Desinformation gefährdet Ihre Gesundheit!  

Vermittlung von Gesundheitskompetenz über und trotz TikTok

28.10.2024 | Im Januar 2025 wird die elektronische Patientenakte (ePA), das Herzstück der Telematikinfrastruktur, allen gesetzlich Versicherten durch ihre Krankenkassen zur Verfügung gestellt. Welche großen Chancen und Vorteile für eine bessere Gesundheitsversorgung damit verbunden sind, hat der Wissenschaftliche Beirat für Digitale Transformation der AOK Nordost mehrfach betont. Unbestritten ist aber auch, dass der Erfolg der ePA ebenso davon abhängt, dass alle Beteiligten und insbesondere die Versicherten funktionsgerecht und verantwortungsbewusst mit ihr umgehen. Dafür brauchen sie sowohl Digital- als auch Gesundheitskompetenz. Diese zu vermitteln wird durch einen Trend erschwert, der die Bemühungen im Gesundheitswesen konterkarieren kann: Desinformation über Social Media.

TikTok und ähnliche Konkurrenzprodukte wie Youtube Shorts und Instagram Reels gewinnen seit Jahren massiv an Popularität. Insbesondere bei der Generation Z, also bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 14 bis 29 Jahren, sind sie besonders beliebt und werden von der Mehrheit täglich genutzt.[1] Charakteristisch für sie ist das Format der Kurzvideos mit einer Länge von wenigen Sekunden bis Minuten, kombiniert mit einem Algorithmus, der fortwährend neue Inhalte vorschlägt. Es werden nicht mehr vorrangig Inhalte aus dem (virtuellen) Freundeskreis angezeigt, sondern solche, für die der Algorithmus das größte Interesse prognostiziert. Dies führt dazu, dass virale Trends und populäre Themen, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, eine enorme Sichtbarkeit erlangen. Auch gesundheitsbezogene Themen ziehen auf diese Weise viel Aufmerksamkeit auf sich und verbreiten sich schnell. Besonders alarmierend ist, dass viele dieser Inhalte nicht auf wissenschaftlichen Fakten basieren und oft irreführend oder falsch sind. Allein unter den Top-100 Videos mit der größten Reichweite zur englischen Version des Hashtags „adhs“ enthalten mehr als 50 Prozent der milliardenfach aufgerufenen Videos Desinformationen.[2] Zwar variiert das Ausmaß an Desinformationen je nach Themengebiet, aber der allgemeine Trend zeigt, dass gesundheitsbezogene Desinformation auf diesen Plattformen weit verbreitet ist.[3]

Zudem erhalten Nutzerinnen und Nutzer Inhalte, die ihren Interessen entsprechen, was sie einer Flut von Fehlinformationen aussetzen kann. Diese Inhalte können den Eindruck erwecken, es handle sich um relevante und faktenbasierte Informationen.

Die negativen Folgen von gesundheitsbezogener Desinformation sind gravierend. Auf individueller Ebene kann sie zum Verfolgen unrealistischer Gesundheitsideale, dem Glauben an Impfmythen oder zur Einnahme vermeintlicher Wundermittel führen.[4] Zugleich untergräbt sie auf gesellschaftlicher Ebene das Vertrauen in wissenschaftlich fundierte medizinische Beratung und Institutionen, was langfristig das gesamte Gesundheitssystem beeinträchtigen kann.

