Interview Versorgung

Logopädie-App erstmals in DiGA-Verzeichnis aufgenommen

05.04.2024 Tina Stähler 4 Min. Lesedauer

Infolge eines Schlaganfalls entwickeln Betroffene oft eine Sprachstörung, die sich nur mit therapeutischer Hilfe verbessern lässt. Wie die ambulante Logopädie-Therapie mithilfe einer App ergänzt werden kann, erläutert Juliane Leinweber, Professorin für Therapiewissenschaften am Gesundheitscampus Göttingen.

Foto: Eine ältere Frau sitzt auf dem Sofa und hält ein Tablet in der Hand.
Apps können therapiebegleitend genutzt werden. Das Alter stellt dabei kein Hindernis dar.

Frau Professorin Leinweber, was genau ist Aphasie und wer ist davon betroffen?

Prof. Dr. Juliane Leinweber: Jedes Jahr erleiden in Deutschland etwa 270.000 Menschen einen Schlaganfall. Knapp jeder Dritte ist in der Folge von einer Aphasie, also einer Sprachstörung nach Schlaganfall, betroffen. Diese führt zu teils massiven Einbußen in der Lebensqualität, etwa zu verminderter Autonomie und sozialer Isolation. Bei sechs von zehn Betroffenen verursacht die Erkrankung eine Depression, rund 80 Prozent werden berufsunfähig.

Welche Übungen lassen sich mit der Aphasie-App besser durchführen als mit der Standardsprachtherapie?

Leinweber: Die App ist therapiebegleitend, das heißt, es sind Übungen aus der Standardsprachtherapie, die Anwendung im häuslichen Üben finden. Im Gegensatz zu analogen Übungsblättern bietet die Aphasie-App individualisierte Übungsinhalte sowie multimodale Rückmeldungen und Hilfen an, damit die Betroffenen möglichst selbstständig üben können. Das können Hilfevideos, visuelle Markierung von Fehlern und so weiter sein. Durch das unbegrenzte digitale Training zu Hause kann die Therapiefrequenz maßgeblich gesteigert werden.

Lässt sich die Aphasie-App auch alleine – ohne Sprachtherapie vor Ort – nutzen?

Leinweber: Nein, denn die individuell ausgerichtete Therapie soll durch häufiges Üben, also Therapie vor Ort und Eigentraining zu Hause, zu Verbesserungen in Sprache und Kommunikation führen. Die Therapieziele stecken die behandelnde Therapeutin oder der behandelnde Therapeut gemeinsam mit ihren Patientinnen und Patienten fest.

Schließt die App ältere Patienten von der Nutzung aus, weil sie weniger digitalaffin sind?

Leinweber: Die Patientinnen und Patienten, die sich an der Studie beteiligt haben, waren bis zu 92 Jahre alt. Alter allein ist kein Grund dafür, digitale Technologien nicht zu nutzen. Auch der sozioökonomische Status, die Technikakzeptanz, das soziale Umfeld oder der Informationsstand können die Nutzung beziehungsweise die Ablehnung von Apps in der Therapie beeinflussen. Die ethische Reflexion der Logopädinnen und Logopäden beim Einsatz von Apps – also eine sorgfältige Bewertung, wie deren Anwendung die Rechte, das Wohl und die individuellen Bedürfnisse aller Patientinnen und Patienten unter Berücksichtigung von Gerechtigkeit, Zugänglichkeit, Datenschutz, informierter Zustimmung und Angemessenheit beeinflusst – ist dabei von großer Bedeutung. Die Aphasie-App ist durch eindeutige Fotos, große Bedienflächen und viele Hilfen sehr leicht bedienbar. Es ist keine Vorerfahrung notwendig. Außerdem bietet der App-Anbieter einen sehr gut erreichbaren Kundensupport an, damit auch weniger technikerfahrenen Patienten ein Einstieg ermöglicht wird.

Therapiestudie „Additive digitale Therapie bei Aphasie“ (AddiThA)

Als Studienpartnerinnen und -partner haben Logopädie-Wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler am Gesundheitscampus Göttingen, einer Kooperation der Universitätsmedizin Göttingen und der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen, die Wirksamkeit von Apps zur Unterstützung in der Aphasie-Therapie untersucht.

Die AddiTha-Studie fand deutschlandweit und multizentrisch von April 2022 bis Oktober 2023 statt. Insgesamt nahmen 196 Patientinnen und Patienten sowie 173 Therapeutinnen und Therapeuten teil. Dabei wurde die sprachliche Leistung bei Patientinnen und Patienten mit Aphasie, einer Sprachstörung infolge eines Schlaganfalls, in logopädischer Behandlung mit und ohne App-Unterstützung untersucht. Die positiven Ergebnisse der Studie führten zu einer dauerhaften Aufnahme der App ins Verzeichnis der Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA). 

Mehr Infos zur Studie

Porträt von Prof. Dr. Juliane Leinweber, Professorin für Therapiewissenschaften am Gesundheitscampus Göttingen.
Prof. Dr. Juliane Leinweber

Wie hat sich die Logopädie in den vergangenen zehn Jahren verändert?

Leinweber: Die Berufsgruppe beteiligt sich zunehmend aktiv an der Digitalisierung, sowohl forschend als auch in der Versorgung. Das hat uns die Pandemie deutlich gezeigt. Die Kolleginnen und Kollegen in der Praxis haben die Versorgung aufrechterhalten können, indem sie Videotherapien angeboten haben. Leider sind die Rahmenbedingungen, wie beispielsweise das Angebot therapeutischer Plattformen, digitalisiertes Therapiematerial und Apps, die nicht explizit für die Logopädie entwickelt wurden, noch nicht vollständig für den Einsatz in der logopädischen Therapie ausgerichtet. Dafür ist es notwendig, dass Forschungsförderungen darauf zielen, Projekte langfristiger zu unterstützen, um mehr als nur die Entwicklung und Machbarkeit neuer Technologien zu erzielen.

Wo sehen Sie allgemein noch Potenzial bei den Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), insbesondere in Bezug auf Therapien?

Leinweber: Aktuell sehe ich kein Potenzial für die Logopädie, wenn die Hürden weiterhin so hoch sind. Hinter den wenigen Logopädie-Apps, die es gibt, stehen kleine Unternehmen, die auf eine eher kleine Zielgruppe ausgerichtet sind. Dafür ist der Weg ins DiGA-Verzeichnis für Logopädie-Apps zu beschwerlich. Eine Evaluationsstudie aufzusetzen, bedeutet eine hohe Wissenschaftlichkeit, eine gute Finanzierbarkeit und eine gute Vernetzung in die Praxis und Wissenschaft hinein, um das in dieser begrenzten Zeit umsetzen zu können. Außer der Aphasie-App sind keine für die Logopädie einsetzbaren Apps im DiGA-Verzeichnis. Wir versuchen uns gerade selbst zu helfen und setzen Kriterienkataloge für den Einsatz von Apps ein. Die sind für die Praxis aber noch nicht ökonomisch. Es fehlt eine kriteriengeleitete Datenbank für Logopädie-Apps.

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