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Genomsequenzierung: Was das Modellvorhaben für die medizinische Versorgung bringt

14.11.2024 Anja Schnake 4 Min. Lesedauer

Kliniken wie Krankenkassen haben hohe Erwartungen an das kürzlich vereinbarte Modellvorhaben Genomsequenzierung. Über ein Projekt, das für zwei bestimmte Patientengruppen neue Perspektiven eröffnen könnte.

Foto: Eine Forscherin sitzt im Labor am Rechner und schaut sich Genome an.
Mit dem neuen Modellvorhaben steigen für viele die Chancen, eine Diagnose zu erhalten.

Seit dem 30. September 2024 versorgen die ersten Krankenhäuser Patientinnen und Patienten im Rahmen des neuen Modellvorhabens. Insgesamt 27 qualifizierte Universitätskliniken haben nun - zunächst bis zum 31. Dezember 2025 – ein Budget für einen strukturierten diagnostischen Prozess bei bestimmten Patientengruppen, der umfangreiche molekulargenetische Untersuchungen einschließt. Die Daten der Evaluation sollen anschließend zeigen, ob es für die Betroffenen einen Nutzen gibt.

Chancen auf eine Diagnose steigen

Damit hoffen Mediziner, künftig mehr für ihre Patientinnen und Patienten tun zu können. Zum Beispiel dann, wenn der Verdacht auf eine seltene Erkrankung im Raum steht, der in der vorhandenen Versorgung nicht aufgeklärt werden konnte. Betroffene und ihre Familien hätten oft „lange Odysseen durch das Gesundheitssystem“ hinter sich, berichtet ein 2023 veröffentlichtes Gutachten des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung. Mit dem neuen Modellvorhaben, das besondere Expertise, interdisziplinäre Panels und Ganzgenomsequenzierung verbindet, steigen nun für viele die Chancen, eine Diagnose zu erhalten. Selbst in hochspezialisierten Zentren für solche Erkrankungen erfordert die Diagnostik bisher oft ein dreiviertel Jahr und bleibt häufig ohne Ergebnis. „Mit der Genomsequenzierung werden wir künftig viel schneller und häufiger wissen, wo die Ursachen liegen", sagt Malte Spielmann, Professor für Humangenetik und Direktor des Instituts für Humangenetik am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH). Die Ganzgenomsequenzierung werde helfen, unsinnige Therapien zu verhindern, erklärt Spielmann. So könne man Patientinnen und Patienten mit Muskelschwäche die schmerzhafte Muskelbiopsie ersparen und Kindern mit geistiger Behinderung die unnötige Narkose bei einer Magnetresonanztomographie. Bei Schwerstkranken ohne jegliche Perspektiven hilft sie bei der Entscheidung für eine Palliativversorgung. „In all diesen Fällen ist die Genomsequenzierung eine klar überlegene Methode", sagt Spielmann.

Digitale Darstellung von farbigen Sequenzkurven, die übereinander liegen
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Tumore noch besser kennenlernen

Auch bei fortgeschrittenen Tumorerkrankungen, für die keine etablierte Therapie (mehr) zur Verfügung steht, kann das Modellvorhaben neue Möglichkeiten eröffnen. Bildgebende Verfahren, Zellanalysen und Labortests helfen heute, Tumoren zu untersuchen und die bestmögliche Behandlung zu finden. Zudem hat die Molekulargenetik in den vergangenen Jahren ein differenziertes Verständnis der Erkrankung geschaffen, insbesondere bei Lungenkrebs. Während die Medizin vor zehn Jahren für die Therapie lediglich zwischen „kleinzellig" und „nicht-kleinzellig" unterschieden hat, so kennen Onkologen heute zahlreiche Subtypen, die sie unterschiedlich behandeln. „Der Tumor zerfällt in viele genetisch unterschiedliche Klassen mit verschiedenen Genvarianten", erklärt Nisar Malek, Professor für Innere Medizin und Gastroenterologie und ärztlicher Direktor des entsprechenden Instituts an der Universität Tübingen. Das Gleiche beobachten Mediziner zum Beispiel auch bei Darm- und schwarzem Hautkrebs, bei denen die Medizin große Fortschritte gemacht hat. Patienten mit Hirn- oder Bauchspeicheldrüsentumoren haben dagegen noch immer schlechte Prognosen. „Bei einigen Tumortypen gibt es noch wenig Evidenz dafür, dass genbasierte Therapien besser wirken als die Standardtherapie. Bei diesem Thema werden wir im Rahmen des Modellvorhabens hoffentlich viel dazulernen", so Malek. Auch die sogenannten Resistenzmutationen – langfristig auftretende Mutationen, die den Tumor gegen eine bestimmte Therapie resistent machen – würden mithilfe der vollständigen Genomsequenzierung besser verstanden werden, glaubt der Onkologe. 

„Mit der Genomsequenzierung werden wir künftig viel schneller und häufiger wissen, wo die Ursachen liegen.“

Malte Spielmann

Direktor des Instituts für Humangenetik am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein

Dennoch ist der Weg zu effektiven neuen Behandlungen weit. „Therapeutisch kann man mit der Ganzgenomsequenzierung in der Onkologie noch nicht viel anfangen", sagt Nisar Malek, „das Modellvorhaben wird aber die Grundlagen für die Entwicklung vieler künftiger Therapien schaffen." Auch für die Behandlung seltener Erkrankungen erwartet Spielmann keine schnellen Erfolge. „Embryonale Fehlentwicklungen sind gravierend und sehr schwer zu heilen", sagt der Humangenetiker. Damit die am Projekt teilnehmenden Patientinnen und Patienten an den Fortschritten partizipieren können, wird eine systematische Re-Evaluation der fallbezogenen Befunde in festgelegten Intervallen erfolgen.

Evaluation als Chance

Die Daten sollen zeigen, ob und für wen die aufwändige Diagnostik tatsächlich Vorteile bringt. So könnte die Evaluation die Türen zu einer innovativen Medizin öffnen. „Nur wenn wir sehen, dass seltene Erkrankungen tatsächlich schneller diagnostiziert werden und Krebspatienten länger überleben, wird das Projekt ein Erfolg", sagt Malte Spielmann. Es ist für Johannes Wolff vom GKV-Spitzenverband der wichtigste Passus im Vertrag: „Wir führen mit qualifizierten Einrichtungen befristet eine innovative Versorgung ein und schauen, was es den Patientinnen und Patienten wirklich an Nutzen bringt", so die Deutung des Referatsleiters Krankenhausvergütung. Dass die Kliniken ein Budget erhalten, stehe nicht im Gesetz. „Es ist ein Vorschuss an Vertrauen bei begrenztem Risiko", sagt Wolff. Ob es gelingt, den Nutzen zu zeigen und die Ganzgenomsequenzierung in die Versorgung zu bringen? Auf die Ergebnisse sind alle Beteiligten gespannt.

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