„KI hat keine schlechten Tage und ermüdet nicht”
Ob bei der Diagnose von Krankheiten, der Entwicklung personalisierter Therapien, beim Schreiben von Entlassbriefen, der Überwachung chronischer Leiden oder in der robotergestützten Chirurgie: Künstlicher Intelligenz (KI) im Gesundheitswesen wird ein hohes Potenzial nachgesagt. Zu den Zukunftschancen und Risiken dieser Technologie äußern sich im G+G-Interview der Vorstandsvorsitzende der Universitätsmedizin Essen, Jochen A. Werner, und der Senior Vice President von T-Systems, Gottfried Ludewig.
Herr Prof. Werner, Herr Dr. Ludewig, wo sehen Sie die größten Chancen von KI in der Medizin?
Prof. Dr. Jochen A. Werner: Medizinisches Personal und Ärzte erhalten durch Künstliche Intelligenz bei Routinetätigkeiten, bei der Entscheidungsfindung in der Diagnostik und Therapie sowie beim administrativen Aufwand eine wertvolle Unterstützung, die am Ende die Patientenversorgung menschlicher, präziser und sicherer macht. Gleichzeitig generiert KI Synergien im Gesundheitssystem. KI lässt sich dabei nicht von der Hektik des Praxis- oder Klinikalltags ablenken, hat keine schlechten Tage und ermüdet nicht.
Dr. Gottfried Ludewig: Der Einsatz von KI wird das Personal deutlich entlasten. Auf der einen Seite durch automatisierte Geräte und Prozesse, andererseits durch die Analyse und Auswertung großer Datenmengen, welche strukturiert zur Verfügung gestellt werden. Die Ärzteschaft kann in wenigen Sekunden auf das Wissen der gesamten Welt zugreifen. Eines sollte aber klar sein: Die Entscheidung über die Art und Weise der Behandlung muss immer bei der Ärztin oder dem Arzt liegen.
Wird KI das Personal im Gesundheitswesen also nicht zu einem großen Teil ersetzen?
Werner: Nein. Es geht überhaupt nicht darum, dass KI-Lösungen als Menschenersatz fungieren, sondern als Unterstützungssysteme und Wissensträger für die in der Gesundheitsversorgung tätigen Personen. Medizin ist und bleibt ein personalintensives People`s Business. Doch die Jobs werden sich verändern, und es werden auch völlig neue Berufsbilder entstehen. Die Bereitschaft, neue Technologien in die Diagnose und Behandlung mit einzubeziehen, wird zur Grundvoraussetzung für den Arztberuf werden. Wie der Kollege schon gesagt hat: Am Ende müssen und werden weiterhin Menschen entscheiden – alles andere wäre auch ethisch nicht vertretbar.
„Die Entscheidung über die Art und Weise einer Behandlung muss immer beim Arzt liegen.“
Senior Vice President von T-Systems
Wo kommt bei Ihnen KI im Gesundheitswesen schon jetzt zum Einsatz?
Werner: An der Universitätsmedizin Essen nutzen wir KI für Forschungszwecke und zum Teil testweise in der Versorgung. Das Spektrum reicht von Algorithmen zur Vorhersage von Metastasierungen über die Erkennung des Knochenalters oder von Knochenbrüchen bis hin zur Bewertung des Regenerationspotenzials der Leber, um nur einige Beispiele zu nennen.
Ludewig: Im medizinischen Umfeld haben wir als Telekom mit dem Hamburger Startup TCC Analytics eine KI-Lösung im Einsatz, die in Krankenhäusern das Risko einer Blutvergiftung – immerhin die dritthäufigste Todesursache in Deutschland – reduziert. Im Krankenkassensektor bieten wir smarte Chatbots, die zum Beispiel eine durchgängige Erreichbarkeit für Versicherte in über 20 Ländersprachen garantieren. Wir stehen aber noch am Anfang der Entwicklung.
„Vieles können wir uns noch gar nicht vorstellen.“
Senior Vice President von T-Systems
Das Potenzial ist also noch lange nicht ausgeschöpft und KI wird langfristig zu einem besseren Gesundheitszustand der Gesellschaft führen?
Werner: Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass es mit Hilfe von KI gelingt, Krankheiten besser zu erforschen, zu heilen und damit Krankheitslast und Todesfälle zu verringern. Kliniken und Praxen verstehen sich heute, auch getrieben durch die Finanzierungspraxis, noch immer als Reparaturbetriebe. Zukünftig könnten sie mittels KI Vitaldaten, die unter anderem auch in Fitnessstudios erhoben und von Smartphones oder Smartwatches gemessen werden, signifikant umfassender auswerten, präzisere Prognosen treffen und Vorsorgeempfehlungen geben. Im besten Fall kann KI dazu beitragen, dass Krankheiten gar nicht erst entstehen.
