Artikel Versorgung

Gemeinsam gegen Mangelernährung

05.12.2024 Thomas Rottschäfer 4 Min. Lesedauer

Ernährungsmediziner führen 55.000 Todesfälle in deutschen Krankenhäusern auf nicht rechtzeitig erkannte Mangelernährung zurück. Kliniken und Krankenkassen wollen jetzt gegensteuern.

Eine ältere Dame liegt im Krankenhausbett mit einer Schale Essen auf ihrem Bauch. Sie schaut abwesend und müde drein.
Durch Mangelernährung komme es vielfach zu Komplikationen bei der Behandlung und verzögerter Genesung.

Die Zahlen lesen sich heftig: „Mangelernährung in deutschen Krankenhäusern betrifft jeden vierten bis fünften Patienten und bleibt oft unbehandelt. Mit fatalen Folgen: Die Sterblichkeit mangelernährter Patientinnen und Patienten ist um das Dreifache erhöht und die stationären Mehrkosten belaufen sich jährlich auf bis zu 8,6 Milliarden Euro.“ Diese Daten stammen von der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM).

Dabei geht es nicht vorrangig um die Qualität des Krankenhausessens. Was Pflegerinnen und Pfleger dreimal täglich in deutschen Krankenzimmern auftragen, ist in der Regel besser als sein Ruf. Im internationalen Vergleich steht das Krankenhausessen hierzulande sehr gut da. Das Gesundheitsproblem bringen die Patientinnen und Patienten bereits mit in die Kliniken. „Je nach Studie erreichen 20 bis 60 Prozent der Patientinnen und Patienten das Krankenhaus in einem mangelernährten Zustand“, erläutert der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Dr. Gerald Gaß. „Betroffen sind vor allem ältere oder chronisch kranke Personen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht ausreichend und angemessen ernährt sind oder aus Krankheitsgründen Probleme mit der Ernährung haben, das tritt vor allem bei Krebs auf.“

Fatale Auswirkungen im Krankenhaus

„Mangelernährung ist kein Randproblem“, sagt DGEM-Vizepräsident Prof. Matthias Pirlich. Sie schwäche das Immunsystem, lasse Muskelmasse schwinden und mindere die Lebensqualität der Betroffenen erheblich. Bei Menschen im Krankenhaus seien diese Auswirkungen besonders fatal. Es komme vielfach zu Komplikationen bei der Behandlung und verzögerter Genesung. Die DGEM nennt Schätzungen, nach denen in Deutschland jedes Jahr rund 200.000 mangelernährte Patientinnen und Patienten im Krankenhaus sterben.

Die Erkenntnisse sind nicht neu. „Das Phänomen der krankheitsassoziierten Mangelernährung und die vielfältigen medizinischen, sozialen und gesundheitsökonomischen Folgen sind in den letzten 30 Jahren wissenschaftlich so gut untersucht und belegt worden, dass auch die Europäische Union Maßnahmen gegen die hohe Prävalenz der Mangelernährung im Krankenhaus fordert“, erläutert die DGEM. Trotzdem finde das Problem im klinischen Alltag immer noch unzureichend Aufmerksamkeit. Deshalb verschlechtere sich häufig der Ernährungszustand von Patientinnen und Patienten während einer Klinikbehandlung weiter.

„Ein systematisches Ernährungsmanagement könnte jährlich rund 55.000 Todesfälle vermeiden.“

Prof. Matthias Pirlich

Endokrinologe, Ernährungsmediziner und DGEM-Vizepräsident

Screening bei der Aufnahme nötig

„Ein systematisches Ernährungsmanagement könnte jährlich rund 55.000 Todesfälle vermeiden“, betont der Endokrinologe und Ernährungsmediziner Pirlich. Seine Fachgesellschaft fordert schon länger ein verpflichtendes Screening auf Mangelernährung bei der Patientenaufnahme. Eine daran anschließende individuelle Ernährungstherapie könne dann auch die Gesamtkosten der Behandlung senken. Die DGEM verlangt zudem, „dass alle Krankenhäuser verpflichtend über qualifizierte Ernährungsteams verfügen sollten“.

Für gutes Essen müsse es auch gutes Geld geben, verlangt der Leitende Arzt am Münchener Zentrum für Ernährungsmedizin und Prävention und DGEM-Präsident Gert Bischoff. Der Alltag sieht anders aus: Nach Angabe der DKG geben deutsche Krankenhäuser im Schnitt „etwa sechs Euro pro Belegungstag für den Wareneinsatz für die Ernährung aus“. „Eine qualitativ hochwertige Ernährungsversorgung kann so kaum gewährleistet werden“, kritisiert Bischoff. „Auch unter den angespannten wirtschaftlichen Bedingungen erhalten die Patientinnen und Patienten das für ihre Behandlung beziehungsweise Erkrankung geeignete Essen. Das stellen unter anderem Diätköche sicher“, hält die DKG dagegen.

