Notaufnahmen nicht durch Bagatellfälle blockieren
Seit Jahren beklagen Krankenhausmediziner massive Belastungen der Notaufnahmen durch Patienten, die während der Praxisöffnungszeiten auch vertragsärztlich behandelt werden könnten. Welches Verfahren zur gesicherten Patientensteuerung das RoMed Klinikum in Rosenheim mit Kooperationspraxen getestet hat, erläutert Dr. Michael Bayeff-Filloff, Chefarzt der Zentralen Notaufnahme, im Interview.


Herr Dr. Bayeff-Filloff, warum sind Notaufnahmen in Deutschland häufig überlastet?
Dr. Michael Bayeff-Filloff: Ein Grund ist die relativ hohe Zahl der Selbsteinweiser in die Notaufnahmen. In unserer Klinik waren das im Jahr 2024 46 Prozent der erwachsenen Patienten. Gleichzeitig registrieren unsere Ersteinschätzungssysteme bei rund 50 Prozent eine normale oder nicht dringliche Behandlungspriorität. Hinzu kommt: Die Ersteinschätzungssysteme – Manchester-Triage-System (MTS) und Emergency Severity Index (ESI) – sind auf Szenarien ausgelegt, nach denen Patienten immer in der Klinik bleiben. Dort beanspruchen sie dann teilweise Kapazitäten, die sie nicht benötigen, die aber die Notaufnahme überlasten.
Können Sie die Ersteinschätzungssysteme genauer erklären?
Bayeff-Filloff: Sicher. Das fünfstufige MTS definiert die maximale Zeit bis zum ersten Arztkontakt. Patienten mit den Stufen rot und orange müssen wir sofort beziehungsweise sehr dringlich, das heißt innerhalb von zehn Minuten, behandeln. Patienten in der untersten Stufe sollten innerhalb von 120 Minuten einen Arzt sehen. Bagatellfälle, bei denen es genügt, wenn Erkrankte am selben oder am nächsten Tag einen Haus- oder Facharzt aufsuchen, werden durch das MTS nicht abgebildet. Das heißt, dem klinischen Ersteinschätzungssystem fehlen Parameter für einen möglichen Wechsel von der Notaufnahme in die ambulante Versorgung.
Deshalb verwenden Sie am Klinikum Rosenheim ein zweistufiges System. Wie funktioniert das?
Bayeff-Filloff: Wir verwenden eine Kombination aus MTS und der Software SmED – Strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland, das in der Telefonabfrage 116117 der Kassenärztlichen Vereinigung flächendeckend etabliert ist. SmED beinhaltet das Element „Versorgungsebene“, also neben der Klinik auch die Arztpraxis. Konkret läuft das so: Neuzugänge in der Notaufnahme kategorisieren wir zunächst mit MTS. Patienten mit niedriger Behandlungspriorität, durchlaufen anschließend SmED. Das heißt, eine medizinische Fachkraft führt die Erkrankten am Computer durch einen Frage-Algorithmus, der relativ zügig mit einer Behandlungsempfehlung in der passenden Versorgungsebene endet. Das kann im Zweifelsfall im Sinne der Patientensicherheit dann doch die Notaufnahme sein – häufig aber eben der vertragsärztliche Bereich.
Es gibt die telefonische Ersteinschätzung der Kassenärztlichen Vereinigung unter der Nummer 116 117, über die Patienten Empfehlungen zur richtigen Anlaufstelle erhalten. Zudem existiert die Möglichkeit, online selbst den richtigen Behandlungspfad zu ermitteln. Warum landen trotzdem so viele Menschen, die in Praxen besser aufgehoben wären, in den Rettungsstellen?
Bayeff-Filloff: Oft scheitert dies am geringen Bekanntheitsgrad der von Ihnen genannten Angebote. Das Internet fördert außerdem oft das Anspruchsdenken mancher Bürger, die glauben, sie müssten sofort ins CT oder MRT. Dann existiert die Gruppe der sogenannten Frequent User, die wiederholt grundsätzlich die Notaufnahme oder den Rettungsdienst beanspruchen. Oft aufgrund psychosozialer Probleme. Hinzu kommen ausländische Mitbürger, die unser Hausarztsystem nicht kennen. Für sie existiert nur die Klinik.
Erreichen Sie diese „Stammkunden“ mit dem Modell der Patientensteuerung in Rosenheim?
Bayeff-Filloff: Wir haben die Effekte durch eine wissenschaftliche Begleitstudie untersucht. 193 Hilfesuchende beteiligten sich und erhielten in der Notaufnahme die erweiterte Ersteinschätzung mit Hilfe von MTS und SmED. Rund 89 Prozent bekamen eine Empfehlung zur Weiterbehandlung in einer Arztpraxis. Gut 60 Prozent von ihnen konnten wir in eine Praxis weiterleiten. Darunter waren wiederum 6,9 Prozent Rückläufer – also Menschen, die innerhalb von drei Tagen erneut in unserer Zentralen Notaufnahme vorsprachen, nachdem wir sie ins ambulante Setting weitergeleitet hatten. Das ist ein guter Wert. Wichtig ist dabei, dass bei keinem Rückläufer dringliche medizinische Gründe ausschlaggebend für ihr Wiederauftauchen waren.
