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Frühe Diagnose tut Not – Forderungen an Politik und Ärzteschaft

08.01.2024 Thorsten Severin 5 Min. Lesedauer

Tausende Menschen in Deutschland ahnen nichts von ihrer HIV-Infektion. Doch je später sie entdeckt wird, desto höher ist die Gefahr, an Aids zu erkranken und zu sterben. Wissenschaftler und Verbände sehen vor allem Politik und Ärzte in der Pflicht, für schnellere Diagnosen zu sorgen.

Foto: Eine Hand mit einem Einmalhandschuh hält ein Blutröhrchen mit der Aufschrift "HIV", dahinter stehen eine Reihe von anderen Blutröhrchen.
Geschätzt 8.600 Menschen in Deutschland wissen nichts von ihrer HIV-Infektion.

In der Fachsprache werden sie „Late Presenter“ genannt: Menschen, bei denen eine HIV-Infektion erst spät diagnostiziert wird. Oft sind es Routine-Tests, bei denen das heimtückische Virus im Blut entdeckt wird. Dies sei zum Beispiel der Fall, wenn Frauen zu Beginn einer Schwangerschaft einen Test machten oder wenn Männer, die Sex mit Männern haben, der Empfehlung folgten, sich jährlich testen zu lassen, wie Anne von Fallois, geschäftsführende Vorstandsvorsitzende der Deutschen Aids-Stiftung, erläutert.

Ein Drittel der Infektionen erst in fortgeschrittenem Stadium erkannt

Laut dem Bonner Infektiologen Christoph Boesecke wird ein Drittel der Infektionen erst in einem „fortgeschrittenen Stadium“ festgestellt. Anlass seien dann etwa klinische Beschwerden, wie Gewichtsverlust, Gürtelrose, Hautveränderungen oder Luftnot bei Belastungen. Je niedriger bereits die Zahl der CD4-Helferzellen im Körper sei, desto schlechter sei die Immunabwehr. „In der Folge können dann Erreger, die bei einem normalen Immunsystem keine Probleme verursachen, bei einem Menschen mit einer unbekannten, fortgeschrittenen HIV-Infektion zu entsprechenden Problemen führen.“ In Deutschland betreffe das vor allem die Lunge mit einer besonderen Form der Pneumonie, Pilzinfektionen der Speiseröhre sowie speziellen Hautveränderungen im Sinne des Kaposi-Syndroms.

„Geschätzt 8.600 Menschen in Deutschland wissen nichts von ihrer HIV-Infektion“, sagt Fallois. Der Anteil von heterosexuellen Menschen – insbesondere Frauen und Zugewanderte – sei bei den spät Diagnostizierten besonders hoch. Und das birgt Risiken auch für die Mitmenschen: „Wer von der Infektion nichts weiß, kann das Virus ungewollt weitergeben: an Sexualpartnerinnen und -partner oder in der Schwangerschaft und Stillzeit an Babys.“

Niedrigschwelliger Zugang zu Tests

Eine frühe Diagnose eröffnet die Möglichkeit, mit den verfügbaren wirksamen Medikamenten, die Viruslast so zu senken, dass das Virus nicht mehr nachweisbar ist und Infizierte nicht ansteckend sind. Heilbar ist eine Ansteckung mit dem HI-Virus bislang zwar nicht. Die Diagnose sei dank der enormen Therapiefortschritte aber längst kein Todesurteil mehr, so Fallois. „Unter Therapie und frühzeitig erkannt, kann man mit HIV gut und lange leben – ohne ansteckend zu sein.“ Ihre Forderung: „Um HIV/Aids endgültig zu besiegen, brauchen wir eine schnellstmögliche Diagnose für einen schnellstmöglichen Therapiebeginn.“

