Interview Versorgung

„Wir müssen die Medizin ins Boot holen“

25.11.2024 Silke Heller-Jung 4 Min. Lesedauer

Für Betroffene von häuslicher Gewalt sind Beschäftigte im Gesundheitswesen oft die ersten und manchmal die einzigen, mit denen sie über ihr Problem sprechen können. Im EU-Projekt „VIPROM - Opferschutz in der Medizin“ werden spezielle Schulungen für verschiedene Gesundheitsberufe entwickelt.

Foto: Eine Frau in Arztkittel und mit Stethoskop wendet sich einer anderen Frau zu und blickt sie während eines Gesprächs an.
Viele Menschen, die von Gewalt betroffen sind, gehen nicht zur Polizei. Aber sie haben Kontakt zum Gesundheitssektor, zum Beispiel bei einer Vorsorgeuntersuchung.
Foto: Prof. Dr. Dr. Bettina Pfleiderer von der Medizinischen Fakultät der Universität Münster ist Koordinatorin des EU-Projekts „VIPROM – Opferschutz in der Medizin“.
Prof. Dr. Dr. Bettina Pfleiderer von der Medizinischen Fakultät der Universität Münster ist Koordinatorin des EU-Projekts „VIPROM – Opferschutz in der Medizin"

Frau Professor Pfleiderer, Sie leiten das Projekt VIPROM an der Universität Münster. Wie groß ist das Problem häuslicher Gewalt?

Prof. Dr. Dr. Bettina Pfleiderer: Die Dunkelziffer bei häuslicher Gewalt ist leider hoch. Man geht davon aus, dass nur etwa zehn Prozent der Betroffenen tatsächlich zur Polizei gehen. Im Jahr 2023 hat die Polizei mehr als 256.000 Fälle von häuslicher Gewalt erfasst. 2022 waren es rund 240.000. Wir sprechen hier von 16.000 zusätzlichen Fällen innerhalb eines Jahres. Das finde ich unfassbar viel.

Wer sind die Betroffenen, wer die Täter und Täterinnen?

Pfleiderer: Ungefähr 70 Prozent der von häuslicher Gewalt betroffenen Personen sind weiblich, 30 Prozent sind männlich. Betrachtet man nur die Partnerschaftsgewalt, liegt der Anteil von Frauen sogar bei knapp 80 Prozent. Von denjenigen, die die Gewalt ausgeübt hatten, waren in den Fällen, die zur Anzeige kamen und in der Statistik auftauchen, ungefähr 75 Prozent männlich und 25 Prozent weiblich. Bei den 256.000 erfassten Fällen häuslicher Gewalt aus dem Jahr 2023 handelte es sich bei 65 Prozent um partnerschaftliche Gewalt. 34,5 Prozent waren Gewalt innerhalb der Familie. Dazu zählen zum Beispiel Kindesmissbrauch oder Gewalt gegen Ältere.

„Die Dunkelziffer bei häuslicher Gewalt ist leider hoch.“

Prof. Dr. Bettina Pfleiderer

Koordinatorin des EU-Projekts „VIPROM – Opferschutz in der Medizin"

Warum ist es so wichtig, die Gesundheitsberufe für Anzeichen häuslicher Gewalt zu sensibilisieren?

Pfleiderer: Oft sind Menschen im Gesundheitssektor die ersten und nicht selten die einzigen, die eine Chance haben, Betroffene von Gewalt zu erkennen und auf das Problem anzusprechen. Denn viele Betroffene gehen nicht zur Polizei. Aber sie haben Kontakt zum Gesundheitssektor, zum Beispiel bei einer Vorsorgeuntersuchung.

