Bluterkrankungen: Gen-Schere muss noch zeigen, was sie kann
Die innovative Gentherapie verspricht erstmals Heilung von zwei schweren Bluterkrankungen. Doch bisher ist das Versprechen nicht eingelöst, die Kosten sind extrem hoch.
Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) hat erstmals die Zulassung einer Therapie empfohlen, die auf der sogenannten Gen-Schere (CRISPR/Cas9) beruht. Damit könnten Versicherte in Europa künftig eine molekularbiologische Therapie erhalten, die in das Erbgut des Menschen eingreift. Das Verfahren könnte die Lebensqualität von Patienten mit schwerer Sichelzellenanämie (SCD) oder Beta-Thalassämie erheblich verbessern. Wie die aufwendige Therapie aber langfristig wirkt, kann derzeit niemand sagen.
Neue Ära der Medizin
Das Gentherapeutikum Casgevy sei für die Behandlung der schweren Sichelzellanämie (SCD) und für Patienten mit Beta-Thalassämie ab zwölf Jahren geeignet, teilte die EMA Mitte Dezember mit. Das zellbasierte Therapeutikum des US-Arzneimittelherstellers Vertex Pharmaceuticals nutzt die CRISPR/Cas9-Technologie, um die Stammzellen der Betroffenen zu verändern.
Eine einmalige, personalisierte Behandlung soll genügen. Dabei wird der spezifische „defekte“ Abschnitt des Gens, das die Produktion des Hämoglobins verhindert, bearbeitet – die entnommenen, veränderten und wieder infundierten Zellen sorgen anschließend für besser funktionierendes Hämoglobin. Julian Grünwald, Professor für Gene Editing an der Technischen Universität München, sieht ein neues Zeitalter anbrechen: „Man kann sicher von einer neuen Ära der Medizin sprechen."
Wirkung auf Dauer noch unklar
Die Empfehlung der EMA ruht eigenen Angaben zufolge auf einer relativ schmalen Datenbasis. In zwei laufenden einarmigen Studien an Patienten zwischen zwölf und 35 Jahren konnten 39 von 42 Beta-Thalassämie-Patienten ein Jahr lang ohne Transfusionen leben; von 29 Patienten mit schwerer SCD erlebten 28 mindesten ein Jahr lang keine der typischen Komplikationen des Krankheitsbildes, die sogenannten vaso-okklusiven Krisen mit heftigen Schmerzen und Organschäden – in dieser Patientengruppe die häufigste Ursache von Klinikaufenthalten. Die Sicherheit des Verfahrens wurde zudem in einer Langzeitstudie mit 97 Jugendlichen und Erwachsenen untersucht.
Die EMA empfiehlt Casgevy nun für eine „bedingte Zulassung“, um den frühzeitigen Zugang zu der Therapie zu erleichtern. Im nächsten Schritt entscheidet die EU-Kommission anhand des Gutachtens, ob sie die Genehmigung für eine EU-weite Marktzulassung beschließt. Anschließend wird in den Mitgliedsstaaten über den Erstattungspreis der Therapie verhandelt.
Bei aller Hoffnung birgt das Genome Editing auch Risiken, wie das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag in seinem Bericht zum Thema 2021 deutlich machte: Eine Herausforderung stelle noch immer der (in-) effiziente Gentransfer dar, zudem könne es bei den Therapieansätzen zu unbeabsichtigten, potenziell folgenschweren Schäden im Genom und zu Immunreaktionen kommen.
Auch bei Casgevy muss sich erst noch zeigen, wie das Verfahren auf Dauer wirkt. „Nebenwirkungen sind weiterhin denkbar“, sagt Selim Corbacioglu, Professor für Pädiatrische Hämatologie, Onkologie und Stammzelltransplantation am Universitätsklinikum Regensburg, dessen Abteilung an den Zulassungsstudien beteiligt war. „Wir wissen einfach noch nicht, ob die Patienten womöglich nach einigen Jahren plötzlich doch wieder Transfusionen benötigten oder Schmerzkrisen bekommen, weil die Zellen verschwunden sind.“ Bis August 2026 soll Vertex Pharmaceuticals die endgültigen Ergebnisse der laufenden Zulassungsstudien vorlegen; die Patienten werden 15 Jahre lang beobachtet.
Lebenserwartung und -qualität der Betroffenen deutlich vermindert
Auch mit Blick auf die hohen Kosten des Genome Editing sahen die Experten des Bundestages Handlungsbedarf. Sie schlugen vor, bestehende Erstattungsmodelle durch erfolgsabhängige Modelle zu ergänzen, wie sie der GKV-Spitzenverband Anfang Dezember erstmals für die EU-weit erste Gentherapie gegen die schwere Hämophilie A vereinbart hat. Zudem sollte die Wirkung von Innovationsanreizen auf die Arzneimittelentwicklung für seltene Erkrankungen genauer untersucht werden. Die Kosten der Behandlung mit Casgevy sollen bei 1,5 bis zwei Millionen Euro liegen.
Bei Erkrankungen – SCD und Beta-Thalassämie – treten laut Fachinformationsdienst der Charité Berlin in Deutschland selten auf. Für die Patienten gab es bis heute jedoch keine oder nur minimale Heilungschancen; die Lebenserwartung und -qualität der Betroffenen sind deutlich vermindert. Die Sichelzellkrankheit, die mit Schmerzanfällen, Infektionen und Sauerstoffmangel einhergeht, konnte bisher nur durch die komplikationsträchtige Stammzellentransplantation geheilt werden. Patienten mit Beta-Thalassämie brauchen regelmäßig Bluttransfusionen.
Genverändernde Therapien in Zukunft häufiger mögliches Thema für EMA
So könnte Genome Editing die Therapien effizienter und sicherer machen. Zudem birgt das Verfahren neue therapeutische Optionen bei Erkrankungen, die mit bisherigen Gentherapien nicht behandelbar waren, etwa die Huntington-Krankheit oder die Leber'sche kongenitale Amaurose Typ 10, die häufigste Form vererbbarer Erblindung. Julian Grünwald erwartet in absehbarer Zeit Erfolge von CRISPR-Studien zur Behandlung von genetisch bedingten Stoffwechselstörungen, genetisch bedingte Proteinablagerungen oder Erkrankungen des Immunsystems.
Die EMA dürfte sich in den kommenden Jahren häufiger mit genverändernden Therapien befassen. Weltweit waren 2022 beim Human Genome Editing (HGE) Register der World Health Organization (WHO) mehr als 150 klinische Studien zu verschiedensten Krankheiten gelistet. Die meisten zielen darauf ab, dysfunktionale Gene im Zusammenhang mit manifesten Erkrankungen zu „reparieren“. In der Forschung wird aber auch über präventive Therapien nachgedacht. Für einen Skandal sorgte 2018 ein chinesischer Wissenschaftler, der das Erbgut ungeborener Zwillinge manipulierte, damit sie gegen AIDS immun würden. Er kam dafür ins Gefängnis.
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