Hintergrund

"Wir sollten über Depressionen sprechen wie über einen Beinbruch"

Depressionen sind eine Volkskrankheit. Der neue Gesundheitsatlas Depression zeigt: in Berlin ist rund jede sechste Frau und jeder zehnte Mann davon betroffen. Die Psychologin Dr. Sylvia Böhme erläutert im Interview, was getan werden muss, um Betroffenen früher und gezielter als bislang zu helfen.

Frau Dr. Böhme, der aktuelle Gesundheitsatlas Depression zeigt, dass Depressionen zwar weit verbreitet sind – aber gefühlt wird wenig über diese Krankheit gesprochen. Wie kommt das? Und was müsste getan werden, um das Leid der von Depression betroffenen Menschen früher zu erkennen?

Es wäre viel gewonnen, wenn Menschen so über ihre Depression sprechen könnten wie über einen Beinbruch. Aber das ist nicht der Fall. Wir haben einfach immer noch ein großes Stigma, was psychische Erkrankungen betrifft. Das ist bei Suchterkrankungen und Schizophrenie noch stärker der Fall als bei einer Depression, aber auch darüber gibt es noch viele Vorurteile. Wir müssen mehr aufklären über psychische Erkrankungen, zum Umgang mit der Symptomatik befähigen und so das Stigma reduzieren. Mit dem Gesundheitsatlas Depression für Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern wollen wir einen Beitrag dazu leisten. Wenn Menschen mehr über Depressionen wissen, dann erkennen sie Symptome an sich selbst und auch bei Nahestehenden besser, so dass frühzeitiger Unterstützung gesucht werden kann.

Kommen wir zu den Zahlen, die der Atlas liefert: in Berlin ist bei jedem siebten Menschen 2022 eine Depression diagnostiziert worden. In Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern nur jeder neunte. Wie ist das zu erklären?

Dieses Ergebnis bestätigt den Befund vieler Studien, die gezeigt haben, dass Menschen in Großstädten ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen haben als Menschen, die auf dem Land wohnen. Verkehrslärm und eine enge Bebauung spielen in Teilen Berlins als Belastungsfaktoren schon eine Rolle. Aber generell lässt sich sagen: Es ist nicht die Großstadt selbst, die krank macht. In Großstädten leben mehr Menschen, die Risikofaktoren für das Entstehen einer Depression haben.

Konkret: Wir wissen, dass eine sozioökonomische Benachteiligung ein Hauptrisikofaktor für Depressionen ist. Die Lebenshaltungskosten sind in der Stadt höher als auf dem Land, Gruppen mit einem höheren Risiko für soziale Benachteiligung wie zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund sind stärker vertreten. Darüber hinaus gibt es in städtischen Gebieten einen besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung, so dass Depressionen dort häufiger diagnostiziert werden.

Es gibt aber auch Belastungsfaktoren, die auf dem Land genauso stark wirken wie in der Großstadt: selbst chronisch krank zu sein, traumatische Lebensereignisse, häusliche Pflege Kann die häusliche Pflege nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden, besteht Anspruch auf… und berufliche Verpflichtungen oder auch chronischer beruflicher Stress.

Wer ist eigentlich…. Dr. Sylvia Böhme?

Dr. Sylvia Böhme ist als Psychologin und Psychotherapeutin seit 2017 bei der AOK Die AOK hat mit mehr als 20,9 Millionen Mitgliedern (Stand November 2021) als zweistärkste Kassenart… im Bereich Prävention Prävention bezeichnet gesundheitspolitische Strategien und Maßnahmen, die darauf abzielen,… tätig und in der AOK Nordost für das Thema Psychische Gesundheit verantwortlich. Vorher hat sie an der Freien Universität in der Forschung gearbeitet.

Der Atlas zeigt auch, dass Frauen um rund Zwei-Drittel häufiger eine Depression diagnostiziert bekommen als Männer. Wie ist das zu erklären?

Wir wissen, dass Frauen häufiger Früherkennungsuntersuchungen wahrnehmen und insgesamt gesundheitsbewusster leben. Frauen nehmen Symptome für eine Depression eher wahr, holen sich früher Hilfe und tauschen sich mehr über ihre Symptomatik aus. Wir wissen gleichzeitig, dass Depressionen bei Frauen stärker auftreten können als bei Männern.

Männer werden zwar seltener mit einer Depression diagnostiziert, entwickeln aber häufiger Suchterkrankungen als Frauen. Und sie begehen deutlich häufiger Suizid. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass sie sich in der Regel später Hilfe suchen als Frauen.

Stichwort Suizidrate: Berliner Männer begehen doppelt so häufig Suizid wie Berliner Frauen. Männer aus MV begehen sogar viermal häufiger Suizid als Frauen aus MV. Wie ist das zu erklären?

Eindeutige Studienergebnisse, die diesen Befund erklären, sind mir nicht bekannt.

Der Kollege Gerd Wagner von der Uniklinik Jena, Leiter des Thüringer Suizidpräventionsprogramms, hat dazu in einem Interview die These aufgestellt, dass Männer sensibler als Frauen auf gesellschaftliche Einschnitte reagieren, Wirtschaftskrisen oder den Verlust des sozialen Status. Da ostdeutsche Männer häufiger solche starken Belastungen erlebt hätten, begingen sie aus seiner Sicht auch häufiger Suizid.

Ein Grund für die Unterschiede zwischen Berlin und MV dürfte aber auch sein, dass die männliche Suizidrate mit steigendem Lebensalter zunimmt. Berliner Männer sind im Mittel 41 Jahre alt, die Männer in Mecklenburg-Vorpommern hingegen 46 Jahre, also rund fünf Jahre älter.

Gerne möchte ich diesem Zusammenhang auf das Angebot „Männer stärken – Wege aus der Krise“ hinweisen. Es wird vom GKV-Bündnis für Gesundheit gefördert, speziell für Männer, die Suizidgedanken haben. Auf dieser Website gibt es schnelle Hilfe und Informationen über die Behandlungsmöglichkeiten.

Welchen Beitrag kann die AOK Nordost dabei leisten, bei Depressionen zu unterstützen?

Wir als Krankenkasse haben den Auftrag, gesundheitsbewusstes Verhalten zu fördern und der Entstehung von Erkrankungen vorzubeugen. Das tun wir auf der individuellen Ebene, indem wir unseren Versicherten beispielsweise Präventionskurse zur Stressregulation und zur Entspannung bezahlen oder bei bereits bestehender Symptomatik das ausgezeichnete digitale Programm Moodgym zur Verfügung stellen.

Darüber hinaus haben wir das Thema psychische Gesundheit aber auch in unseren Präventionsangeboten in den sogenannten Lebenswelten verankert. Ein Beispiel: Wir haben für Schülerinnen und Schüler der 7. bis 10. Klasse das Gesundheitsprogramm wildGreen entwickelt. Schulen können dabei auch ein Modul zum Thema psychische Gesundheit wählen. Wir schulen die Lehrkräfte per Webcast und stellen Unterrichtmaterial zur Verfügung, mit dem die Schülerinnen und Schüler zum Thema psychische Gesundheit zeitgemäß aufgeklärt werden können.

Aber auch für Unternehmen bieten wir im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung Workshops, Seminare und Coachings an. Wenn ein Unternehmen infolge dieser Beratung seine Hilfsangebote für psychisch belastete Mitarbeitende verbessert, profitieren nicht nur die Mitarbeitenden davon. Auch die Unternehmen profitieren, wenn sich weniger Mitarbeitende wegen einer psychischen Erkrankung arbeitsunfähig melden müssen.

08.10.2024AOK Nordost4 Min
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