Opt-out für die ePA gesetzlich verankern!
Eine ungenutzte elektronische Patientenakte ist wertlos
Positionspapier des Wissenschaftlichen Beirates für Digitale Transformation
Seit mittlerweile fast 2 Jahren gibt es die elektronische Patientenakte (ePA). Zumindest in der Theorie. Sie wurde zwar zum 1.1.2021 eingeführt, wird aber derzeit von weniger als 1 % der Versicherten in Deutschland genutzt. Damit werden die erheblichen Vorteile, die die ePA für die individuelle und öffentliche Gesundheitsvorsorge, aber auch für die medizinische Forschung bietet, verspielt. Die bereits im Bundesgesundheitsministerium angedachte Umstellung auf ein „opt-out“-Verfahren sollte schnell vollzogen werden. Rechtliche Bedenken hiergegen bestehen bei richtiger Verfahrensgestaltung nicht. Im Gegenteil: Die hierdurch unterstützte Beschleunigung der Digitalisierung in der Telematikinfrastruktur dient der Erfüllung der grundrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz von Leben und Gesundheit.
Die elektronische Patientenakte optimiert die Gesundheitsvorsorge für alle Versicherten, die sie nutzen, zum Beispiel durch die Vermeidung unnötiger Doppelbehandlungen oder bessere Therapien durch Informationsvorsprung. Sie vereinfacht aber auch die Abläufe in den Arztpraxen und Kliniken, wovon nicht nur die Ärztinnen und Ärzte, sondern auch das weitere Fachpersonal profitiert. Überdies dient die damit verbundene Modernisierung eines digitalen Gesundheitswesens uns allen, weil – bildlich ausgedrückt – bislang „unbeschilderte“ Behandlungspfade sichtbar und „begehbar“ werden: die richtige Behandlung zur richtigen Zeit. Warum wird die ePA bei so vielen Chancen und Vorteilen in Deutschland nicht genutzt?
Schauen wir ins benachbarte Ausland: Nach dem finnischen „Gesetz über die sekundäre Nutzung von Gesundheitsdaten“ von 2019 können – so berichtete die F.A.Z. am 8.8.2022 – grundsätzlich alle gespeicherten Daten für genehmigte Forschungsprojekte abgerufen werden, es sei denn, der Patient habe einen Widerspruch dagegen („Opt-out“) bei der Behörde hinterlegt. Mit den 217 Widersprüchen aus der Gesamtheit von 5,5 Millionen Finnen liege die Widerspruchsquote jedoch bei lediglich 0,004 Prozent. Auch in Frankreich wird die elektronische Patientenakte automatisch für die Bürgerinnen und Bürger erstellt („Health Data Hub“), das Widerspruchsverfahren ist einfach und transparent gestaltet.
Von einem solchen Digitalisierungsgrad mit seinen Impulsen für alle Akteure und Nutznießer im Gesundheitswesen scheint Deutschland weit entfernt. Hier sollte die elektronische Patientenakte als Herzstück der Telematikinfrastruktur schon Anfang 2021 bundesweit ausgerollt werden – wären da nicht (unberechtigte) Datenschutzbedenken und eine gewisse Trägheit bei den Versicherten und der Ärzteschaft, die nunmehr gesetzlich erlaubte elektronische Patientenakte auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen und zu befüllen. Das wiederum liegt nicht nur, aber auch an der bisherigen gesetzlichen Regelung, wonach die elektronische Patientenakte für die Versicherten nur dann eingerichtet wird, wenn sie deren Einrichtung und Nutzung ausdrücklich und im Vorhinein zugestimmt haben („opt-in“).
