Umstrittene Orphan-Drug-Sonderregeln
Wer hierzulande an einer seltenen Erkrankung leidet, hat im EU-Vergleich sehr gute Chancen auf neue Medikamente. Doch der Forschungsbedarf ist weiter groß.
In Deutschland kommen Medikamente zur Behandlung seltener Erkrankungen, sogenannte Orphan Drugs, besonders schnell auf den Markt. „90 Prozent der von der Europäischen Arzneimittelagentur zugelassenen neuen Medikamente stehen innerhalb von sechs Wochen auf dem deutschen Markt zur Verfügung“, sagte jetzt der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA), Josef Hecken, bei einem Fachgespräch im Gesundheitsausschuss des Bundestages. Damit sei Deutschland bei der Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen weltweit führend.
Seltene Erkrankungen sind gar nicht selten. In der Europäischen Union leben laut Daten der EU-Kommission bis zu 36 Millionen Menschen mit einer „rare disease“. Die Zahl der seltenen Erkrankungen wird auf bis zu 8.000 weltweit geschätzt. Gemeinsam ist ihnen die jeweils geringe Zahl der Patientinnen und Patienten. Als „selten“ gilt laut EU-Definition eine Erkrankung, wenn sie weniger als fünf von 10.000 Menschen betrifft. Das kann eine Handvoll Menschen sein, aber auch eine Gruppe von bis zu 250.000 Erkrankten.
Entwicklung nicht immer unwirtschaftlich
Fast alle haben das Problem, dass sich für Pharmaunternehmen geringe Patientenzahlen kaum rechnen. Das Argument der Industrie: Die Entwicklungskosten stehen in keinem wirtschaftlichen Verhältnis zum möglichen Absatzmarkt. Anders sieht es Maximilian Blindzellner vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Der Arzneimittelexperte bezweifelte im Gesundheitsausschuss die grundsätzliche Annahme, dass Medikamente gegen seltene Erkrankungen für die Entwickler unwirtschaftlich seien. Tatsächlich sei der Markt in einigen Segmenten durchaus „umsatzträchtig, hochprofitabel und stark wachsend“, zitiert ihn der Dienst „Heute im Bundestag“.
Kleine Patienten leiden am meisten
Unstrittig ist jedoch, dass ausbleibende Innovationen in erster Linie kleine Patienten treffen. Denn in 70 Prozent der Fälle sind es Kinder, die von Geburt oder frühen Jahren an unter einer seltenen Erkrankung leiden. Zu 80 Prozent haben die Seltenen eine genetische Ursache. Die meisten sind chronisch, viele lebensbedrohlich, nicht wenige führen zu Invalidität. Den Betroffenen bleibt vor allem die Hoffnung auf wissenschaftliche Forschungserfolge an öffentlichen Instituten und Universitätskliniken, die dann in Pharmakooperationen münden.
Ausnahmeregeln für schnellen Marktzugang
Hat die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) ein Orphan Drug zugelassen, ermöglichen Sonderregelungen im deutschen Arzneimittelrecht einen schnellen Marktzugang. Für diese Präparate gelten zudem nicht die strengen Kriterien der Arneimittel-Nutzenbewertung und die daran anschließenden Preisverhandlungen zwischen Herstellern und Krankenkassen. Laut Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) wird einem Medikament zur Behandlung einer seltenen Erkrankung mit der EMA-Zulassung der Zusatznutzen automatisch zugebilligt. Der Jahresumsatz für das Medikament darf allerdings eine Schwelle von 30 Millionen Euro nicht überschreiten. Macht der Hersteller mehr, muss sein Produkt nachträglich das AMNOG-Verfahren durchlaufen. Laut GBA war das in neun Fällen bisher der Fall.
Die finanzielle Kehrseite der schnellen Versorgung sind hohe Medikamentenpreise. Denn die gesetzlichen Krankenkassen müssen den Preis bezahlen, den die Unternehmen festlegen. Nach Berechnungen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) machten Orphan Drugs in Deutschland 2021 lediglich 0,07 Prozent aller verordneten Medikamente aus. „Diese Rezepte stehen jedoch für 12,8 Prozent der Arzneimittelausgaben in Höhe von insgesamt mehr als 50 Milliarden Euro“, erläuterte GBA-Chef Hecken im Gesundheitsausschuss. Das entspricht rund 6,4 Milliarden Euro.
