürdigkeit. Schließlich haben sie alle zur derzeitigen Situation beigetragen. Zuletzt waren dies drei Jahre lang die Ampel-Parteien, davor acht Jahre Union und SPD in zwei GroKo-Regierungen mit CDU-Gesundheitsministern.
Glaubwürdigkeit fehlt den Parteien auch im Hinblick auf die sachgerechte Finanzierung versicherungsfremder Leistungen der Kassen. Die SPD will diese Leistungen künftig „verstärkt aus Steuermitteln finanzieren“, während die Grünen etwa die Beiträge von Bürgergeld-Beziehenden „angemessener über den Staat finanzieren“ wollen. Das bleibt jeweils erkennbar vage.
Wettbewerb und Entbudgetierung
Die Union widmet dieser wichtigen Frage sogar keinen einzigen Satz. Ohnehin bleibt sie bei ihrem Ziel der zukunftsfesten Aufstellung der Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung bemerkenswert unbestimmt: „Dazu streben wir mehr Effizienz beim Einsatz von Beitragsgeldern an und stärken den Wettbewerb der Krankenkassen.“ Ausgaben- und steuerungsseitige Maßnahmen als Finanzierungsinstrumente? Das sollte im Wahlkampf unbedingt näher erläutert werden – am besten auch das angedachte Konzept des Kassenwettbewerbs. Aber Vorsicht: Dezentraler Vertragswettbewerb der Kassen bedeutet zugleich Wettbewerb der Anbieter von Versorgungsleistungen. Mit genereller Entbudgetierung der ambulanten Ärzteschaft und zentralen Preisregeln für Apotheken geht das kaum zusammen. Ist das wirklich gewollt?
Den Ernst der Lage verkannt
Insgesamt lassen die Wahlprogramme nicht erkennen, dass die Parteien den Ernst der aktuellen Lage verstanden haben. Während SPD und Grüne ein „Weiter so“ ihres wenig erfolgreichen Wegs proklamieren, flüchtet sich die Union in Allgemeinplätze – neben den genannten vor allem: mehr Eigenverantwortung. Zudem scheinen alle Parteien die Vorstellung zu haben, dass sich mit Prävention Ausgaben einsparen ließen, am besten gleich kurzfristig. Nach der Devise: Wer gar nicht erst krank und pflegebedürftig wird, kostet auch nichts. Das ist leider allzu naiv gedacht. Das gilt auch für viele vermeintliche Vorzüge der Digitalisierung. Aber ohne versorgungsinhaltliche und ökonomische Gesamtverantwortung für Patientinnen und Patienten wird auch die nicht viel nutzen.
Nach der Wahl wird es auf jeden Fall Koalitionsverhandlungen geben. Dabei sollten die Beteiligten tunlichst davon absehen, ihre meist disparaten Vorstellungen miteinander zu vermengen. Notwendig wäre stattdessen ein halbwegs stimmiges Gesamtkonzept. Hierzu könnte externer Sachverstand einen wichtigen Beitrag leisten.
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