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Kooperation von Rettungsdiensten und Altenhilfe reduziert Klinikeinweisungen

13.01.2025 Solveig Giesecke 5 Min. Lesedauer

In Wiesbaden hat eine sektorenübergreifende Kooperation von Beratungsstellen des Amtes für Soziale Arbeit mit Rettungsdiensten dazu geführt, dass in mehr als der Hälfte der Fälle die Notrufenden nicht stationär aufgenommen werden müssen. Sie erhalten je nach Bedarf eine soziale beziehungsweise pflegerische Versorgung.

Foto: Eine ältere Frau wird von einem Rettungsdienstmitarbeiter betreut, der ihre Hand hält.
In Wiesbaden überprüfen die Rettungskräfte nicht nur den gesundheitlichen Status des Notrufenden, sondern auch das Vorliegen möglicher sozialer oder pflegerischer Bedarfe.

Single-Haushalte nehmen zu. Laut Statistischem Bundesamt gibt es in Deutschland mehr als 17 Millionen Einpersonenhaushalte. Auch immer mehr Menschen mit Unterstützungsbedarf leben allein, sind isoliert und manchmal unterversorgt. Wenn es gar nicht mehr geht, wird schon einmal der Rettungsdienst gerufen. In Wiesbaden wurde deshalb das Projekt „Schnittstellenmanagement bei Krankenhausaufnahme und -Entlassung“ gestartet, bei dem die Rettungskräfte nicht nur den gesundheitlichen Status des Notrufenden überprüften, sondern auch das Vorliegen möglicher sozialer oder pflegerischer Bedarfe.

Win-Win-Situation

Foto: Dr. Petra Schönemann-Gieck, Institut für Gerontologie, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
Dr. Petra Schönemann-Gieck, Institut für Gerontologie, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Bei dem Projekt handelt es sich um eine Kooperation zwischen Rettungsdiensten und den kommunalen „Beratungsstellen für selbständiges Leben im Alter“ des Sozialdezernats der Stadt Wiesbaden. Johannes Weber, inzwischen im Ruhestand, initiierte 2018 als Abteilungsleiter der Altenarbeit die Kooperation und übernahm die Leitung des Projektes, das vom hessischen Ministerium für Soziales und Integration gefördert wurde.

Die Kooperation gibt es bis heute. „Es ist eine Win-Win-Situation“, sagt Petra Schönemann-Gieck im Gespräch mit G+G. Denn es würden nicht nur die Kliniken und somit die Krankenkassen entlastet, sondern die Menschen erhielten auch ein Angebot, das auf ihre Versorgungsbedürfnisse zugeschnitten sei. Die Gerontologin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg hat die Zusammenarbeit im Projekt wissenschaftlich begleitet.

Mehr als die Hälfte der Klinikeinweisungen kann entfallen

Für ihre Studie „Kooperation zwischen Rettungsdienst und kommunaler Altenhilfe: ein Weg zur Entlastung der Notfallversorgung?“ wertete sie in den vier Jahren der Projektlaufzeit rund 650 Notfall-Situationen aus. In der Ergebnisanalyse heißt es: „Häusliche Unterversorgung, soziale Isolation und Verwahrlosung stellen die größten Problembereiche dar. Etwa die Hälfte der Notrufenden konnte zu Hause beraten beziehungsweise mit Unterstützungsangeboten versorgt werden.“

Es zeigte sich, dass die Fälle mit sozialen Hilfebedarfen kontinuierlich anstiegen. Während im ersten Jahr nach Einführung des Verfahrens monatlich etwa sechs Notfälle mit sozialen Bedarfen gemeldet wurden, waren es Mitte 2022 schon mehr als neun Fälle pro Monat. Anfang 2024 zeigte eine Auswertung von mehr als 843 Fällen einen Anstieg auf 3,7 gemeldete Personen wöchentlich mit insgesamt knapp 2.600 nichtmedizinischen Bedarfen über die Zeit.

