Finger in der Wunde
Während der Gesundheitstagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe analysierten Ärzte, Pflegekräfte und Politiker die medizinische Versorgung von Menschen ohne eigenes Dach über dem Kopf. Vor allem im Großstädten ist die Lage teilweise dramatisch. Die Experten diskutierten über funktionierende Hilfsangebote und mögliche Wege aus der Misere. Für eine grundlegende Verbesserung in Berlin könnte ein neues Versorgungskonzept der Landesgesundheitskonferenz sorgen.
Wenn Dirk Dymarski medizinische Hilfe benötigte, glich der Weg dahin oft einem Spießrutenlauf. Ohne Krankenversicherung, ohne festen Wohnsitz war er nicht überall willkommen. In der Notaufnahme wurde er als Alkoholiker abgestempelt, sich dagegen zu wehren, fiel ihm schwer. „Wenn ich nervös bin, beginne ich zu stottern“, erzählt er im Gespräch mit G+G. „In Großstädten gibt es Praxen mit engagierten Ärzten, die auch Obdachlose behandeln, aber auf dem Land ist es viel schwieriger für Menschen wie mich.“ So seien schon die Kosten für die Fahrt mit dem Bus für viele unerschwinglich.Nachdem sein Vater gestorben war, hatte ihn die Mutter vor die Tür gesetzt, um Platz für einen neuen Partner zu schaffen. Dymarski wusste nicht wohin, scheute sich, Hilfe anzunehmen, landete auf der Straße. Mehr als 20 Jahre lang schlief der gebürtige Bochumer auf Bahnhofsbänken, in Parks oder Notunterkünften.
An einem Freitagmorgen Anfang November 2024 betritt Dirk Dymarski, 49, die große Bühne im Festsaal der Berliner Stadtmission. „Hier oben zu stehen, ist für mich nicht alltäglich“, beginnt er seine Rede und erzählt: „Noch vor einigen Jahren habe ich zeitweise im Keller unter diesem Saal übernachtet.“ Dort befindet sich das Obdachlosenasyl der Stadtmission. Jetzt, Jahre später, moderiert Dymarski eine Podiumsdiskussion mit Medizinern, Verwaltungsbeamten und Politikern. Vor ihm sitzen rund 150 Zuhörer aus ganz Deutschland – Ärzte, Apotheker, Pflegefachkräfte, Mitarbeiter aus Gesundheitsämtern und Kommunalverwaltungen, Sozialarbeiter.
Anlass ist die „Gesundheitstagung 2024“ der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW). Das Motto in diesem Jahr: „Was braucht es in der Not? Niedrigschwellige medizinische Versorgung in prekären Lebenssituationen.“ G+G hat Dirk Dymarski während der Tagung begleitet, Debatten im Plenum und in Arbeitsgruppen verfolgt, mit Teilnehmern gesprochen. Fazit nach zwei Tagen: Eine immer größer werdende Zahl von Menschen in Deutschland hat unzureichenden Zugang zu medizinischer Versorgung.
„Wir müssen uns den Lebensumständen der Patienten anpassen.“
Mobiler Medizinischen Dienst, Gesundheitsamt Köln
Versorgungslücken überbrücken
Vor allem in Großstädten existieren deshalb Hilfsangebote, mit denen Mediziner und Streetworker versuchen, Versorgungslücken zu überbrücken. Doch viele Projekte leben vor allem durch das Herzblut der Helfer. Obwohl die Zahlen so dramatisch seien und so viel Expertise zum Einsatz komme, finde das Thema „weder in den eigenen Professionen, noch in der Politik nachhaltig Gehör“, kritisiert Maria Goetzens, Allgemeinmedizinerin und Sprecherin der AG Medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen in der BAGW, in ihrer Eröffnungsrede.
