Milliardeneinsatz für eine schwache Performance
Gemessen am Mitteleinsatz müssten die Menschen hierzulande zu den gesündesten weltweit gehören. Doch in Sachen Lebenserwartung und Versorgungsqualität dümpelt Deutschland im internationalen Mittelfeld. Es hapert an Effizienz und konsequenter Versorgungssteuerung.
Wer 2023 in Deutschland geboren wurde, hat eine durchschnittliche Lebenserwartung von 81,2 Jahren. Bei Männern sind es 79,4 Jahre, bei Frauen 84,2 Jahre. Mit diesem Wert fiel Deutschland erstmals unter den EU-Schnitt (81,5 Jahre) und rangiert im internationalen Vergleich nur auf Platz 38. Ein mageres Ergebnis für ein Land, das so viel Geld für die Gesundheitsversorgung ausgibt wie kein anderes in der Europäischen Union.
2025 rechnet die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) mit Rekordausgaben von 341 Milliarden Euro – 132 Milliarden Euro oder fast 40 Prozent mehr als vor zehn Jahren (2015: 209 Milliarden). Der rasante Ausgabenanstieg lässt sich mit den Kosten für High-Tech-Medizin, teure neue Arzneimittel und qualifiziertes Personal oder der sachfremden Verwendung von Mitteln des Gesundheitsfonds durch die Politik nur zum Teil erklären.
Woran die anhaltend schlechte Performance des deutschen Gesundheitswesens grundsätzlich liegt, ist längst ausreichend analysiert. In Sachen Über-, Unter- und Fehlversorgung gebe es „kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem“, sagt der langjährige Vorsitzende des Sachverständigenrates Gesundheit und Pflege (SVR), Prof. Ferdinand Gerlach. Gebetsmühlenartig bemängeln die Gesundheitsweisen in ihren Gutachten die unzureichende Steuerung der Versorgung und mangelnde wirtschaftliche und personelle Effizienz durch unnötige Doppelstrukturen oder finanzielle Fehlanreize. Das Geld kommt allzu oft gar nicht erst dort an, wo es für die Gesundheitsversorgung besonders dringend benötigt wird. So hat etwa das Fallpauschalensystem im Krankenhaus dazu geführt, dass vielfach medizinisch nicht notwendige Behandlungen stattfinden, weil sie sich für die Kliniken lohnen. Legendär ist die ärztliche Versorgung rund um den Starnberger See in Bayern. Dort und in den Ballungsgebieten gibt es ein Überangebot an Fachärzten, während sie in ländlichen Regionen zunehmend fehlen.
Auf Umsetzung warten auch die Lösungsvorschläge des im April 2024 eingesetzten ExpertInnenrat "Gesundheit und Resilienz" der Bundesregierung. In seiner kurzen Amtszeit hat der Rat bereits in acht Stellungnahmen deutlich gemacht, wo die Politik ansetzen sollte.
Stets im Mittelpunkt der Expertenkritik: die in keinem anderen EU-Land anzutreffende starke Zweiteilung der Gesundheitsversorgung in einen ambulanten und stationären Bereich mit separaten Leistungs- und Vergütungssystemen. Das Schleifen der „Sektorengrenzen“ steht seit 30 Jahren in Parteiprogrammen und in allen Koalitionsverträgen – passiert ist bis auf einzelne Brückenschläge wenig. Dazu gehören etwa das ambulante Behandeln im Krankenhaus und die daraus hervorgegangene spezialärztliche ambulante Versorgung oder jüngst die Einführung einer „speziellen sektorengleichen Vergütung" (Hybrid-DRG) für bestimmte Leistungen, die sowohl Krankenhäuser als auch niedergelassenen Ärzte ambulant erbringen dürfen. Finanzielle Entlastung hat dies der GKV bisher nicht verschafft.
Kleinteilige Reparaturen statt echter Strukturreformen
In den vergangenen 20 Jahren haben sich die Gesundheitsminister von Ulla Schmidt (SPD) über Philipp Rösler und Daniel Bahr (beide FDP), Hermann Gröhe und Jens Spahn (beide CDU) bis Karl Lauterbach (SPD) auf eher kleinteilige Reparaturreformen, einzelne Kostendämpfungsgesetze und Detailgesetze für Einzelbereiche beschränkt, darunter Regelungen zur Nutzenbewertung für neue Medikamente oder zur Digitalisierung im Gesundheitswesen. Stets die nächste Bundestags- oder Landtagswahl vor Augen, haben sie tiefgreifende Strukturreformen vermieden und stattdessen die Finanzprobleme der GKV durch neue Leistungsgesetze verschärft. Das Ergebnis ist ein beispielloser Beitragssatzsprung zum Jahresanfang 2025.
