Artikel Versorgung

Arme sterben früher

28.06.2024 Christine Möllhoff 4 Min. Lesedauer

Die Kluft zwischen Arm und Reich bei der Lebenserwartung hat sich in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren nicht verringert, sondern sogar vergrößert. Das ergab eine aktuelle Studie. Wie sich gegensteuern lässt, erläutert Matthias Mohrmann von der AOK Rheinland/Hamburg im Gespräch mit G+G.

Foto: Ein älterer Mann schaut in seinen leeren Geldbeutel, daneben liegen einige Münzen auf einem Tisch.
Armut wirkt sich auch auf die Lebenserwartung aus – und die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer.

Die Forscher unter Federführung des Robert-Koch-Instituts (RKI) verglichen die Lebenserwartung von Menschen aus ärmeren und reicheren Wohngegenden. Ihre Bilanz ist ernüchternd: Die Lebenserwartung zwischen Arm und Reich klafft heute noch weiter auseinander als vor 20 Jahren. Demnach hatten Männer und Frauen aus besonders benachteiligten Gebieten ein 43 beziehungsweise 33 Prozent höheres Risiko, vorzeitig zu versterben, als Gleichaltrige aus besonders gutgestellten Vierteln.

Zugang zu Informationen ungleich verteilt

Foto: Porträt von Matthias Mohrmann, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg.
Matthias Mohrmann, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg

Matthias Mohrmann überrascht das kaum. „Unser Gesundheitssystem ist immer noch gut – wenn auch nicht so gut, wie es angesichts der Kosten sein müsste –, aber eben nicht gleich gut für alle“, sagt der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der AOK Rheinland/Hamburg. Eine zentrale Ursache für die gesundheitlichen Unterschiede sieht er im ungleichen Zugang zum komplexen deutschen System mit seinen Sektorengrenzen. „Das fängt schon mit der richtigen Anlaufstelle an, nicht nur im Not- und Rettungsdienst, sondern auch bei der grundlegenden ärztlichen Versorgung.“ Nicht allein der Zugang zum System selber, auch der Zugang zu Informationen über das System sei ungleich verteilt. „Da müssen wir ansetzen, wenn wir die Kluft verkleinern wollen“, ist Mohrmann überzeugt.

Der Experte der AOK Rheinland/Hamburg gilt hier als einer der Vorreiter: 2017 rief er als Pilotprojekt den ersten Gesundheitskiosk in Hamburg mit ins Leben, später folgten weitere auch im Rheinland. Die Kioske sollen Menschen etwa mit Sprachbarrieren als Lotsen durch das System steuern und ihren Zugang zu Gesundheitsangeboten und -wissen verbessern. Tatsächlich zeigte eine Evaluation, dass sich bei den Nutzern die Impfraten und die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen erhöhte. Die Idee überzeugte auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach so, dass er plante, bundesweit solche Kioske zu etablieren. Der Plan fiel aber der Ressortabstimmung zum Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz zum Opfer.

„Die Gesundheitskioske sind weder Ersatz noch Konkurrenz für Arztpraxen, sondern ein ergänzendes Angebot.“

Matthias Mohrmann

Stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg

Mehr gesundheitliche Chancengleichheit

Der Zugang zu Wissen und zum System sei der Schlüssel für mehr gesundheitliche Chancengleichheit: „Wir müssen daher die Gesundheitskompetenz der Menschen verbessern, das Wissen um Vorsorgeuntersuchungen und präventive Maßnahmen steigern, zu denen auch ein gesunder Lebensstil gehört“, so Mohrmann. Dabei sei auch die Politik gefragt. Sie könne die Rahmenbedingungen setzen, „mit denen wir bedarfsgerechter auf die Menschen zugehen können“. Der Kassenexperte bedauerte, dass innovative Vorhaben wie Gesundheitsregionen, Primärversorgungszentren und eben auch die Gesundheitskioske wieder aus den jüngsten Gesetzesplänen gekippt wurden.

Eine Konkurrenz zu regulären Praxen, wie einige Ärzte fürchten, sieht Mohrmann in den Kiosken „überhaupt nicht“: „Die Gesundheitskioske sind weder Ersatz noch Konkurrenz für Arztpraxen, sondern ein ergänzendes Angebot.“ Die von Lauterbach zunächst genannte Zahl von bundesweit 1.000 Kiosken hält er für viel zu hoch gegriffen. Die Kioske seien ausschließlich für Regionen gedacht, die eine solche Unterstützungsstruktur konkret auch bräuchten. Bundesweit seien vielleicht 100 oder auch nur 50 solcher Kioske nötig. Auch die veranschlagten Kosten von einer Million Euro pro Standort kann er nicht bestätigen. „Unsere Ausgaben belaufen sich auf ungefähr 400.000 Euro je Standort.“ Er glaubt, dass in den betreffenden Regionen alle Kassenversicherte von solchen Angeboten profitieren würden. „Dafür wäre eine gesetzliche Regelung wünschenswert, die alle Krankenkassen verpflichtet, sich hier zu engagieren.“

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