Laut Statistischem Bundesamt waren zum Stichtag 31. Januar 2024 etwa 439.500 Menschen aufgrund von Wohnungslosigkeit in Notunterkünften untergebracht. Mehr als doppelt so viele wie zwei Jahre zuvor (178.100 Menschen). Die BAGW geht sogar von 607.000 wohnungslosen Menschen aus, da viele Betroffene vom Mikrozensus gar nicht erfasst würden. Rund 50.000 Menschen sind laut BAGW nicht nur wohnungs- sondern obdachlos, leben also ausschließlich auf der Straße. Die Gesundheitsversorgung dieser Menschen sei für einen Sozialstaat wie die Bundesrepublik „nicht akzeptabel“, moniert Dymarski. Woraus resultieren diese Defizite? Während der BAGW-Gesundheitstagung zeigten sich Probleme auf sehr unterschiedlichen Ebenen.
Eine Hürde: Trotz niedrigschwelliger Angebote sind viele Betroffene kaum zu erreichen. Ann-Kathrin Kolb, Krankenpflegerin der Elisabeth-Straßenambulanz in Frankfurt am Main, berichtet, wie schwierig es ist, Betroffene zu erreichen – trotz Ambulanzbus und Kollegen mit Notfallrucksäcken, die wohnungslose Menschen zu Fuß an ihren Treffpunkten ansprechen. Viele Betroffene litten unter psychischen Erkrankungen, manche müssten das Team bis zu zwanzigmal aufsuchen, um soviel Vertrauen aufzubauen, dass sie zum Beispiel auch nur einem Verbandswechsel zustimmen. Vom nächsten Schritt, in den Ambulanzbus zu steigen oder sich sogar zur Ambulanz fahren zu lassen, sei man oft noch weiter entfernt, erzählt Kolb. „Und selbst bei jenen, die es in die Einrichtung geschafft haben, müsse man akzeptieren, dass sie das Haus nach einer Dusche mit Fieber und anderen Erkältungssymptomen, wieder verlassen, weil sie keinen Arztkontakt wollen.“
Labyrinth der Zuständigkeiten
Birte Bader, Medizinerin mit Spezialisierungen in Psychiatrie und Psychotherapie und Leiterin des Gesundheitsamts Hamburg-Mitte, bestätigt Kolbs Diagnose. „Wir erleben alle viel Verarmung und Hoffnungslosigkeit auf den Straßen.“ In ihrem Einzugsgebiet rund um Hauptbahnhof und Reeperbahn „doppeln sich alle Problemlagen der Stadt“. Besonders die City diene Menschen ohne Wohnung als Lebens- und Aufenthaltsraum. Unter „extrem schwierigen Bedingungen“ versuche die Stadt, eine gute medizinische Versorgung anzubieten – unter anderem mit Arztmobil, Kältebus und Krankenstube.
Eine zweite Hürde sind die teilweise unübersichtlichen Hilfestrukturen und Regelungen. Dirk Dymarski kritisiert, dass sich staatliche Ebenen gegenseitig Verantwortung zuschieben. „Im Bund wird gesagt, ‚das ist Ländersache‘, der Berliner Senat sagt, ‚das ist Sache der Bezirke‘.“ Ohne einheitliche Regelungen werde die Gesundheitsversorgung weiter „ein Flickenteppich bleiben“. Sein Vorwurf richtet sich an diesem Tag an Ute Teichert, Leiterin der Abteilung Öffentliche Gesundheit im Bundesgesundheitsministerium.
„Momentan herrscht bei uns eine gewisse Ratlosigkeit, keiner weiß, was kommt“, sagt Teichert. Der Grund: Am Tag zuvor war die Ampelkoalition geplatzt, seitdem ist unklar, ob die Regierung vor Neuwahlen weitere Gesetze beschließen kann. Sie könne Dymarskis Frust nachvollziehen, sagt Teichert, aber Gesundheit sei Ländersache. Dort würden die Aufgaben der bundesweit rund 370 Gesundheitsämter fixiert, wobei die Gesundheitsämter in der Regel wiederum den Kommunen unterstellt sind. Teichert, selbst Medizinerin, sagt, die Probleme müssten gelöst werden, deshalb sei es gut, wenn während solcher Tagungen „die Finger in die Wunde“ gelegt werden.
