Kliniken zur Fußball-EM im Alarmmodus – Angst vor Anschlag im Vordergrund
Hunderttausende Fans aus zahlreichen europäischen Ländern werden zur Fußball-Europameisterschaft zu Gast in Deutschland sein. Vor allem in den Austragungsorten wird ein enormer Ansturm erwartet. Doch wo sich viele Menschen auf engstem Raum befinden, lauern auch Gefahren. Die Kliniken haben sich entsprechend vorbereitet, vor allem die Angst vor Terroranschlägen stand dabei in den vergangenen Monaten im Mittelpunkt.
Deutschland im EM-Freudentaumel. Auf der Fanmeile in Berlin feiern tausende Begeisterte, als plötzlich ein Auto explodiert und es anschließend zu einer Schießerei kommt. Von einem solchen Szenario ging kürzlich eine Katastrophenübung zur Vorbereitung auf das Sportevent aus. Innerhalb kürzester Zeit wurden 93 der 900 Verletzten in das Vivantes Klinikum im Friedrichshain eingeliefert, dessen Rettungsstelle zu den leistungsstärksten Berlins gehört. 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kamen aus der Freizeit ins Krankenhaus geeilt, 360 Kräfte beteiligten sich insgesamt.
Übungen unter realen Bedingungen
„Die Übung hat gezeigt, dass unsere Rettungsstellen sehr leistungsfähig sind und einen Massenandrang von Verletzten gut bewältigen können“, sagt Vivantes-Sprecher Christoph Lang. Wie in Berlin fanden auch in anderen Spielstädten der Europameisterschaft in den vergangenen Wochen und Monaten solche Einsätze zur Vorbereitung statt. „Mit der Gefahr von Anschlägen oder Unglücken haben sich die Krankenhäuser nochmal intensiv auseinandergesetzt, Alarmpläne aktualisiert und die eigenen Vorkehrungen überprüft“, sagt Dr. Felix Kolibay, Vorsitzender der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Krankenhaus-Einsatzplanung (DAKEP) und Ärztlicher Notfallkoordinator der Uniklinik Köln. Das in der Klinik anwesende Personal reiche bei einer solchen Katastrophe nicht aus, daher müssten über das Handynetz schnell per Knopfdruck andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Freizeit geholt werden. Und natürlich brauche es für solche Fälle erprobte Strukturen und Abläufe. Verbandszeug, Materialien zur Blutstillung und anderes Equipment für die Notfallbehandlung müsse in ausreichender Menge gelagert sein.
In Berlin wurden in diesem Jahr laut einer Sprecherin von Gesundheitssenatorin Ina Czyborra (SPD) bereits sieben Krankenhausübungen veranstaltet, alle mit Fokus auf die Fußball-EM. Immer ging es dabei um ein Anschlagsszenario. Der Klinik, die im Mittelpunkt der jeweiligen Übung stand, wurde je nach Größe und Leistungskapazität eine bestimmte Anzahl an Patienten zugewiesen. Geübte Darsteller mimten dabei Personen mit Verletzungen unterschiedlichen Schweregrades, die in der Notaufnahme behandelt werden mussten.
Kliniken in Großstädten haben Erfahrungen mit Mega-Events
Insgesamt sehen sich die großen Kliniken in Deutschland für die Zusammenkunft hunderttausender Menschen zu dem Sportfest gerüstet. Auf Anfrage verwiesen Einrichtungen in München, Berlin, Dortmund und Köln darauf, dass sie über reichlich Erfahrungen mit Großereignissen verfügen, seien es Sportveranstaltungen, Christopher Street Days, Festivals, der Karneval der Kulturen in Berlin, das Oktoberfest in München oder der Rosenmontag in Köln.
„Im Grunde ist jedes Champions-League- und Bundesliga-Heimspiel des BVB ein Großereignis mit der Möglichkeit eines überdurchschnittlichen Aufkommens von Verletzten“, erläutert Matthias Lackmann, Sprecher des Klinikums Dortmund. Im Vorfeld der EM habe es in der Ruhrgebietsstadt eine Übung unter realistischen Bedingungen gegeben. Und auch eine Sprecherin der Berliner Charité erklärt, Europas größtes Krankenhaus habe Erfahrung „mit der Bewältigung und Begleitung von Großereignissen“. Das Personal werde regelhaft geschult. Unter anderem geht es beim Eintreffen einer Masse von Verletzten laut Lackmann darum, im Sinne eines Triage-Systems die Schwere der Verletzungen und die Dringlichkeit der Versorgung zu beurteilen. „So wird entschieden, wer sofort eine medizinische Maßnahme benötigt und wo die Behandlung etwas warten kann“, so der Dortmunder Kliniksprecher.
