„Epidemie noch nicht vorbei“ – HIV stärker ins Bewusstsein rücken
Die Welt-Aids-Konferenz wirft ihre Schatten voraus. Nach mehr als 30 Jahren findet das Treffen wieder in Deutschland statt. In München werden dazu vom 22. bis 26. Juli rund 15.000 Teilnehmer aus 175 Ländern erwartet, darunter Wissenschaftler, Mediziner und politisch Verantwortliche. Über ihre Erwartungen an die Konferenz äußert sich die Geschäftsführerin der Deutschen Aidshilfe, Silke Klumb, im G+G-Interview.
Frau Klumb, wo muss es bei der Konferenz Fortschritte geben?
Silke Klumb: Wir brauchen ein klares Signal, dass HIV und andere Infektionserkrankungen die volle Aufmerksamkeit bekommen, die sie benötigen. Wir haben viel erreicht, aber die Epidemie ist nicht vorbei. In manchen Weltregionen, etwa Osteuropa und Zentralasien, sind die Infektionszahlen in den vergangenen Jahren wieder gestiegen. Die Covid-19-Epidemie hat die Maßnahmen gegen HIV teilweise zurückgeworfen und die Mpox, also Affenpocken, haben gezeigt, dass die Stigmatisierung von Menschen mit Infektionskrankheiten noch lange nicht der Vergangenheit angehört.
Was sind die Folgen?
Klumb: Die anhaltende Stigmatisierung schlägt sich in teils dramatischer Unterversorgung von marginalisierten Gruppen nieder. Noch immer erhalten nicht alle die lebensrettenden Medikamente, die sie bräuchten und noch immer erkranken Menschen an Aids, obwohl es vermeidbar wäre. Die Maßnahmen gegen HIV, Tuberkulose und Malaria sind global ohnehin bei weitem nicht ausreichend finanziert. In manchen Ländern fehlt der politische Wille, wirksame Maßnahmen einzusetzen – etwa aufgrund von Homophobie oder weil drogenabhängige Menschen nicht als behandlungsbedürftig betrachtet werden, sondern verfolgt werden.
Ist hier Besserung in Sicht?
Klumb: Leider nicht. Die zahlreichen Verwerfungen in der Welt drohen die Maßnahmen weiter zu schwächen. Sollte Donald Trump die Wahl gewinnen, könnte auch das Engagement der USA gegen HIV wieder in Frage stehen. Kurzum: Wir müssen jetzt alle Kräfte bündeln und der Welt zeigen, dass HIV beherrschbar ist – wenn alle Verantwortlichen mitziehen.
Welche Bedeutung hat es, dass die Konferenz in Deutschland stattfindet?
Klumb: Die Welt-Aids-Konferenz in der Bundesrepublik verweist auf unsere Verpflichtung als reiches Land, unseren Teil zu einer Besserung der Lage beizutragen. Zudem erinnert die Konferenz Deutschland an seine Führungsrolle, in der es sich in der internationalen Gesundheitspolitik gerne sieht. Wir dürfen allerdings nicht so tun, als wäre bei uns schon alles erreicht.
Wo hapert es hierzulande?
Klumb: Wir haben auch in Deutschland Versorgungslücken in Prävention und medizinischer Versorgung. Das ist nicht akzeptabel – erst recht nicht in einem Land, das sich gerne als Vorreiter betrachtet. Die Ampel-Regierung ist bislang ein Modell der medizinischen Versorgung für Menschen ohne Krankenversicherung beziehungsweise Aufenthaltspapiere schuldig geblieben, das sie im Koalitionsvertrag versprochen hat. Weiterhin erkranken Menschen an Aids, weil sie aus Angst vor Abschiebung keine ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Ohne Therapie bleibt HIV übertragbar. Diese Versorgungslücke ist menschenrechtlich wie epidemiologisch ein Skandal. Das Problem darf in dieser Wahlperiode auf keinen Fall ungelöst bleiben – denn von nachfolgenden Regierungen ist wahrscheinlich eher noch weniger zu erwarten.
