KI in der Gesundheitsversorgung: Stolpern und Staunen
Künstliche Intelligenz (KI) kommt nach und nach im deutschen Medizinbetrieb an. In welcher Form sie bereits punktuell präsent ist und auf welche Hindernisse ihre breite Einführung stößt, hat Kai Wehkamp von der MSH Medicalschool Hamburg für G+G Wissenschaft eruiert. Eine wichtige Erkenntnis: Eines der Kernprobleme ist die fehlende systematische Verfügbarkeit homogener Daten. Außerdem müssen Fragen im Zusammenhang mit der Zulassung von KI-Anwendungen geklärt werden.
Daniel S. staunt nicht schlecht. Er ist in Tel Aviv beim hastigen Einsteigen in ein Taxi gestolpert und mit der Nase auf dem Bordstein aufgeschlagen. Ein Krankenwagen brachte ihn zum Sourasky Medical Center, Israels größtem Akutkrankenhaus, damit die Mediziner ihn dort durchchecken können. Notaufnahme, CT, Hals-Nasen-Ohren-Arzt, Augenarzt – das Personal schickt den Deutsch-Israeli über einen regelrechten Parcours kreuz und quer durch die Klinik. Alles passiert in rascher Folge und jedes Mal, wenn er ein Behandlungszimmer betritt, weiß der zuständige Arzt sofort, wer er ist und was die vorigen Kollegen bereits festgestellt haben. Innerhalb von drei Stunden hat Daniel S. die Diagnose (Nase gebrochen und ein paar kleinere Wunden) samt Eingriff (Richten des Nasenbeins und Nähen einer Wunde) hinter sich und verlässt die Klinik mit einem Verband im Gesicht. Was den technikaffinen Deutsch-Israeli verblüfft hat, war der Einsatz eines KI-Chatbots in der Notaufnahme. Dem hat Daniel S. seine gesundheitliche Problematik geschildert. Aus seinen Angaben hat der Chatbot einen Kurzbericht kreiert, den die Notärztin beim Gespräch mit ihm schon auf ihrem Monitor sah. Solche Berichte sollen dem medizinischen Personal helfen, die Lage schnell einzuschätzen. Der Chatbot schlug sogar konkrete Untersuchungs- und Behandlungsschritte vor. Ähnliches kennt Daniel S. aus Deutschland nicht.
Ein Viertel winkt ab
Das Beispiel zeigt: Digitalisierung und KI können den Alltag in einer Klinik besser strukturieren und dabei jede Menge Zeit und Nerven einsparen – sowohl für die Patienten als auch für das Personal. In Deutschland tut man sich allerdings zum Teil mit den neuen Techniken noch schwer. In einer nicht repräsentativen Online-Umfrage des Deutschen Innovationsinstituts für Nachhaltigkeit und Digitalisierung bekundeten im Jahr 2023 zwar 50,9 Prozent der teilnehmenden niedergelassenen und Klinikärzte, sie sähen den Mehrwert von KI im Versorgungsalltag beim Einsatz in der Diagnostik. Jedoch gaben 71,4 Prozent an, in ihrer Einrichtung noch über keine KI-Lösung für den medizinischen Versorgungsalltag zu verfügen. 25,6 Prozent sagten sogar, sie wollten künftig bewusst auf den Einsatz von KI in ihrem Versorgungsalltag verzichten.
Noch wenig KI in der Routineversorgung
Was gibt es überhaupt schon an KI in der medizinischen Versorgung in Deutschland? Mit dem Teilsegment „maschinelles Lernen“ (ML) kennt sich Kai Wehkamp aus. „ML ist dadurch gekennzeichnet, dass digitale Computersysteme aus großen Datenmengen abstrakte Muster ableiten beziehungsweise erlernen“, erklärt der Professor. Wehkamp konstatiert: „Es gibt in Deutschland bislang nur wenige zugelassene ML-Anwendungen im Routineeinsatz.“ Dann nennt er drei Einsatzgebiete samt Beispielen: Bildanalyse (Malignome bei Mammografien; mehrere Anwendungen), die Verarbeitung von Messwerten (EKG-Diagnostik; einige Anwendungen) sowie Erkennen und Voraussage von medizinischen Ereignissen (Früherkennung von Sepsis, Nierenversagen oder Sturz; wenige Anwendungen). Operations- und Pflegeroboter nutzen ML bislang allenfalls für dezidierte Teilaufgaben. Beim Einsatz von KI, die nach Eingabe von Stichwörtern neue Daten erzeugen soll, steht Deutschland noch ganz am Anfang. Zu dieser sogenannten generativen KI, die verschiedene ML-Verfahren kombiniert, gehören auch Chatbots.
Teilweise technische Schwierigkeiten
Bei der Konzeption von Anwendungen gibt es bisweilen Schwierigkeiten technischer Natur: „Viele Medizinprodukte verarbeiten inzwischen erfolgreich monomodale, eher statische Daten. Die Verarbeitung multimodaler, unstrukturierter Echtzeit-Daten bewegt sich hingegen an der Grenze des aktuell Machbaren.“ Damit meint Wehkamp: Material aus unterschiedlichen Formaten und Medien wie Text, Bild und Audio ohne Zeitverzug zusammenzuführen, ist immer noch ein großes Problem. Viele Anwendungen würden zudem aktuell noch als Einzellösungen entwickelt – teilweise nur, um die prinzipielle Machbarkeit zu erproben. Sie ließen sich oft nicht in die medizinische Routine integrieren, weil das gar nicht Ziel des Forschungsauftrags sei. „Um voranzukommen, ist die Einführung eines interoperablen einheitlichen Datenstandards essentiell“, mahnt der Professor. In diesem sollte die gesamte Gesundheits- und Krankengeschichte abgebildet werden, verbunden mit entsprechenden Datennutzungsmöglichkeiten für Versorgung, Forschung und Entwicklung. Noch ist ein solcher Standard nicht in Sicht, wenngleich Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in seiner Keynote bei der Branchenmesse DMEA im April 2024 schon davon sprach, dass Deutschland künftig einen Health-in-all-Policies-Ansatz vertrete und Forschern und Medizinern in absehbarer Zeit ein großer Datenschatz zur Verfügung stünde.
Wichtige Fragen klären
Im Rahmen der Zulassung von Anwendungen müssen, so Wehkamp, mehrere wichtige Fragen geklärt werden, darunter: Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass die Entscheidungen, zu denen manche KI-Systeme kommen, nicht vollständig transparent gemacht werden können? Und: Welche Fehlerquoten sollen wir KI-Anwendungen zugestehen? Schließlich machen Menschen auch Fehler. Reicht es, wenn sie nicht schlechter sind als Ärzte? Wehkamp meint: „Gerade für die aktuelle Phase der Transformation, in der neue ML-basierte Systeme zwar schon gut, aber noch nicht kontinuierlich zuverlässig agieren, müssen auch Sicherungssysteme diskutiert werden – die analog zu den bislang im Straßenverkehr zugelassenen Autopiloten – die laufende Aufmerksamkeit der verantwortlichen ärztlichen Behandler sicherstellen.“
Das Stichwort Straßenverkehr führt zurück zu Daniel S. Auch wenn er beeindruckt ist von der effizienten Behandlung im israelischen Krankenhaus, so schnell möchte er dort nicht wieder hin – außer zur Nachsorge. „Ich lasse mich nicht mehr hetzen und schaue genau, wohin ich die Füße setze. Meine Gesundheit ist schließlich das Wichtigste“, sagt er. Eine Devise, die so oder ähnlich auch für die Einführung von KI im Gesundheitswesen gelten sollte.
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