Überforderte Angehörige

Die von den Rettungskräften mit 58,3 Prozent aller Fälle am häufigsten gemeldeten Bedarfe bezogen sich auf eine häusliche Unterversorgung. In 56,5 Prozent der gemeldeten Fälle mit sozialem Hilfebedarf ging es um Verwahrlosung, und in 41,4 Prozent der Fälle sahen die Rettungskräfte Hinweise auf überforderte Angehörige beziehungsweise eine Unterversorgung einer pflegebedürftigen Person. Neue Auswertungen zeigen jedoch ein starkes Anwachsen pflegebezogener Bedarfe. Inzwischen entfallen über die Hälfte der Meldungen (55 Prozent) auf pflegerische Unterversorgung und überforderte beziehungsweise verhinderte pflegende Angehörige.

In knapp einem Drittel der Fälle bestand eine Unterversorgung aufgrund einer psychiatrischen Erkrankung (31,6 Prozent). In 98 Prozent der gemeldeten Fälle wurde die Einschätzung der Rettungskräfte bestätigt und die Beratungsstellen wurden aktiv. Betroffen waren vorwiegend ältere Menschen, überwiegend Frauen. Aber auch zum Beispiel bei einer 14-jährigen Notrufenden bestand sozialer Handlungsbedarf. Die älteste Patientin mit Hilfebedarf war 98 Jahre alt. Bis heute begleitet Schönemann-Gieck die Kooperation wissenschaftlich. Heute komme man dank der Kooperation auf „eine Einweisungsquote von 48 Prozent“, sagt die Gerontologin. Ein Beispiel also für ein erfolgreiches Projekt, das auch nach Ablauf der Projektförderphase fortgeführt wurde – von der Stadt Wiesbaden, den kommunalen Beratungsstellen und den engagierten Rettungsteams.

Beratungsstellen sind Dreh- und Angelpunkt

Foto: Ulrike von Schilling, Amt für Soziale Arbeit, Abteilung Altenarbeit, Wiesbaden.
Ulrike von Schilling, Amt für Soziale Arbeit, Abteilung Altenarbeit, Wiesbaden

Dabei sind die Beratungsstellen – sie sind anders als in anderen Städten nicht nur Pflegeberatungsstellen – der Dreh- und Angelpunkt der Zusammenarbeit. „Die Beratungsstellen sind Ansprechpartner der Rettungskräfte. Hier werden die sozialen oder pflegerischen Versorgungsbedarfe gemeldet. Die Beratungsstellen sind ausgezeichnet vernetzt, nehmen den Notfall entgegen und koordinieren die Versorgung je nach Bedarf. Zu jedem Fall erhalten die Rettungsteams nach wenigen Tagen eine Rückmeldung, wie es der Person geht und wie sie versorgt wird“, erläutert Ulrike von Schilling vom Amt für Soziale Arbeit in Wiesbaden, gegenüber G+G. „Es ging in Wiesbaden deshalb, weil die Beratungsstellen für selbständiges Leben im Alter im Sozialdezernat die Meldungen der Rettungsdienste annehmen und weiterbearbeiten können“, erklärt von Schilling, die das Projekt ebenfalls seit den Anfangsjahren begleitet.
 

Was Kommunen tun können

Auf die Frage, was andere Kommunen tun müssten, um eine solche Kooperation erfolgreich aufzubauen, antwortet sie: „Es ist zunächst wichtig, die koordinierende Stelle oder Stellen neutral zu halten. Da ist die Kommune als Trägerin besonders gut geeignet. Dann muss die koordinierende Stelle mit allen sozialen und pflegerischen Anbietern der Stadt oder der Region und den Rettungsdiensten gut vernetzt sein.“ In vielen Städten eigneten sich etwa kommunale Pflegestützpunkte, um die zu koordinierenden Beratungsstellen und Ansprechpartner für die Rettungsteams auszubauen.