Über Qualitätsverträge zu Verbesserungen

Auch die Krankenhausgesellschaft sucht nach Lösungen und verweist auf zahlreiche Modellprojekte. Doch „fehlte in den Krankenhäusern bislang ein flächendeckender systematischer Ansatz, mit diesem Problem im Rahmen der relativ kurzen Krankenhausverweildauer umzugehen“, sagt Vorstandschef Gaß. Einige Häuser hätten bereits eigenständig Ernährungsteams gebildet, obwohl diese bislang nicht durch die gesetzliche Krankenversicherung finanziert worden seien. Die DKG habe sich deshalb für Qualitätsverträge mit den Krankenkassen zum Umgang mit Mangelernährung eingesetzt. Dabei gehe es auch um die Gegenfinanzierung von Mehrkosten, insbesondere für „personalintensive Beratungen der Patienten und entsprechende individuelle Ernährungsumstellungen“, so Gaß. DGEM-Präsident Bischof betrachtet Qualitätsverträge als „große Chance, die Versorgung der Patientinnen und Patienten signifikant zu verbessern und ein Ernährungsteam zu finanzieren“. 

Foto: Eine Pflegeperson trägt ein Tablett mit Essen in der Hand, dahinter liegt eine Patientin im Bett eines Krankenhauses.
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GBA hat Grundlagen geschaffen

Bereits im Juli 2022 hatte der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) die „Diagnostik, Therapie und Prävention von Mangelernährung“ auf die Liste der Leistungsbereiche gesetzt, für die Krankenhäuser und Krankenkassen Qualitätsverträge schließen dürfen. Teil dieser Vereinbarungen können auch finanzielle Anreize für das Erfüllen besonderer Qualitätsanforderungen oder die Empfehlung des betreffenden Krankenhauses durch die Krankenkasse sein. Nach Abschluss der Verhandlungen über die Rahmenbedingungen für die Verträge können die Qualitätsvereinbarungen seit Anfang dieses Jahres in die Praxis umgesetzt werden. Für die Prüfung und Zulassung von Projektverträgen ist das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) zuständig. Doch die Projekte laufend nur schleppend an.

Vorreiter AOK Bayern

Unter Dach und Fach ist laut GBA-Übersicht aktuell nur ein entsprechender Qualitätsvertrag. Vorreiter sind die AOK Bayern und das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in München. Nach Vertragsstart zum 1. September sind inzwischen 16 Betriebskrankenkassen sowie die Viactiv Krankenkasse als Partner hinzugekommen. Laut Vereinbarung „soll eine stationäre Versorgungsstruktur zur Diagnose, Behandlung und Prävention von Mangelernährung aufgebaut und erprobt werden. Der Vertrag läuft bis Ende Februar 2027. Anschließend wird das IQTIG die Ergebnisse auswerten. Laut Institutssprecher Marc Kinert „befinden sich darüber hinaus Projektpläne zu diesem Leistungsbereich bei uns in Prüfung, die in entsprechende Verträge münden werden“.

Screening und individuelle Ernährungstherapie

Die Vereinbarung sieht für erwachsene Versicherte der AOK Bayern und der anderen Partnerkassen im Fall einer stationären Behandlung ein standardisiertes Screening vor, um eine vorliegende Mangelernährung zu erkennen. „Darauf aufbauend erstellt das Ernährungsteam ein Konzept für eine individualisierte Therapie“, heißt es in der Info zum Start des Projektes. Das Konzept beinhalte einen individualisierten Behandlungsplan, eine spezifische Ernährungstherapie und eine Ernährungsberatung. Während des stationären Aufenthaltes kümmere sich ein Team von Ernährungsmedizinern und Ernährungsfachkräften um die Betroffenen. Dabei seien auch die Ärztinnen und Ärzte mit eingebunden, die die Grunderkrankung der Patientinnen und Patienten behandeln.

Lösung über den Klinikaufenthalt hinaus

„Bei der Entlassung erhalten mangelernährte Patientinnen und Patienten umfassende Informationen zur Fortsetzung der Ernährungstherapie“, erläutert die AOK Bayern. „Sie sollen so das Rüstzeug bekommen, einer Mangelernährung auch im Alltag zu Hause entgegenwirken zu können.“ Dieser Punkt ist auch der DKG wichtig. Denn das Problem einer Mangelernährung könnten beileibe nicht allein die Krankenhäuser in der begrenzten Zeit einer stationären Behandlung lösen. „Dafür benötigt es dauerhafte Anstrengungen in der Weiterversorgung, in Pflegeheimen, in der Familie oder im niedergelassenen Bereich“, unterstreicht Vorstandschef Gaß.

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