Zusatznutzen bei der Mehrzahl „nicht quantifizierbar"
Trotz des mit Zulassung bescheinigten Zusatznutzens analysiert das vom GBA beauftragte Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) auch die Studienlage zu neuen Orphan Drugs. Nach neuen Zahlen des GBA wurden vom AMNOG-Inkrafttreten Anfang 2011 bis zum 7. November dieses Jahres 126 Orphan Drugs auf ihren Nutzen im Vergleich zu bereits vorhandenen Therapien hin bewertet. Besonders häufig ging es dabei um neue Medikamente für die Bereiche Hämatologie (Blutkrankheiten) und Onkologie (Krebserkrankungen). Über die fast vier Jahre hinweg attestierten IQWiG und GBA 14 Präparaten einen „beträchtlichen Zusatznutzen“, in vier Fällen sogar einen „erheblichen Zusatznutzen“. 19 Medikamenten wurde ein „geringer Zusatznutzen“ zuerkannt. In 89 Fällen kam das IQWiG jedoch zu dem Urteil, ein Mehrnutzen sei „nicht quantifizierbar“.
Experten stellen Sonderstellung in Frage
WIdO-Geschäftsführer Helmut Schröder stellt deshalb fest, „dass eine Vielzahl von aufwändigen Forschungsvorhaben der Pharmazeutischen Industrie bis zur Einführung eines neuen Arzneimittels nicht zu einer verbesserten Versorgung führen“. Auch im Oprhan-Drug-Segment sei die Mehrzahl neuer Medikamente gegenüber Vergleichstherapien ohne Zusatznutzen für Patienten. Der WIdO-Experte hält deshalb die AMNOG-Sonderregelungen für nicht mehr gerechtfertigt. Auch der GKV-Spitzenverband fordert für Orphan Drugs den Zusatznutzen-Nachweis als Basis für angemessene Preise. Viele Präparate seien „auch ohne Privilegien profitabel“, sagte Maximilian Blindzellner im Bundestag.
„In der EU haben wir schon jetzt eine Schutzfrist von elf Jahren.“
Direktorin der EU-Vertretung der deutschen Sozialversicherungen (DSV)
EU will Pharmaforschung belohnen
Die niedrige Zahl von 126 Orphan Drugs im Vergleich zu 867 anderen im gleichen Zeitraum vom IQWiG bewerteten neuen Medikamenten verdeutlicht jedoch die Forschungslücke in diesem Bereich. Die EU fördert deshalb die Entwicklung neuer Orphan Drugs schon seit langem durch Sonderregelungen bei der EMA-Zulassung. Die Prüfungen erfolgen fachlich nicht weniger streng, aber organisatorisch bevorzugt. Im Zusammenhang mit der anstehenden Reform der EU-Arzneimittelgesetzgebung sind weitere Maßnahmen zur Unterstützung der Pharmaforschung im Bereich „kritischer Arzneimittel“ geplant.
Mit finanziellen Anreizen will die EU nicht nur die Entwicklung von Orphan Drugs, sondern auch die Forschung für neue Antibiotika und Medikamente speziell für Kinder in Schwung bringen. Das geplante Pharma-Paket beinhaltet auch längere Patent- und Unterlagenschutzfristen zum Abschirmen neuer Medikamente vor der Konkurrenz durch Nachahmer-Produkte (Generika). Das Europaparlament hatte seine Vorstellungen zur Pharmareform bereits vor den jüngsten Europawahlen formuliert. Eine gemeinsame Position der 27 Mitgliedstaaten steht hingegen immer noch aus. Die deutschen Krankenkassen lehnen längere Schutzfristen ab. „In der EU haben wir schon jetzt eine Schutzfrist von elf Jahren“, sagte die Direktorin der EU-Vertretung der deutschen Sozialversicherungen (DSV), Ilka Wölfle, im G+G-Interview. Das sei für die Industrie äußerst attraktiv: „Originalpräparate sind im Schnitt um etwa das Siebenfache teurer als Generika.“
Gerechte Versorgung in allen EU-Staaten
Auf EU-Ebene geht es neben der Finanzierung der Pharmaförderung auch um die Frage einer gerechten Versorgung in allen 27 EU-Gesundheitssystemen. Generell sind Innovationen bisher in den EU-Hochpreisländern schneller verfügbar, während Patienten in ärmeren EU-Ländern länger warten müssen. Dabei spielen auch die jeweiligen nationalen Modelle der Preiserstattung eine Rolle. So dauert es etwa in Malta nach Angaben des EU-Pharmaverbandes EFPIA im Schnitt fast vier Jahre, bis ein von der EMA neu zugelassenes Arzneimittel für die Einwohner des Mittelmeer-Inselstaates verfügbar ist. In Deutschland sind es laut Verband lediglich 128 Tage.
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