Immer wieder wird auch ein Verbot von HIV-Tests im Arbeitsleben gefordert…
Klumb: Ja, das muss kommen und wäre auch noch in dieser Legislaturperiode machbar. Betroffene Menschen werden weiterhin in der Arbeitswelt oft diskriminiert. In Berlin hat eine große Klinik einem HIV-positiven Pfleger gekündigt, ein Marburger Student der Zahnmedizin hat seinen Studienplatz verloren. Die Bundespolizei schreibt sogar offen auf ihrer Webseite, dass Menschen mit HIV für den Polizeidienst nicht infrage kommen. Dies alles geschieht gegen den ausdrücklichen Rat von HIV-Expertinnen und -experten. Das Verteidigungsministerium und die Bundeswehr – und viele andere Unterzeichnende unserer Deklaration zu dem Thema – haben gezeigt, dass es auch anders geht. Aber gute Beispiele genügen nicht. Wir brauchen eine klare gesetzliche Regelung: Der HIV-Test und die Frage nach HIV haben im Arbeitsleben nichts verloren. Denn HIV muss im Arbeitsleben keine Rolle spielen.
Wie bewerten Sie die Drogenpolitik von Bund und Ländern?
Klumb: Die Drogenpolitik ist aus meiner Sicht die größte Baustelle. Die Zahl der drogenassoziierten Todesfälle steigt seit vielen Jahren, ebenso die Zahl der HIV-Infektionen beim intravenösen Drogenkonsum. Durch Crack hat sich die Lage vieler Konsumentinnen und Konsumenten extrem verschärft, zudem ist Fentanyl als gefährliche Beimengung im Straßenheroin in Deutschland angekommen.
Woran mangelt es in diesem Bereich?
Klumb: In Zeiten wachsender Herausforderungen wird die Drogenhilfe immer schlechter finanziert, viele Einrichtungen haben nicht mehr genug Geld, um ausreichend saubere Spritzen und Konsumutensilien zu verteilen. Diese Maßnahme hat die HIV-Infektionen in dieser Gruppe in der Vergangenheit nachhaltig gesenkt. Die Erfolge bröckeln nun. Sieben Bundesländer, allen voran Bayern, weigern sich noch immer, Drogenkonsumräume rechtlich möglich zu machen, obwohl Städte wie München längst erkannt haben, wie wichtig solche Einrichtungen sind und sie gerne einrichten würden. Dabei ist längst klar belegt: Drogenkonsumräume retten Leben und verhindern Infektionen. Auch die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt sie.
Wie ist die Situation bei der Substitutionstherapie?
Klumb: Auch hier ist noch viel Luft nach oben. Wir müssten viel mehr Opiatabhängige versorgen. Notwendig ist auch mehr regulierte Abgabe von pharmazeutisch erzeugtem Heroin, Diamorphin, als Medikament. Denn die Versorgung unter medizinischen Bedingungen ermöglicht Sicherheit und den Wiedereinstieg in ein geregeltes Leben. Gleichzeitig bröckeln aber die fachärztlichen Praxen weg, weil immer mehr Mediziner das Rentenalter erreichen.
Wie lautet Ihr Appell an die Politik zur Verringerung der Risiken im Drogensektor?
Klumb: Mehr Repression und weniger Hilfe wird zu immer weiter steigenden Todes- und Infektionszahlen führen. An dieser Linie festzuhalten, ist schlicht Realitätsverweigerung. Der Bund ist mit einigen Modellprojekten und Gesetzen, etwa zum Drugchecking, vorausgegangen. Jetzt sind vor allem die Länder am Zuge. Wir brauchen in dieser besonderen Situation eine gute Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen und vor allem eine Stärkung der Drogenhilfe vor Ort. Die Verantwortlichen müssen evidenzbasiert handeln und die Erfolge der vergangenen 40 Jahre Prävention als Blaupause für die aktuellen Herausforderungen nehmen. Die erforderlichen Maßnahmen sind alle bekannt und gut erprobt. Als wichtigste Notfallmaßnahme brauchen wir eine breite Verfügbarkeit des Notfallmedikaments Naloxon, ein Nasenspray, das im Falle einer Überdosis auf sehr einfache Weise Leben retten kann.
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