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Health Technology Assessment in Europa: Neue Impulse für die Versorgung?

24.11.2023 Anja Schnake 5 Min. Lesedauer

EU-Reformen werden künftig neue Rahmenbedingungen für die Arzneimittelversorgung in Deutschland schaffen. Die Auswirkungen sind nach Ansicht des AOK-Bundesverbandes noch nicht absehbar. Zumindest das AMNOG-Verfahren wird wohl grundsätzlich erhalten bleiben.

Foto: Ein älterer Mann steht einer Apothekerin gegenüber, die ihm eine Medikamentenschachtel entgegenstreckt.
Nach Angaben des Gemeinsamen Bundesausschusses kommen nirgends in Europa so viele neu zugelassene Medikamente so schnell in den Markt wie in der Bundesrepublik.

Als die ersten Pläne der Europäische Union zur europaweiten Regulierung der Arzneimittelbewertung bekannt wurden, erwarteten viele in der deutschen Gesundheitsbranche ein Ende des bewährten AMNOG-Verfahrens („Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz“), das hierzulande auch die Preise neuer Medikamente reguliert. Hinsichtlich eines europaweit einheitlichen Verfahrens zum Health Technology Assessment (EU-HTA) zeigte sich Sabine Jablonka, Leiterin der Abteilung Arzneimittel im AOK-Bundesverband, skeptisch: „Bei der Umsetzung der EU-HTA-Verordnung sind zurzeit noch viele Fragen offen.“ Vor allem sei die Reform des europäischen Arzneimittelrechts – eine nach Angaben der EU „ambitionierte Überarbeitung der geltenden Arzneimittelvorschriften“ – noch nicht abgeschlossen. Welche Impulse daraus für Qualität und Kosten der Arzneimittelversorgung in Deutschland entstünden, sei derzeit noch nicht absehbar.

Die EU will Unternehmen von Mehrfacharbeit und Bürokratie entlasten und verhindern, dass Arzneimittel aufgrund von Methodenstreits nicht auf den Markt kommen. Ein europaweit einheitliches Verfahren zum Health Technology Assessment (EU-HTA) soll deshalb den gemeinsamen Rahmen für mehr Zusammenarbeit und gemeinsame Standards bei der Nutzenbewertung von neuen Medikamenten schaffen. Über den Stand der Umsetzung und die Folgen der Richtlinie für das AMNOG informierte Mitte November der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) auf einer Veranstaltung zum Thema. Demnach wird künftig vor allem der Bereich der klinischen Studien auf EU-Ebene koordiniert werden – die Nutzenbewertung soll grundsätzlich gemeinsam erfolgen, Erstattung und Preisbildung bleiben aber Aufgaben der Mitgliedsstaaten.

„Bei der Umsetzung der EU-HTA-Verordnung sind zurzeit noch viele Fragen offen.“

Sabine Jablonka

Leiterin der Abteilung Arzneimittel im AOK-Bundesverband

Gemeinsame Bewertungsgrundlagen für neue Arzneimittel

Die entsprechende Verordnung aus dem Jahr 2021 wird für die Mitglieder der EU unmittelbar verbindlich sein. Schon ab 12. Januar 2025 sollen die Standards für onkologische Medikamente und neuartige Therapien („Advanced Therapy Medicinal Products; ATMP) greifen, ab Anfang 2028 für „Orphan Drugs“, also Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen, ab 2030 für alle Neuzulassungen. Die Schaffung eines „europaweit einheitlichen Evidenzkörpers“ werde sich in mehrfacher Hinsicht auf das AMNOG-Verfahren auswirken, sagte Anna-Maria Mattenklotz, Leiterin des Referats „Versorgung mit neuen Arzneimitteln und Pandemiearzneimitteln“ beim Bundesgesundheitsministerium. So müssen sich die Mitgliedsstaaten zunächst auf gemeinsame Bewertungsgrundlagen für neue Arzneimittel einigen.