Ludewig: Die Möglichkeiten sind grenzenlos und vieles können wir uns heute noch gar nicht vorstellen. Die wichtigsten Anwendungsszenarien sind aus meiner Sicht die Diagnose und Früherkennung von Krankheiten, denn KI-Systeme können Bildgebung, Laborergebnisse und Patientenakten analysieren. Zudem denke ich an den KI-Einsatz bei robotergestützter Chirurgie, Telemedizin, Gesundheitsüberwachung und Prävention sowie bei Gesundheitsmanagement und Kostenkontrolle.
KI dürfte also auch die personalisierte Medizin voranbringen …
Ludewig: Ja, denn KI hilft dabei, individuelle Behandlungspläne basierend auf den genetischen, klinischen und lebensstilbedingten Merkmalen eines Patienten zu entwickeln. Das wird die Effektivität von Therapien erhöhen und Nebenwirkungen minimieren.
Werner: Nehmen wir Volkskrankheiten wie Diabetes mellitus, Herzrhythmusstörungen oder Herzschwäche: Mithilfe von KI lassen sich individuelle Diagnostik und Therapie wie auch die Erfolgskontrolle präzisieren. KI-Systeme können die bereits erwähnten Vitaldaten in Beziehung zueinander setzen, sie mit der jeweiligen Altersgruppe vergleichen und bei Abweichungen Alarm schlagen.
Gibt es Krankheiten, für die KI-Anwendungen besonders Hoffnung machen?
Werner: Im Hinblick auf unser Verständnis der Entstehung und damit der Therapie von Krebserkrankungen beispielsweise erhoffe ich mir einen großen Fortschritt. Denn die Stärke von generativen KI-Technologien ist wie gesagt, dass sie relevante Informationen und neueste Studien schneller und präziser zusammentragen, Zusammenhänge und neue Muster erkennen können als der Mensch dazu jemals in der Lage wäre.
„Jede KI ist nur so gut, wie sie trainiert wird.“
Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen
Reicht der Stand der Digitalisierung aus, um mithilfe von KI flächendeckend die medizinische Versorgung zu verbessern?
Werner: Hier ist noch einiges zu tun. Denn KI ist immer nur die eine Seite der Medaille, Digitalisierung die andere. Ohne eine gute digitale Infrastruktur, die den reibungslosen Austausch von Daten auf Forschungsebene ermöglicht, wird die KI-Entwicklung nur langsam weiterkommen. Jede KI ist nur so gut, wie sie trainiert wird. Und dazu braucht es Daten in hoher Qualität – je mehr, desto besser. Notwendig ist die Digitalisierung aber auch, um Patientendaten auszutauschen.
Ludewig: In der Tat hängt die Leistung der KI-Systeme von der Qualität der Daten ab, mit denen sie gefüttert werden. Daher ist es wichtig, dass die jeweiligen Daten präzise, aktuell, vollständig und richtig sind.
Wo liegen Risiken von KI im Gesundheitswesen?
Ludewig: Künstliche Intelligenz ist nicht unfehlbar und wird es nie sein. Ein sorgsamer Umgang mit dem Thema ist daher wichtig. Richtlinien, wie sie etwa bei uns im Unternehmen existieren, können Leitplanken vorgeben. Der Grundgedanke sollte sein, dass die Technologie erstmal nur ein Werkzeug und an sich neutral ist. Es liegt an uns, sie positiv und sinnvoll einzusetzen. Der gesunde Menschenverstand darf niemals ausgeschaltet werden.
Werner: Das sehe ich genauso. Mediziner müssen lernen, zu beurteilen, ob die von der KI ausgegebenen Ergebnisse plausibel sind, in den Kontext passen und dann die richtigen Schlüsse ziehen.
„Die Gefahr der Abhängigkeit ist nicht zu unterschätzen.“
Senior Vice President von T-Systems
Wie groß ist die Gefahr einer Abhängigkeit von den Systemen?
Ludewig: Diese Gefahr ist nicht zu unterschätzen. Wenn medizinisches Personal stark auf KI-Systeme angewiesen ist, kann die menschliche Urteilsfähigkeit leiden. Dies ist besonders problematisch, wenn KI-Systeme ausfallen oder fehlerhafte Ergebnisse liefern. Deshalb muss das Personal gut qualifiziert sein.
Was muss getan werden, um allgemeines Vertrauen in KI-Anwendungen und die Datenverarbeitung zu schaffen?