„Wir müssen die Gesundheitskompetenz der Bürger stärken, damit sie wissen, welcher Behandlungspfad in einer konkreten Situation geeignet ist.“
Chefarzt der Zentralen Notaufnahme am RoMed-Klinikum Rosenheim
Benötigen Sie für das zweistufige Ersteinschätzungssystem zusätzliches Personal?
Bayeff-Filloff: Ja. Wir brauchen in Spitzenzeiten zwei Sichtungskräfte, weil ja unter den ankommenden Patienten jemand sein kann, der in Stufe rot oder orange gehört. Das anschließende SmED übernimmt deshalb eine weitere Kraft, die in unserem Fall aber die Kassenärztliche Vereinigung (KV) gestellt hat. Die ausstehende Notfallreform wird unter anderem entscheiden müssen, wie die Zuständigkeiten künftig sein werden. Da auch wir den Fachkräftemangel spüren, könnte eine Lösung sein, Patienten mit niedriger Behandlungspriorität nach dem MTS zu einem Terminal zu schicken, an dem sie das SmED selbst durchführen und am Ende einen Termin bekommen. Auch müssen teleärztliche Angebote integriert werden.
Mit wie vielen Arztpraxen kooperiert das Klinikum Rosenheim?
Bayeff-Filloff: Anfangs waren es acht Praxen in einem Umkreis von vier Kilometern, in die wir Patienten weitergeleitet haben. Mittlerweile wollen sich mehr als 50 Praxen beteiligen.
Das heißt, Sie streben eine flächendeckende Vernetzung an?
Bayeff-Filloff: Die Praxen sollten sich schon aus Gründen der Zumutbarkeit im Klinikumfeld befinden. Wir können Patienten ja nicht sagen, sie sollen fünf Kilometer oder mehr fahren. Aber wir brauchen eine größere Zahl, weil es nicht nur darum geht, Patienten aus der Notaufnahme ins ambulante Setting zu leiten. Unser Ziel ist es auch, dass der Rettungsdienst bei Bagatellfällen gar nicht erst die Klinik, sondern direkt einen Vertragsarzt ansteuert.
Wäre es nicht besser, wenn Patienten bei Bagatellen den Rettungswagen gar nicht erst rufen würden?
Bayeff-Filloff: Leider ist es so, dass der Rettungswagen häufig unnötig alarmiert wird. Gleichzeitig weiß der Disponent in der Leitstelle aus der Notrufabfrage, dass kein lebensbedrohlicher Zustand vorliegt, muss aber dennoch zeitnah einen Rettungswagen schicken. Wir sprechen auch hier von niedrigschwellig Hilfesuchenden. Deshalb erproben wir künftig an vier Standorten in Bayern das sogenannte Rettungseinsatzfahrzeug. Gedacht für Fälle, in denen ein Anruf bei der Leitstelle ergab, dass keine Lebensgefahr besteht, die Notfallsanitäter aber dennoch den Patienten untersuchen sollten. Dafür nimmt man das Rettungseinsatzfahrzeug, das sich vom normalen Rettungswagen darin unterscheidet, dass es keine Patienten transportieren kann.
Und wenn die Notfallsanitäter vor Ort feststellen, dass, wie vermutet, kein Notfall im Sinne des Rettungsdienstes vorliegt?
Bayeff-Filloff: Dann untersuchen sie den Patienten und organisieren anschließend – wenn nötig – über SmED und die Terminservicestelle der KV einen Termin bei einem niedergelassenen Kollegen. Das funktionierte in der Machbarkeitsstudie in Regensburg sehr gut.
Zusammengefasst umfasst das fortgeschriebene Rosenheimer Modell also zwei Komponenten: Einerseits lenken Sie und Ihre Kollegen Patienten mit Bagatellerkrankungen mittels einer Kombination der Ersteinschätzungssysteme MTS und SmED von der Notaufnahme in die Praxen. Andererseits leitet der Rettungsdienst entsprechende Patienten ebenfalls zu niedergelassenen Kollegen. Richtig?
Bayeff-Filloff: So ist es. Wichtig ist jedoch ein dritter Aspekt: Wir müssen die Gesundheitskompetenz der Bürger stärken, damit sie wissen, welcher Behandlungspfad in einer konkreten Situation geeignet ist.
Wie könnte man eine solche Stärkung der Gesundheitskompetenz fördern?
Bayeff-Filloff: Die Gesundheitsberatung im Internet ist in der Frage „Muss ich zum Arzt?“ gerade in vermeintlichen Notfallsituationen nicht immer förderlich. Ich denke, hier können die Krankenkassen über ihre Plattformen einen relevanten Beitrag zur Patientensicherheit leisten. Dazu bin ich beispielsweise mit der AOK Bayern in Kontakt.
Die Studie zum Pilotprojekt haben Sie und Ihre Kollegen veröffentlicht. Wie geht es weiter?
Bayeff-Filloff: Ab 1. April 2025 überführen wir das Projekt in Rosenheim in die Regelversorgung.
Zur Person
Dr. Michael Bayeff-Filloff ist Facharzt für Chirurgie, Chefarzt der Zentralen Notaufnahme und Ärztlicher Qualitätsbeauftragter am RoMed-Klinikum Rosenheim. Seit 2013 ist er Ärztlicher Landesbeauftragter Rettungsdienst im Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration.
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