Es gilt, für die Studien, das sogenannte Joint Clinical Assessment (JCA), einen einheitlichen Bewertungsumfang (Assessment Scope) und die sogenannten PICOs zu vereinbaren – einschlägige Fragen zu Patientenpopulationen, Interventionen, Vergleichsinterventionen (Comparators) und Ergebnissen (Outcomes), die die Studien beatworten sollen. Der Umfang dieser Bewertung liegt den Dossiers zugrunde, die die Pharmahersteller vor der Entscheidung des Ausschusses für Humanarzneimittel der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA vorlegen müssen. Mattenklotz erwartet hierfür, „dass das gegenseitige Verständnis wachsen und die HTA-Verfahren sich aufeinander zu bewegen werden“. Zurzeit seien die Verfahren der einzelnen Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich, deshalb werde es hierbei „zu Kompromissen kommen müssen“.

Der „Europe-first"-Mechanismus

Die Mitgliedsstaaten werden außerdem verpflichtet, auf EU-Ebene vorhandene Arzneimittelstudien (Joint Clinical Assessments) in ihren nationalen Bewertungsverfahren zu berücksichtigen und einschlägige Berichte, die auf nationaler Ebene erstellt werden, an die Koordinierungsgruppe der Mitgliedsstaaten (KG) weiterzuleiten. Klinische Studien, die auf EU-Ebene bereits vorliegen, dürfen auf nationaler Ebene nicht mehr angefordert werden. Die Richtlinie etabliere damit einen „Europe-first-Mechanismus“, so Mattenklotz. „Die Ergebnisberichte beschränken sich aber auf rein wissenschaftliche Analysen und enthalten keine Bewertung des Zusatznutzens“, so Mattenklotz. Nationale Strukturen wie das deutsche AMNOG-Verfahren blieben somit erhalten. Studien, die für die Nutzenbewertung in den Mitgliedsstaaten benötigt werden, dürfen auch weiterhin auf nationaler Ebene angefordert werden. So können Hersteller und Kostenträger in Deutschland auch nach 2025 auf der Basis des festgestellten Zusatznutzens gegenüber einer Vergleichstherapie über Erstattungsbeträge verhandeln.

Bis das europäische Verfahren starten kann, bleibt indes noch viel zu tun. Die Leitlinien zur EU-HTA liegen seit September vor. „Die EU will administrativen, technischen und IT-Support leisten, sie wird also die passende Infrastruktur für das Verfahren entwickeln“, erklärte Valentina Barbuto, Policy Officer beim Gesundheits-Generaldirektorat der EU-Kommission. Zudem etabliert sie ein Stakeholder-Network aus Patientenorganisationen, Kostenträgern, Unternehmen und wissenschaftlichen Fachgesellschaften. Bis Ende 2024 seien dafür noch sechs Durchführungsrechtsakte notwendig, die Implementierung der IT-Plattform und die Einbindung des HTA Stakeholder Networks in das System.

Unklare Perspektiven

Und die Folgen für Deutschland? Bei der Umsetzung der europäischen Pläne gäbe es aus deutscher Sicht einiges zu bewahren, sagte der Gastgeber und GBA-Vorsitzende Josef Hecken. Die Bundesrepublik gilt mit dem AMNOG-Verfahren zur Nutzenbewertung von Arzneimitteln als Best-Practice-Beispiel bei der Bewertung und Verfügbarkeit von Medikamenten.

Nirgends in Europa würden so viele neu zugelassene Medikamente so schnell in den Markt kommen wie in der Bundesrepublik. Während Onkologika in Deutschland im Durchschnitt 37 Tage nach der Zulassung auf den Markt kämen, dauere dies in den Niederlanden 300 Tage, in Spanien 540 Tage und in Polen sogar mehr als 800 Tage. So werde die Richtlinie vor allem außerhalb Deutschlands die Versorgung verbessern, so Hecken. Der dynamische Markt hat seinen Preis: Wie das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) kürzlich errechnete, sind die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung allein in den vergangenen zehn Jahren um 88 Prozent gestiegen und haben 2022 mit knapp 53 Milliarden Euro einen neuen Rekordwert erreicht.

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