Strategische Neuausrichtung
Was tun? Schon jetzt existieren Konzepte, teilweise kleinteilig, aber dennoch zielgenau auf die Bedürfnisse von Betroffenen zugeschnitten.
Hauke Bertling, Facharzt für Psychiatrie und Mitarbeiter beim Mobilen Medizinischen Dienst des Gesundheitsamts Köln, erzählt, wie wichtig es ist, sich bei der Gesundheitsversorgung den Lebensumständen der Patienten anzupassen. So gebe es in Köln keine zentrale Praxis, sondern Behandlungsräume und Sprechstunden dort, wo sich die Menschen sowieso aufhalten. Beispielsweise in Kontaktstellen für Wohnungslose, Notschlafstellen, Drogenkonsumräumen und speziellen Krankenwohnungen. Einrichtungen, die sich über die Stadt verteilen.
Wichtig sei zudem, dass sich die Patienten sicher fühlen. Sprechzimmer dürften nicht zu eng sein, denn oft kommen die Menschen mit ihrem gesamten Hab und Gut in den Behandlungsraum, müssten erst mehrere Schichten von Kleidern ablegen. Man müsse sich mehr Zeit nehmen als in einer üblichen Praxis. Als „aufsuchend, akzeptierend, auf Wunsch anonym und mit respektvoller Zurückhaltung“, beschreibt Bertling das Konzept.
Auf Dezentralität setzt auch ein erst in diesen Tagen fertiggestelltes Versorgungsmodell der Berliner Landesgesundheitskonferenz. Ziel ist es, heterogene Strukturen und Finanzierungsmodelle in ein einheitliches System zu überführen. Kern sind Gesundheitszentren für zwei Zielgruppen: Wohnungslose Menschen und Menschen ohne Krankenversicherung. Rosa Rodriguez von der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung und Nina Przyborowski von der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege haben an dem Entwurf maßgeblich mitgewirkt. Bei der Vorstellung während der BAGW-Gesundheitstagung sprechen sie von einer „strategischen Neuausrichtung“ des bisherigen Versorgungssystems für die Zielgruppe, wobei Bestehendes in die Weiterentwicklung einbezogen werden soll.
Der Plan: Gesundheitszentren, über die Stadt verteilt, sollen eine niedrigschwellige Primärversorgung anbieten. Jedes Zentrum besteht demnach aus drei Elementen: Eine Basisversorgung umfasst unter anderem Allgemeinmedizin, Medikamentenabgabe und Sozialberatung. Dazu kommen je nach Standort fachmedizinische Angebote wie Pädiatrie, oder Zahnmedizin, aber auch Essens- und Duschmöglichkeiten. Element zwei besteht aus Angeboten von Kooperationspartnern. Dazu zählen ambulante Palliativversorgung, gerätemedizinische Diagnostik, Prävention und Gesundheitsberatung. Die dritte Ebene soll Schnittstellen zur Regelversorgung beinhalten. Das Konzept enthält außerdem mehrere Finanzierungsmöglichkeiten, die darauf ausgelegt sind, eine vollständige Abhängigkeit von Spenden, Zuwendungen und ehrenamtlichen Helfern zu vermeiden. Anfang 2025 soll der Entwurf in Berlin öffentlich vorgestellt werden.
Im Festsaal der Berliner Stadtmission hat Dirk Dymarski seine Rede beendet. Seit einiger Zeit lebt er in den eigenen vier Wänden, engagiert sich aber weiter im Verein „Selbstvertretung wohnungsloser Menschen e. V.“. Seine Botschaft an die Akteure aus Politik und Gesundheitswesen: „Redet mit uns, nicht über uns."
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