Die besondere Gefährdung der Generation Z

Die Angehörigen der Generation Z sind von dieser Entwicklung besonders betroffen. Ihre durchschnittliche tägliche Nutzungsdauer von Social Media liegt mit über 90 Minuten deutlich über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung, und sie nutzen Plattformen wie TikTok und Reels überdurchschnittlich häufig.[5] Emotionalisierende Desinformationen, etwa über vermeintlich verschwiegene Nebenwirkungen eines Medikaments, erzeugen mehr Interaktion, weshalb Videos mit solchen Inhalten von den Algorithmen häufiger vorgeschlagen werden und viral gehen. Das Kurzvideo-Format eignet sich zudem hervorragend für die verkürzte und oft falsche Darstellung komplexer Themen, was durch die emotionale Ansprache des Videoformats noch verstärkt wird. Jugendliche sind besonders leicht durch gesundheitsbezogene Desinformation zu beeinflussen, da sich bei ihnen die entsprechende Medien- und Gesundheitskompetenz noch im Aufbau befindet. Aber auch bei jungen Erwachsenen ist die Gesundheitskompetenz erschreckend gering. So verfügen 60 Prozent der 18 bis 29-Jährigen über eine geringe Gesundheitskompetenz, Gemeinsam mit Menschen mit niedrigem Bildungsniveau und mit Menschen ab 65 Jahren zählen die 18 bis 29-Jährigen damit zu den Gruppen, die eine im Schnitt geringere Gesundheitskompetenz haben als die Gesamtbevölkerung.[6] Die Generation Z ist also den Gefahren durch gesundheitsbezogene Desinformation nicht nur besonders ausgesetzt, sondern in dieser Hinsicht auch besonders vulnerabel. Der US-amerikanische Bundesstaat Kentucky hat bereits ein Verfahren gegen TikTok eröffnet und stellt fest, dass Nutzer innerhalb von 35 Minuten "süchtig" nach der Plattform werden könnten. Dies basiert auf der Beobachtung, dass durchschnittliche Nutzer etwa 260 Videos ansehen, bevor sie eine gewohnheitsmäßige Nutzung entwickeln. Zudem wird kritisiert, dass TikTok durch die Anzeige hyperpersonalisierter Inhalte auch Fehlinformationen fördert, die von den Nutzern als relevant und faktenbasiert wahrgenommen werden könnten.[7]

Handlungsoptionen und Lösungsansätze

Angesichts dieser Bedrohungslage spricht sich der Wissenschaftliche Beirat der AOK Nordost für eine Intensivierung der bisherigen Bemühungen zur Förderung der Gesundheitskompetenz junger Menschen aus. Gesundheitskompetenz kann heute nicht mehr ohne Medienkompetenz erreicht werden. Diese kann nur durch eine Vielzahl verschiedener, ineinandergreifender Maßnahmen erreicht werden.

Eine hohe Gesundheitskompetenz gilt als beste Prävention gegen die negativen Folgen von Falsch- und Desinformation. Sie befähigt den Einzelnen, Falsch- und Desinformation zu erkennen und entsprechend zu bewerten, vertrauenswürdige Informationen zu finden und entsprechend zu handeln.[8] Angesichts der unzureichenden Gesundheitskompetenz weiter Teile der Generation Z, aber auch darüber hinaus, muss dringend gegengesteuert werden. Dazu bedarf es spezieller Programme in Bildungseinrichtungen, aber auch der Unterstützung von Erziehungsberechtigten und Lehrenden sowie spezieller Online-Aufklärungsprogramme und E-Learning-Angebote.

Eine hohe individuelle Gesundheitskompetenz kann jedoch nur dann wirksam werden, wenn vertrauenswürdige Quellen für Gesundheitsinformationen zur Verfügung stehen. Der Beirat empfiehlt daher, als Gegengewicht zu Falsch- und Desinformationen verstärkt verlässliche Quellen direkt auf den Plattformen zu etablieren und die Entwicklung von Gesundheits- und Medienkompetenz in Bildungseinrichtungen massiv zu fördern. Nur durch die Bereitstellung korrekter Informationen in den jeweiligen Formaten der Plattformen kann sichergestellt werden, dass die Nutzenden diese auch wahrnehmen und leicht darauf zugreifen können.

Dazu empfiehlt sich auch die Zusammenarbeit mit bereits entsprechend positionierten Influencern.[9] Einige von ihnen, insbesondere solche mit einem gesundheitsberuflichen Hintergrund, spielen schon heute eine wichtige Rolle in der Vermittlung von Gesundheitskompetenzen, der Aufklärung von Desinformation und der Bereitstellung von korrekten Informationen.[10] Hieran gilt es anzuknüpfen und durch Kooperationen oder auch Förderungen auf die bestehende Reichweite und das Vertrauensverhältnis zu den Followern aufzubauen bzw. bestehende Projekte auszuweiten.

Und auch die Plattformen müssen einbezogen werden. Sie sind durch den Digital-Services-Act dazu verpflichtet, die Risiken gesundheitsbezogener Desinformationen und insbesondere deren Auswirkungen auf Minderjährige zu minimieren.[11] Ihre diesbezüglichen Anstrengungen müssen jedoch noch intensiviert werden, etwa durch strengere Moderation, Warnhinweise oder die Möglichkeit, Gegendarstellung zu Desinformationen anzeigen zu lassen.[12]

Den Krankenkassen und der Politik kommt in diesem Prozess eine zentrale Gestaltungsrolle zu. Sie müssen die verschiedenen Akteure zusammenbringen, Maßnahmen koordinieren und auch entsprechende Projekte ausreichend fördern. Gelingt dies, kann nicht nur das Risiko durch gesundheitsbezogene Desinformation minimiert werden. Es ergibt sich darüber hinaus auch eine Chance für das gesamte Gesundheitssystem. Denn eine junge Generation mit ausgeprägter Gesundheitskompetenz wird das Gesundheitssystem von morgen erheblich entlasten.