Mit der an Qualitätsgesichtspunkten ausgerichteten Krankenhausreform hat Lauterbach die erste tiefgreifende Wende eingeleitet. Ein Grundansatz ist mehr Spezialisierung unter Beibehaltung der Basismedizin in der Breite. So soll etwa die Krebsbehandlung nur noch in dafür geeigneten Zentren erfolgen. Die Transformation ist auf zehn Jahre anlegt. Vorbild ist die in Nordrhein-Westfalen zum 1. April 2024 in Kraft tretende Klinikreform. Der Reformdruck ist riesig, und doch ist ach diese Debatte geprägt von bekannten Mustern: Die Vorschläge der Regierungskommission für die Neuordnung der Krankenhauslandschaft zerfasern im Streit um Bund-Länder-Kompetenzen, Gruppeninteressen und Parteipolitik.
Zu den offenen Baustellen nach dem Ampel-Aus gehört auch die Reform der Notfallversorgung. 2023 haben die Krankenhäuser rund 12,4 Millionen ambulante Notfälle behandelt. Mindestens 30 Prozent davon sind gar keine Notfälle – die schnell erreichbare Klinikambulanz hat sich zur Alternative für Arztpraxen entwickelt. Der auf Eis liegende Gesetzentwurf sieht vor, die Versorgungsebenen zu vernetzen. Patienten sollen möglichst schon am Telefon, spätestens aber in der Notfallambulanz passgenau gesteuert werden. Der SVR empfiehlt dringend, dabei auch den Rettungsdienst einzubeziehen.
Deutschland ist Spitzenreiter bei Arztkontakten
Fünf Ärzte je 1.000 Einwohner - damit ist Deutschland Spitzenreiter in der EU. Das gilt auch für Arztkontakte. 2023 gab es nach Zahlen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung rund 575 Millionen Behandlungsfälle in den niedergelassenen Praxen. Steuerung findet in diesem Bereich kaum statt. Bei freier Arztwahl suchen nicht wenige Patienten mehrfach Haus- oder Fachärzte auf. Dieses Verhalten verschärft das ohnehin bestehende Problem, schnell einen Facharzttermin zu bekommen. Auch die von 2004 bis Ende 2012 erhobene Praxisgebühr hat an der starken Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen wenig ändern können.
Zwar gibt es jedes Jahr mehr Ärztinnen und Ärzte in Deutschland, doch in der Versorgung kommt das kaum an. Der Wunsch nach Work-Life-Balance, mit familiären Belangen vereinbarer Teilzeittätigkeit und angestellter Arbeit in Praxis oder Gesundheitszentrum hat längst auch den ärztlichen Arbeitsmarkt erreicht. Die große Zahl der jetzt in den Ruhestand gehenden Niedergelassenen werden nicht eins zu eins zu ersetzen sein. Probleme ergeben sich daraus vor allem für ländliche Regionen.
Während die Detailregelungen im für die Gesundheitsversorgung maßgeblichen Sozialgesetzbuch V zunehmen, spüren die Patientinnen und Patienten kaum Leistungsverbesserungen. Laut den Ergebnissen einer Forsa-Befragung im Auftrag des AOK-Bundesverbandes befürchten 60 Prozent der Befragten, dass sich die Gesundheitsversorgung verschlechtert. Lediglich 20 Prozent erwarten, dass sich die gesundheitliche Versorgung vor Ort durch die Krankenhausreform verbessern wird, 40 Prozent gehen davon aus, dass alles so bleibt wie es ist. In den östlichen Bundesländern rechnen 48 Prozent damit, dass sich die Situation durch die Klinikreform verschlechtern würde.
Auf den Punkt gebracht: Deutschland verfügt über eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Doch gerade in der Breite – etwa bei der Prävention und Behandlung von Volkskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes – bleibt das System mangels konsequenter Qualitätsausrichtung, Effizienz und sachgerechter Steuerung der finanziellen und personellen Ressourcen unter seinen Möglichkeiten. Die Ampel-Koalition hat damit begonnen, aus der Erkenntnisphase in die Umsetzung zu wechseln. Die nächste Bundesregierung muss diesen Weg konsequent fortsetzen. An Vorschlägen, Erfahrungen aus Modellprojekten und Reformbeispielen anderer EU-Länder mangelt es nicht.
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