Ludewig: Damit Patientinnen und Patienten, Ärzteschaft und medizinisches Personal der KI vertrauen, müssen Anwendungen im Gesundheitswesen in Übereinstimmung mit den Datenschutzgesetzen in Deutschland und der Europäischen Union entwickelt und betrieben werden. KI-Systeme sollten zudem nur die für ihren jeweiligen Zweck erforderlichen Daten verarbeiten. Es dürfen keine überflüssigen oder sensiblen Daten erfasst oder verwendet werden. Und Patientinnen und Patienten sollten über die Verwendung ihrer Daten informiert werden und müssen in die Verwendung einwilligen. Gesundheitsdaten sollten so weit wie möglich pseudonymisiert werden. Die KI-Anwendungen müssen nicht zuletzt gesichert werden – durch Verschlüsselung und Zugriffskontrolle. Darüber hinaus sollten Patienten, medizinisches Personal und Ärzteschaft informiert werden, wie die Daten verwendet und welche Entscheidungen auf ihrer Grundlage getroffen werden.
Wo steht Deutschland bei KI im Medizinsektor im internationalen Vergleich?
Ludewig: Wir haben wahnsinniges Potenzial und schlaue Köpfe, die an diesen Zukunftsthemen forschen und arbeiten. Deutschland lag in einem Bericht des Fachmagazins „Wirtschaftsdienste“ – gemessen an den wissenschaftlichen Publikationen zu Themen wie Machine Learning, Natural Language Processing oder Cognitive AI – unlängst hinter den USA und China auf dem dritten Platz. Es gibt viele Beispiele für spannende und innovative KI-Projekte hierzulande. Wir hinken aber hinterher bei der Übertragung von erfolgreicher Forschung in die gelebte Medizin und Versorgung. Das muss sich schleunigst ändern.
Müssen die politischen Rahmenbedingungen für KI verbessert werden?
Werner: Neben der digitalen Infrastruktur fehlt es im Hinblick auf KI vor allem an einer Novellierung des Datenschutzes. Er muss flexibler und pragmatischer werden. In dem Moment, in dem Patientinnen und Patienten sich Hilfe davon versprechen, geben sie gerne ihre Daten für die Entwicklung her, sofern die ethische Nutzung sichergestellt ist und ein medizinischer Fortschritt für alle erreicht werden kann.
Ludewig: Die politischen Rahmenbedingungen müssen definitiv verbessert werden. Die Menschen wollen die Unterstützung durch KI, wie Umfragen zeigen. Dabei sind klare Regelungen entscheidend, um die Entwicklung und Einführung von KI-Technologien zu unterstützen und sicherzustellen, dass die Interessen der Patientinnen und Patienten gewahrt bleiben.
Zur Person
Prof. Dr. Jochen A. Werner: Das wissenschaftliche Interesse des Hals-Nasen-Ohren-Arztes (Jahrgang 1958) liegt im Gebiet der Onkologie, speziell der lymphogenen Metastasierung. In seiner Laufbahn war er im Management zahlreicher deutscher Kliniken tätig und hatte Gastprofessuren in den USA und China inne. Seit 2015 ist Werner Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Essener Universitätsklinikums. Sein Plan ist es, die Uniklinik in ein „Human Hospital“ zu überführen. Für diese Arbeit wurde der Mediziner, Krankenhausmanager und Buchautor mehrfach ausgezeichnet.
Dr. Gottfried Ludewig: Gottfried Ludewig (Jahrgang 1982) leitet seit März 2022 die globale Gesundheitssparte bei T-Systems. Er führt über 700 Expertinnen und Experten und ist insbesondere für die strategische Entwicklung verantwortlich. Der gebürtige Bonner hat in seiner Amtszeit unter anderem die Kooperation Verimi abgeschlossen. Beide Unternehmen stellen den rund 27 Millionen Versicherten der AOK und rund 8,7 Millionen der Barmer digitale Identitäten zur Verfügung. Bis März 2022 war Ludewig Leiter der Abteilung "Digitalisierung und Innovation“ im Bundesministerium für Gesundheit. Zuvor war er sechs Jahre Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, gesundheitspolitischer Sprecher sowie stellvertretender Vorsitzender der CDU-Fraktion.
Mitwirkende des Beitrags
Autor
Datenschutzhinweis
Ihr Beitrag wird vor der Veröffentlichung von der Redaktion auf anstößige Inhalte überprüft. Wir verarbeiten und nutzen Ihren Namen und Ihren Kommentar ausschließlich für die Anzeige Ihres Beitrags. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht, sondern lediglich für eventuelle Rückfragen an Sie im Rahmen der Freischaltung Ihres Kommentars verwendet. Die E-Mail-Adresse wird nach 60 Tagen gelöscht und maximal vier Wochen später aus dem Backup entfernt.
Allgemeine Informationen zur Datenverarbeitung und zu Ihren Betroffenenrechten und Beschwerdemöglichkeiten finden Sie unter https://www.aok.de/pp/datenschutzrechte. Bei Fragen wenden Sie sich an den AOK-Bundesverband, Rosenthaler Str. 31, 10178 Berlin oder an unseren Datenschutzbeauftragten über das Kontaktformular.