Und es komme noch etwas hinzu, fährt sie fort: Dank einer Regelung im hessischen Rettungsgesetz könnten Daten ausgetauscht werden, soweit es der Weiterversorgung des Patienten diene. „Das ist natürlich hilfreich“, so von Schilling. Rechtsgrundlage für die Datenübermittlung zwischen Rettungsdienst und Beratungsstellen für selbständiges Leben im Alter sei Paragraf § 17 Abs. 1 S. 1 im Hessischen Rettungsdienstgesetz (HRDG), in dem die Weiterverarbeitung personenbezogener Daten „zur weiteren Versorgung der rettungsdienstlich versorgten Personen“ festgelegt sei.

„Das Kooperationsverfahren ist ein vielversprechender Ansatz zur Entlastung des Rettungsdiensts und der Krankenhäuser.“

Dr. Petra Schönemann-Gieck,

Institut für Gerontologie, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Digitaler Meldebogen

Die Rettungskräfte überprüften nicht nur den gesundheitlichen Status des Notrufenden, sondern anhand eines Meldebogens mit vorgegebenen Kategorien – in der Regel liegt er den Kräften digital vor – auch das Vorliegen möglicher sozialer oder pflegerischer Bedarfe. Je nach medizinischen Erfordernissen erfolgt die Versorgung vor Ort beziehungsweise ein Transport in ein Krankenhaus. Die Entscheidung der zusätzlichen Einbindung des Amts für soziale Arbeit beziehungsweise der Beratungsstellen trifft das Rettungsteam vor Ort – je nach persönlicher Einschätzung und Ergebnis des Meldebogens.

Schönemann-Gieck kommt zu dem Schluss: „Das Kooperationsverfahren ist ein vielversprechender Ansatz zur Entlastung des Rettungsdiensts und der Krankenhäuser.“ Die Beratungsstellen und die versorgungsbedürftigen Personen profitierten, weil über das Konzept Menschen frühzeitiger erreicht werden könnten. Die zumeist älteren Notruf-Patientinnen und -Patienten mit sozialem Betreuungsbedarf würden über die Beratungsstellen gut versorgt werden. Das Projekt habe „einen Beitrag zur Reduzierung von Krankenhauseinweisungen ohne klinisch-medizinische Indikation“ geleistet.

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Über die Grenzen von Altenhilfe und Gesundheitswesen hinweg

Eine Weiterentwicklung der Notfallversorgung vor dem Hintergrund demografischer Veränderungen erfordere in zukünftigen Diskussionen um vermeidbare Klinikaufenthalte eine Betrachtung über die Grenzen von Altenhilfe und Gesundheitswesen hinweg. „Das Interesse am Verfahren ist groß und erstreckt sich auf Anfragen aus anderen Gebietskörperschaften“, so Schönemann-Gieck. Ein Transfer des Verfahrens könne jedoch nur gelingen, wenn Übernahmestrukturen im ambulanten Bereich – wie die Wiesbadener Beratungsstellen für selbständiges Leben im Alter – vor Ort verfügbar seien.

Eine Erfahrung über die Jahre, die Schönemann-Gieck gerne wissenschaftlich abklären würde, ist die Tatsache, „dass es Anrufer gibt, die regelmäßig den Notruf bemühen, dann aber soziale, psychologische oder pflegerische Unterstützung nicht annehmen“. In einem Fall habe die Person bereits 160 Mal den Rettungsdienst gerufen. „Wir habe hier die großartige Möglichkeit, Daten vom Rettungsdienst mit sozialen Daten zu verknüpfen, um die Bedarfslagen dieser sogenannten Frequent User ermitteln zu können.“ Dieses Phänomen gebe es sicher nicht nur in Wiesbaden. „Wenn man da die Ursachen angehen könnte, wäre das sehr wertvoll.“

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