Doch Alarmkette hin- oder her: Ob die Beschäftigten bei einer „Großlage“ mit vielen Verletzten in die Klinik kommen, bleibt ihnen selbst überlassen, da es sich nicht um eine bezahlte Rufbereitschaft handelt. „Wir bauen aber darauf, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ernstfall intrinsisch motiviert sind und helfen wollen“, sagt Kolibay. Vivantes-Vertreter Lang macht deutlich, dass bei der unangekündigten Berliner Großübung am Abend jüngst 250 Beschäftigte unverzüglich in das Klinikum gekommen seien, sodass ausreichend Personal zur Bewältigung der Lage zur Verfügung gestanden habe. „Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind hochmotiviert.“
„Mit der Gefahr von Anschlägen oder Unglücken haben sich die Krankenhäuser vor der EM nochmal intensiv auseinandergesetzt, Alarmpläne aktualisiert und die eigenen Vorkehrungen überprüft.“
Vorsitzender der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Krankenhaus-Einsatzplanung und Ärztlicher Notfallkoordinator der Uniklinik Köln
Kliniken beklagen fehlendes Geld für Personalaufstockung
Ganz Deutschland hofft darauf, dass die EM trotz angespannter Sicherheitslage und Drohungen terroristischer Gruppierungen zu einem friedlichen Fußballfest wird. Doch selbst bei einen „normalen“ Verlauf ist wie bei jedem Großereignis mit einem erhöhten Aufkommen von Verletzungen, Brüchen, alkohol- oder hitzebedingten Beeinträchtigungen bis hin zu Notfällen mit Herz-Kreislauf-Beschwerden zu rechnen. Laut Kolibay wird für solche Dinge in der Rettungsstelle der Kölner Uniklinik aber „keine weitere Vorsorge“ betrieben, etwa im Sinne einer Personalaufstockung. Dafür sei kein Geld da und es gebe dafür auch keine Anordnung seitens der Politik. „Außerdem will es angesichts einer dünnen Personaldecke gut überlegt sein, Beschäftigte mit zusätzlichen Diensten zu belasten.“ Werde es in der Rettungsstelle allerdings extrem eng, könnten Kolleginnen und Kollegen über die bezahlte Rufbereitschaft benachrichtigt werden. Er sei aber davon auszugehen, dass die Sanitätsdienste und Hilfsorganisationen am Rande der Fanmeilen und Stadien bereits viele Menschen mit gesundheitlichen Beschwerden versorgten, so Kolibay. Deutschlandweit kümmern sich beispielsweise rund 6.000 ehrenamtliche Sanitäterinnen und Sanitäter des Deutschen Roten Kreuzes um die medizinische Notversorgung und Betreuung von Fans.
Vivantes betreibt als landeseigener Konzern in Berlin sieben Rettungsstellen für Erwachsene und zwei für Kinder – rund 300.000 Patientinnen und Patienten werden in ihnen pro Jahr versorgt. Auch hier werden die Schichten laut Sprecher Lang nicht generell verstärkt, sondern nur dann, wenn sich Mitarbeiter freiwillig melden. „Für eine temporäre Aufstockung der Kapazitäten stehen aktuell keine zusätzlichen Mittel vom Land Berlin bereit“, betont er. Wenn die Landesregierung von den hiesigen Notfallkrankenhäusern während der EM eine Verstärkung erwarte, müsse sie das refinanzieren. Der Vivantes-Sprecher setzt wie die Kolleginnen und Kollegen in Köln darauf, dass Patienten mit leichten Beeinträchtigungen bereits in einem der Sanitätszelte behandelt werden, anstatt sie aufwendig per Rettungswagen in die Klinik zu transportieren.
Berliner Krankenhausgesellschaft vor EM „in Sorge"
Dass die Krankenhäuser auf jeden Fall enorm gefordert sein werden, darauf verweist die Berliner Krankenhausgesellschaft (BKG). „Die Krankenhäuser sind 24 Stunden, an sieben Tagen der Woche für die Patientinnen und Patienten da, auch während der EM und selbstverständlich auch für die vielen zusätzlichen Gäste“, sagt Geschäftsführer Marc Schreiner. Doch arbeiteten die Häuser „schon jetzt an der Belastungsgrenze“. Die Berliner Kliniken litten unter einem deutlichen Investitionsstau und einer krassen Unterfinanzierung der Betriebskosten. „Ausreichende Kalibrierung der gesundheitlichen Versorgung im öffentlichen Raum, zusätzlicher Personalbedarf in den Krankenhäusern – diese speziellen Anforderungen an Groß-Events sind eigentlich bekannt. Leider wird hier für die EM 2024 zu wenig gemacht“, kritisiert Schreiner.
In einem unter anderem an den Regierenden Bürgermeister Kai Wegener (CDU) und Senatorin Czyborra gerichteten Brief schreibt Schreiner, die Berliner Krankenhäuser hätten die „dringende Erwartung einer auskömmlichen Finanzierung der mit der Europameisterschaft verbundenen Zusatzkosten“. Zudem blickten die Kliniken „mit Sorge“ auf die Vorbereitungen. Die Ausstattung mit Sanitätspersonal etwa auf den Fanzonen reiche nicht aus. Die vielen tausend Gäste, die keinen Zugang zu den Fanarealen erhielten, würden sich zudem „unorganisiert“ in der Stadt aufhalten und im Notfall die Rettungsstellen in Anspruch nehmen.
Der Kölner Arzt Kolibay macht ebenfalls deutlich, dass es an vielen Ecken und Enden in Deutschland am Geld fehlt. So sei die Krankenhausalarm- und Einsatzplanung zwar gesetzlich vorgeschrieben. Die dafür verantwortliche Person in einer Einrichtung sei jedoch nirgendwo finanziell abgebildet. Koordinatorin oder Koordinator für diesen Bereich zu sein, sei leider noch viel zu häufig eine Leistung „on top“.
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