Darum müssen wir die Medizin und die Gesundheitsberufe stärker ins Boot holen. Wir müssen ihnen die Angst davor nehmen, das Thema anzusprechen. Und wir müssen aufklären. Häusliche Gewalt besteht nicht nur darin, dass ein Mann seine Frau schlägt. Das Problem ist vielschichtiger; man darf die älteren Menschen und die Kinder nicht vergessen, oder dass auch Männer Gewalt ausgesetzt sein können. Wir Menschen suchen meist nur nach dem, von dem wir erwarten, es zu finden. Wenn wir im Gesundheitssektor Gewaltsymptome nicht erkennen, lassen wir die Betroffenen allein.

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Welche medizinischen Fachrichtungen oder Berufsgruppen spielen hier eine wichtige Rolle?

Pfleiderer: Das sind zum einen Kinderärztinnen und Kinderärzte, und zum anderen die Teams in der Notaufnahme. Aufmerksam sollten auch Gynäkologen und Gynäkologinnen sowie Hebammen sein: Eine Schwangerschaft ist eine Hochrisikophase in Beziehungen, gerade wenn es schon vorher häusliche Gewalt gab. Auch Hausärztinnen und Hausärzte, ambulante Pflegedienste und Physiotherapeuten sollten immer ganz genau hinschauen. Gleiches gilt für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Bei Depressionen oder Essstörungen muss man immer auch an häusliche Gewalt denken. Eine weitere wichtige potenzielle Ersthelfergruppe sind Zahnärztinnen und Zahnärzte.

Das Projekt VIPROM hat zum Ziel, den Schutz der von häuslicher Gewalt Betroffenen in der Medizin voranzubringen. Wie gehen Sie dabei vor?

Pfleiderer: Bei einer Bedarfsanalyse in den verschiedenen Gesundheitsberufen haben wir festgestellt: Wenn ein Verdacht auf häusliche Gewalt vorliegt, wird häufig nichts unternommen. Der Grund ist oft Unsicherheit: Wie soll ich das Thema ansprechen? Ist mein Verdacht überhaupt begründet? Da gibt es ein großes Wissensdefizit. Wir stellen darum auf einer frei zugänglichen Trainingsplattform verschiedene Module bereit. Sie enthalten maßgeschneiderte Informationen für bestimmte Berufsgruppen, zum Beispiel für den Bereich Gynäkologie und Geburtshilfe. Wir haben einen Lehrplan erstellt und ein Schulungsprogramm für Lehrende erarbeitet, die andere zum Thema häusliche Gewalt unterrichten.

Wie kommt dieses Wissen nun in die Praxis?

Pfleiderer: Anfang September hat ein erster Train-the-trainer-Kurs in Münster stattgefunden, mit Simulationspatienten und unseren Partnern in diesem EU-Projekt. Die Teilnehmenden werden jetzt in ihren Herkunftsländern weitere Lehrende ausbilden. Seit November werden auch Medizinstudierende unter Verwendung unserer Trainingsmaterialien unterrichtet: in Münster, aber auch an der Universität Witten-Herdecke. An der Universität Münster haben wir das Thema häusliche Gewalt bereits in die Pflichtlehre im Medizinstudium integriert. Aber wir hoffen, dass wir immer mehr Lehrende ausbilden und immer mehr Universitäten diese Kurse anbieten. Denn unser Training ist nicht theoretisch, sondern ganz stark praxisorientiert. Wenn jemand häusliche Gewalt vermutet, muss er wissen, worauf er zu achten hat und was er tun kann. Das muss man üben. Und das ist unser Ziel.

VIPROM: Opferschutz in der Medizin

Den Medizinsektor stärker für Anzeichen häuslicher Gewalt sensibilisieren – das ist das Ziel des Projekts „Victim Protection in Medicine“ (Opferschutz in der Medizin; VIPROM), das im Frühjahr 2023 gestartet ist. Die Europäische Union fördert das Vorhaben mit 1,6 Millionen Euro. Projektpartner aus Schweden, Österreich, Italien, Griechenland und Deutschland erarbeiten gemeinsam Ansätze, um das Thema in den Lehrplänen nachhaltig zu verankern. Unter anderem gibt es eine Trainingsplattform mit verschiedenen Modulen für den Gesundheitssektor.

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