Dieser Ansicht ist auch Mediziner Boesecke. Menschen, die sich selbst für gefährdet hielten, sollten niedrigschwellig an Testungen herankommen – sei es über Selbsttests oder anonyme Schnelltests in den Test- oder Selbsthilfeeinrichtungen. Die ohnehin knappen Mittel hierfür dürften nicht weiter gekürzt werden. Verbandschefin Fallois verweist auf ein Stadt-Land-Gefälle. „HIV-Testangebote konzentrieren sich auf die großen Städte. Menschen mit HIV, die auf dem Land leben, haben es schwerer, sich testen zu lassen – auch, weil sie Angst vor Stigmatisierung haben.“ Die Aids-Stiftung fördere daher Modelle zum einfachen Test-Zugang in so genannten Checkpoints in großen Städten sowie mobilen Gesundheitsbussen in ländlichen Regionen. „Wichtig ist, dass es anonyme Angebote in den Beratungsstellen und Gesundheitsämtern gibt.“

„Menschen mit HIV, die auf dem Land leben, haben es schwerer, sich testen zu lassen – auch, weil sie Angst vor Stigmatisierung haben.“

Anne von Fallois

Geschäftsführende Vorstandsvorsitzende der Deutschen Aids-Stiftung

Vulnerable Gruppen gezielter ansprechen

Außerdem braucht es Experten zufolge neue Ideen, um vulnerable Gruppen zu erreichen, wie etwa drogenabhängige Menschen und Zugewanderte aus Ländern mit hoher HIV-Infektionsrate. Vorbild können die „Walk-in-Kliniken“ in anderen Staaten sein. Fallois nennt hier die Dean Street Express-Klinik in einem ehemaligen Ladenlokal in Londons Vergnügungsviertel. Im geschützten Raum könnten sich Menschen dort informieren, testen und beraten lassen. „Und wir brauchen ein wieder wachsendes Bewusstsein für die Herausforderung HIV: in der allgemeinen Bevölkerung, aber auch unter der Ärzteschaft“, mahnt sie. Es müsse allgemein wieder mehr über HIV und sexuelle Gesundheit gesprochen werden.

Boesecke sieht speziell die Ärzteschaft in einer großen Verantwortung, etwa bei Patientinnen und Patienten diskriminationsfrei eine Sexualanamnese zu erheben und bei einem Risiko einen Test auf sexuell übertragbare Krankheiten anzubieten. Zum anderen müsse im klinischen Alltag ein verstärktes Augenmerk auf Erkrankungen gerichtet werden, die ein Indikator für HIV sein könnten, wie Gürtelrose, andere Hautveränderungen oder erniedrigte Blutplättchen. Auch Fallois warnt in diesem Zusammenhang vor „Missed opportunities“: „Verpasste Chancen, bei bestimmten Symptomen einer möglichen HIV-Infektion nachzugehen, sollte es nicht geben.“ Voraussetzung sei, dass Behandelnde die Symptome kennen und wenn nötig mit ihren Patienten vertrauensvoll über einen Test sprächen.

Politik bei HIV gefordert

Von Bundes- und Landesregierungen erwartet Fallois, dass die Prävention durch Aufklärung weiter gefördert und niederschwellige Angebote für Test und Therapie unterstützt werden. Boesecke hält es darüber hinaus für zwingend geboten, dass die HIV-Präexpostitionsprophylaxe (PrEP) weiterhin großflächig angeboten wird, insbesondere in den Risikogruppen. Der Immunologe regt zudem eine Diskussion darüber an, in Ballungszentren mit hoher HIV-Prävalenz automatisch auf HIV zu testen, zum Beispiel, wenn sich Menschen wegen akuter Beschwerden im Krankenhaus vorstellen. Wollen Patienten den Test nicht, müssen sie sich dann im Sinne einer Opt-out-Regelung dagegen aussprechen.

Boesecke ist sich bei allen Bemühungen sicher, dass Deutschland das Ziel der Vereinten Nationen, bis zum Jahr 2025 mindestens 95 Prozent aller HIV-positiven Menschen zu diagnostizieren, nicht erreichen wird. Der Nachholbedarf hierzulande sei hoch. „Besonders schade ist dabei festzustellen, dass es anderen europäischen Ländern gelungen ist oder bis dahin gelingen wird, die entsprechenden Hausaufgaben der UN zu erreichen.“

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