„Es ist gefährlich, wenn ein Patient bei einer einfachen Erkältung nach einem Antibiotikum verlangt.“
Antibiotika werden inzwischen vorsichtiger verordnet als noch vor zehn Jahren. Die Gefahr von Resistenzen ist in größeren Teilen der Bevölkerung, aber auch in den Arztpraxen bekannt. Dennoch bekommen Patientinnen und Patienten noch zu oft vor allem Reserveantibiotika verschrieben. Warum diese nur in bestimmten Fällen und nicht leichtfertig eingesetzt werden sollten, erläutert Apothekerin Julia Goldmann.
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Die Verordnungen für Antibiotika sind in den vergangenen zehn Jahren deutlich zurückgegangen. Woran liegt das?
Bundesweit gab es in den zurückliegenden Jahren Modellprojekte, die für die Problematik der Resistenzbildung sensibilisiert haben. Das hat dazu geführt, dass Ärztinnen und Ärzte, aber auch Patientinnen und Patienten immer kritischer auf die Gabe von Antibiotika, insbesondere auf die Gabe von Reserveantibiotika, schauen. Wo früher schnell bei einer hartnäckigen Erkältung oder einem Harnwegsinfekt das Antibiotikum anscheinend der Joker war, setzt man jetzt auf konservative Maßnahmen wie Wärme, Schonung oder den kurzfristigen Einsatz von Schmerzmitteln – und nicht zuletzt auch auf Geduld. Auch Pharmaunternehmen weisen die Praxen mit sogenannten Rote-Hand-Briefen auf potenzielle Risiken beim Einsatz bestimmter Medikamente hin. In den Rote-Hand-Briefen zu Fluorchinolonen, die als Reserveantibiotika gelten, warnten die Hersteller beispielsweise vor Risiken wie Herzproblemen, neurologischen Störungen und Sehnenverletzungen.
Reserveantibiotika wurden in der Vergangenheit aber auch bei unkomplizierten Harnwegsinfekten oder Erkältungen eingesetzt. Inzwischen wird die Wirkstoffgruppe der Fluorchinolone dank der gemeinsamen Aufklärungsarbeit sehr viel seltener verordnet.
Wie können wir an diese positive Entwicklung wieder anknüpfen?
Das Thema behält weiter eine hohe Relevanz. Aufklärung der Patientinnen und Patienten in Arztgesprächen oder auch durch Flyer, Artikel in Gesundheitsmagazinen und über Social Media können langfristig dafür sorgen, dass der Trend nicht wieder nach oben geht. So verständlich der Wunsch ist, schnell wieder gesund zu werden - es ist gefährlich und zu kurz gedacht, wenn man als Patient bei einer einfachen Erkältung nach einem Antibiotikum verlangt, damit man schneller wieder gesund wird.
Mit besonderer Vorsicht sollen Reserveantibiotika eingesetzt werden. Für welche Fälle sind sie gedacht?
Reserveantibiotika sind Medikamente mit einem speziellen Wirkspektrum, die eigentlich nur zum Einsatz kommen sollten, wenn Standardantibiotika nicht helfen oder es sich um eine besonders schwerwiegende Infektion handelt. Infektionen mit multiresistenten Keimen oder schwere Infektionskrankheiten wie Sepsis, Meningitis oder chronische Lungenentzündungen sind Beispiele, in denen Reserveantibiotika gegeben werden. Sie werden außerdem in der Therapie schwerkranker, immungeschwächter Patientinnen und Patienten eingesetzt oder bei Infektionen mit sogenannten Krankenhauskeimen. Besonders im klinischen Umfeld sind resistente Keime stärker verbreitet und erfordern häufiger den Einsatz von Reserveantibiotika. Das Beispiel Harnwegsinfekte und Fluorchinolone zeigt, dass aber auch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte in der Vergangenheit zu häufig Reserveantibiotika verordnet haben.
Wer ist….?
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Julia Goldmann ist Apothekerin und arbeitet bei der AOK Die AOK hat mit mehr als 20,9 Millionen Mitgliedern (Stand November 2021) als zweistärkste Kassenart… Nordost.
Warum ist es bedenklich, wenn Reserveantibiotika unbedacht verschrieben werden?
Werden Reserveantibiotika in der ambulanten Versorgung unkritisch eingesetzt, führt das zu Resistenzen bei Bakterien und auch dazu, dass antibiotische Therapien künftig weniger wirksam sind. Die Behandlung schwerer Infektionen wird damit zunehmend zur Herausforderung. Im schlimmsten Fall könnte es zu einer Situation kommen, in der für Infektionen mit multiresistenten Erregern keine wirksamen Behandlungsmöglichkeiten mehr zur Verfügung stehen.
In Mecklenburg-Vorpommern werden etwas weniger Antibiotika verschrieben als im Bundesdurchschnitt. Aber in Berlin liegt die Quote noch einmal deutlich niedriger. Wie sind die regionalen Unterschiede zu erklären?
Hierzu kann ich nur Vermutungen anstellen. Regionale Unterschiede resultieren wahrscheinlich aus einem komplexen Zusammenspiel medizinischer, epidemiologischer und demografischer Faktoren. In Mecklenburg-Vorpommern ist die Bevölkerungsdichte deutlich geringer als in Berlin, was den Zugang zu Fachärzten und spezialisierten Einrichtungen erschwert. Ärztinnen und Ärzte könnten daher schneller auf Reserveantibiotika zurückgreifen, um eine rasche Infektionskontrolle zu gewährleisten. Insgesamt sollte bedacht werden, dass im Jahr 2023 und 2024 diverse Lieferengpässe bei antibiotischen Wirkstoffen dazu beigetragen haben könnten, dass Ärztinnen und Ärzte häufiger auf Wirkstoffe zurückgegriffen haben, die sonst nicht ihr Mittel der Wahl gewesen wären.
Wie setzt sich die AOK Nordost für einen verantwortungsvollen Umgang mit Antibiotika ein?
Grundsätzlich sind sich die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen Die 97 Krankenkassen (Stand: 26.01.22) in der gesetzlichen Krankenversicherung verteilen sich auf… darüber einig, dass der kritische und zurückhaltende Einsatz von Antibiotika aus den zuvor genannten Gründen von entscheidender Bedeutung ist. Die gesetzlichen Krankenversicherungen haben zum Beispiel ein konkretes Arzneimittelziel zu Antibiotikaverordnungen in der Arzneimittelzielvereinbarung mit der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg (KV BRB) festgelegt. Mecklenburg-Vorpommern verwendet den von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zur Verfügung gestellten Medikationskatalog zur Unterstützung bei der Auswahl von Standard- und Reservewirkstoffen. Außerdem unterstützen wir Arztnetze dabei, ihre Versorgungsqualität zu verbessern. Jährlich vergeben wir dafür die QuATRo-Auszeichnungen. Zu den Qualitätsindikatoren zählt auch der Umgang mit Antibiotika. Teilnehmende Praxen können sich untereinander vergleichen und lernen, welche risikoärmeren Behandlungswege in Frage kommen.