 

[1] Müller, Ergebnisse der ARD/ZDF-Mediastudie 2024 (abrufbar unter: https://www.ard-zdf-medienstudie.de/files/Download-Archiv/Medienstudie_2024/MP_28_2024_ARD_ZDF-Medienstudie_2024._Zahl_der_Social-Media-Nutzenden_steigt_auf_60_Prozent.pdf).

[2] Eine entsprechende Untersuchung bei: Yeung et. al., TikTok and Attention-Deficit/Hyperactivity

Disorder: A Cross-Sectional Study of Social Media Content Quality. Candian Journal of Psychiatry. 2022;67 (12):899-906 (abrufbar unter: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC9659797/).

[3] Für eine überblicksartige Darstellung: Anderer, Patients Are Turning to TikTok for Health Information—

Here’s What Clinicians Need to Know. JAMA 2024;331(15):1262-1264 (abrufbar unter: https://www.doi.org/10.1001/jama.2024.1280).

[4] Beispielsweise zu den Auswirkungen von Desinformation auf die Impfbereitschaft während der Corona-Pandemie: Loomba, et al., Measuring the impact of COVID-19 vaccine misinformation on vaccination intent in the UK and USA. Nature Human Behaviour, 2021;5:337–348 (abrufbar unter: https://www.nature.com/articles/s41562-021-01056-1).              

[5] Siehe Fn. 1.

[6] Schaeffer et. al., Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland vor und während der Corona Pandemie – Ergebnisse des HLS-GER 2. 2021 (abrufbar unter: https://m-pohl.net/sites/m-pohl.net/files/2021-02/HLS-GER%202.pdf).

[7] www.npr.org/2024/10/11/g-s1-27676/tiktok-redacted-documents-in-teen-safety-lawsuit-revealed.

[8] Schüz/Jones, Falsch- und Desinformation in sozialen Medien: Ansätze zur Minimierung von Risiken in digitaler Kommunikation über Gesundheit. Bundesgesundheitsblatt, 2024;67:300–307 (abrufbar unter: https://link.springer.com/article/10.1007/s00103-024-03836-2).

[9] Hierzu auch Heckmann, Gesundheitsgefährdung durch Social Media? Einfluss und Verantwortung von Influencern bei der Verbreitung von Desinformation, in: Bergen/Gramm/Grütters/Kolbe, Wie die Generation Z das Gesundheitswesen verändert, 2024.

[10] Beispielsweise wiesen in einer Untersuchung Inhalte, die von Ärzten zu dermatologischen Themen erstellt wurden, nur in unter 4 Prozent der Fälle Fehlinformationen auf. Inhalte von anderen Quellen enthielten hingegen in ca. 52 Prozent der Fälle Fehlinformationen. Siehe hierzu: Villa-Ruiz et. al., Overview of TikTok’s most viewed dermatologic content and assessment of its reliability. Journal of the Academy of Dermatology, 2021;85 (1):273-74 (abrufbar unter: https://www.jaad.org/article/S0190-9622(20)33218-7/fulltext).

[11] Siehe zur Einbeziehung von gesundheitsbezogenen Desinformationen Art. 34 Abs. 1 UAbs. 2 lit. d DSA und zu der daraus folgenden Verpflichtung zur Risikominimierung Art. 35 DSA.

[12] Ein solches System hat etwa X, vormals Twitter, recht erfolgreich mit den sog. Community Notes eingeführt. Zu der Zuverlässigkeit dieser Informationen: Allen et. al., Characteristics of X (Formerly Twitter) Community Notes Addressing COVID-19 Vaccine Misinformation. JAMA, 2024;331(19):1670-1672 (abrufbar unter: https://www.doi.org/10.1001/jama.2024.4800)

Presseinformation vom 14.11.2024

Der Wissenschaftliche Beirat für digitale Transformation der AOK Nordost warnt in seinem neuen Positionspapier: Desinformation über Gesundheitsthemen auf Social-Media-Plattformen wie TikTok gefährdet die Gesundheit. So enthielten beispielsweise rund die Hälfte der 100 beliebtesten TikTok-Videos über ADHS Desinformationen.
12.11.2024AOK Nordost