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Fakten statt Fiktion: Medizin und Management bauen auf Evidenz

22.07.2024 Änne Töpfer 4 Min. Lesedauer

Wenn nicht die Wissenschaft, sondern Glaubenssätze Grundlage für Entscheidungen sind, drohen Ineffizienzen oder sogar Schäden. Wirtschaftspsychologe Uwe Kanning und Onkologin Jutta Hübner machen das am Beispiel des Personalmanagements und der Krebsmedizin deutlich und sind sich einig: Nur verlässliche Informationen lassen fundierte Schlüsse zu.

Foto: Auf einem Bücherstapel liegt ein Stethoskop.
Bei der evidenzbasierten Medizin muss die Wirksamkeit eines Arzneimittels oder einer Therapieform durch eine ausreichende Evidenz in Form von wissenschaftlichen Untersuchungen nachgewiesen sein.

In Wissenschaft und Praxis des Personalmanagements herrschen viele Glaubenssätze. Einige, teilweise skurrile Beispiele dafür kann der Wirtschaftspsychologe Professor Dr. Uwe Kanning von der Hochschule Osnabrück aufbieten. So lassen etwa Führungskräfte-Coachings, bei denen Manager eine Schafherde über eine Weide führen, „keine Wirkung im Berufsalltag erwarten“. Kanning: „Das macht zwar Spaß, bringt aber nichts.“

Wenn Fiktion an die Stelle von Fakten tritt, drohen nicht nur Ineffizienzen, sondern sogar Schäden, weiß Professorin Dr. Jutta Hübner. Die Professorin für Integrative Onkologie an der Universität Jena ist Koordinatorin für die S3-Leitlinie Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen Patientinnen und Patienten. Für sie ist Evidenz in der Krebsbehandlung oberstes Gebot: „Kein Patient will eine unwirksame Therapie, wenn er ein echtes Problem hat.“ Dennoch blühe die Alternativmedizin, weil sie eines befriedige: „Die Sehnsucht nach Zuwendung.“

Es fehlt an Kompetenz und Weiterbildung

Foto: Prof. Dr. Uwe Kanning, Wirtschaftspsychologe an der Hochschule Osnabrück.
Prof. Dr. Uwe Kanning, Wirtschaftspsychologe an der Hochschule Osnabrück

Die AOK Niedersachsen hatte Hübner und Kanning zur Veranstaltung „Gesundheitsfrequenzen“ eingeladen, um „eine Lanze für die Evidenz zu brechen, ihre Bedeutung zu reflektieren und ihre Auswirkungen auf unsere Entscheidungsprozesse zu erforschen“. Woran es liege, dass Menschen an Dinge glauben, „von denen wir in der Forschung seit Jahrzehnten wissen: Das stimmt doch nicht“, fragt Uwe Kanning. Und liefert die Antwort gleich mit: „Alle Leute sammeln gute Erfahrungen mit den Dingen, an die sie glauben.“ Wer an eine Methode glaube, finde Bestätigung für deren Nutzen. So führten Personalmanager bei Einstellungsgesprächen häufig unstrukturierte Interviews, um geeignete Mitarbeitende zu finden. Doch die Forschung zeige: Mit unstrukturierten Interviews lasse sich die „berufliche Leistung kaum prognostizieren“, so Kanning. Warum wissen Manager das nicht? „Sie haben das nicht gelernt und die Zahlen aus der Forschung nie gesehen“, sagt der Wirtschaftspsychologe. Dabei investieren die Unternehmen in Deutschland viel Geld in das Personalmanagement: Jährlich 19 Milliarden fließen laut Kanning in die Besetzung neuer Stellen, „bei einer geschätzten Effektivität von 20 Prozent – 80 Prozent ist Zufall“. Kannings Erklärung für die Ressourcenverschwendung: mangelnde Fachkompetenz und fehlende Weiterbildung. Ein Personalchef habe nach einem Vortrag zu ihm gesagt: Ich wusste gar nicht, dass es Forschung dazu gibt.

„Kein Patient will eine unwirksame Therapie, wenn er ein echtes Problem hat.“

Prof. Dr. Jutta Hübner

Professorin für Integrative Onkologie an der Universität Jena

Leitlinie bietet Orientierung für Fachleute und Laien

Foto: Prof. Dr. Jutta Hübner, Professorin für Integrative Onkologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Prof. Dr. Jutta Hübner, Professorin für Integrative Onkologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Auch Jutta Hübner betont die Bedeutung wissenschaftlicher Grundlagen in ihrem Fachgebiet, der komplementären Krebsmedizin. Diese grenzt sie ab von alternativen Behandlungsmethoden, die anstelle der evidenzbasierten Tumortherapie treten. Die Komplementärmedizin ergänze hingegen die schulmedizinische Behandlung. Die Leitlinie Komplementärmedizin in der Onkologie bietet Orientierung für Fachleute sowie für die Patientinnen und Patienten selbst. „Komplementäre Medizin basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen“, so Hübner. Die gebe es beispielsweise für die Anwendung von Ingwer gegen Übelkeit, die als Nebenwirkung in der Tumortherapie auftreten kann. Ingwer sei in einer ganzen Reihe von Studien getestet worden. Patienten könnten ihn sehr gut selbst als Tee zubereiten oder als Gewürz verwenden, ihn aber auch in Tablettenform einnehmen.

Die Resonanz auf die Leitlinie Komplementärmedizin in der Fachwelt sei geteilt. „Die einen fanden das Thema immer schon gut und sind froh, dass es die Leitlinie gibt“, sagt Hübner. Zum anderen gebe es Kolleginnen und Kollegen, die weiterhin skeptisch sind und die Komplementärmedizin für nicht so wichtig halten. „Unsere Arbeitsgemeinschaft bietet deshalb Fortbildungen an. Und es gibt den Masterstudiengang Integrative Onkologie in Jena.“

Stiftung sorgt für Verbreitung von Evidenz

Auch unter Patientinnen und Patienten will Hübner die Wissensbasis erweitern. Dazu hat sie die „Stiftung Perspektiven“ gegründet. Diese biete Antworten auf die Fragen: Was kann ich selbst tun? Was ist mir wichtig? Ärzten käme eine wichtige Rolle beim Brückenschlag zwischen Schul- und Komplementärmedizin zu. „Wenn Patienten fragen, was sie selbst tun könnten, erwarte ich, dass die Ärzte Sport und ausgewogene Ernährung empfehlen“, so Hübner. „Da haben wir noch ein dickes Brett zu bohren.“ Die Leitlinien Ernährung und Sport in der Onkologie würden gerade erarbeitet.

Unter Patientinnen und Patienten sorgt die Stiftung Perspektiven für die Verbreitung von Evidenz: „Über Online-Vorträge erreichen wir schätzungsweise bis zu 3.000 Patienten jährlich. Bei den Workshops sind es jeweils 20 bis 30, und wir bieten bis zu 18 Workshops pro Jahr an. Außerdem gibt es eine offene Sprechstunde und die Webseite.“ So erreiche die Stiftung schon „eine hohe Anzahl von Patienten“, habe aber nicht Kapazitäten für alle. – Es bleibt also eine Lücke, die wohl weiterhin von Anbietern zweifelhafter Behandlungsmethoden gefüllt wird.

Symbolbild einer Ärztin, die einer Frau in einem Krankenhausbett ein Röntgenbild erklärt
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