Dies soll sich nach dem politischen Willen der Bundesregierung nunmehr ändern. So heißt es im Koalitionsvertrag vom 7.12.2021, S. 65:
„Wir beschleunigen die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) und des E-Rezeptes sowie deren nutzenbringende Anwendung und binden beschleunigt sämtliche Akteure an die Telematikinfrastruktur an. Alle Versicherten bekommen DSGVO-konform eine ePA zur Verfügung gestellt; ihre Nutzung ist freiwillig (opt-out).“
Die Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung vom 31.8.2022 greift dies im Abschnitt über „Gesundheit und Pflege“ (S. 16 ff.) auf:
„Mit der elektronischen Patientenakte (ePA) werden wir die bislang an verschiedenen Stellen (z. B. Praxen und Krankenhäuser und Öffentlicher Gesundheitsdienst) existierenden bzw. entstehenden Patientendaten digital integrieren. Damit Patientinnen und Patienten sowie Leistungserbringer schnellstmöglich von den besonderen Potenzialen der ePA profitieren können, werden wir die Bereitstellung und Nutzung der ePA erleichtern. Hierdurch wird deren Nutzen und die Nutzung in der Breite der Bevölkerung weiter gesteigert. … Wir wollen uns 2025 daran messen lassen, ob mindestens 80% der GKV-Versicherten über eine elektronische Patientenakte (ePA) verfügen und das E-Rezept als Standard in der Arzneimittelversorgung etabliert ist.“
Der wissenschaftliche Beirat der AOK Nordost unterstützt dieses Reformvorhaben und fordert die Politik auf, die gesetzlichen Grundlagen schnellstmöglich anzupassen. Das Gesundheitswesen zählt nicht nur und erst wegen der Pandemie zu den wichtigsten Politikfeldern unserer Zeit. Digitalisierung und die Verfügbarkeit der notwendigen Daten können Leben retten, das Gesundheitssystem nachhaltig auch wirtschaftlich stabilisieren helfen, Innovationen ermöglichen und Prävention präzisieren. Die ePA dient damit sowohl dem Individualwohl aller versorgungsbedürftigen Menschen als auch dem Gemeinwohl. Sie erleichtert nicht nur den Umgang mit Informationen in der ärztlichen Versorgung, sondern dient auch als Grundlage für die Vorhaltung relevanter Gesundheitsdaten in digitaler Form, um sie etwa zu Zwecken medizinischer Forschung zu nutzen – soweit dies gesetzlich erlaubt oder durch Einwilligung gerechtfertigt ist. Zudem erleichtert die ePA freiwillige „Datenspenden“. Auch der Umgang mit neuartigen Erkrankungen, wie etwa Longcovid, unter denen viele Menschen leiden, bedarf einer breiten Datenbasis, um eine passende Diagnostik sowie Therapien zu entwickeln. Der hohe Nutzen digitaler Gesundheitsdaten und ihrer informationstechnischen Infrastruktur, nicht zuletzt über die elektronische Patientenakte, ist unbestritten.
Dass diese Entwicklung über einen Wechsel von „opt-in“ zu „opt-out“ beschleunigt wird, steht außer Frage. Verfassungsrechtliche Bedenken, die gegen ein solches, gesetzlich verankertes Modell geäußert werden, können entkräftet werden. Die ePA-Nutzung ist derzeit rein freiwillig und soll es auch bleiben. Dass die „opt-out“-Lösung die Obliegenheit der Betroffenen begründet, bei einer Verweigerungshaltung aktiv werden zu müssen, ändert daran nichts. Dieses System kann nämlich so ausgestaltet werden, dass alle Versicherten eindeutig, unmissverständlich und leicht verständlich auf die Gesetzesänderung und die mit ihr verbundenen Rechtsfolgen hingewiesen werden. Unter diesen Umständen kann und sollte die ePA ohne weiteres Zutun der Versicherten eingerichtet werden („echtes opt-out“). Im Ergebnis wird dadurch die Autonomie gestärkt, nicht geschwächt.
Die „opt-out“-Regelung ist auch datenschutzkonform. An dieser Stelle darf man die bisher (bei „opt-in“) vorgenommene „Einwilligung“ nicht mit einer Einwilligung im datenschutzrechtlichen Sinne verwechseln, für die andere Maßstäbe gelten würden. Eine solche datenschutzrechtliche Einwilligung liegt hier schon deshalb nicht vor, weil die mit der ePA verbundene Datenverarbeitung bereits durch gesetzliche Ermächtigung gerechtfertigt wird. Es bedarf keiner weiteren Einwilligung. Die Freiwilligkeit der Inanspruchnahme der ePA ist demgegenüber Teil eines akzeptanzstiftenden Modells und darüber hinaus Ausdruck verhältnismäßigen Vorgehens. Insofern obliegt es dem Gesetzgeber, den Freiraum für die Einstellung der Versicherten zu dieser Innovation sachlich zu begrenzen.
Nachdem ohnehin eine Gesetzesänderung für den Wechsel zu „opt-out“ erforderlich ist, empfiehlt der Beirat, in diesem Kontext auch genauer zu regeln, wie der Widerspruch erfolgen kann und worauf er sich konkret bezieht. Leitlinie muss der Grundsatz der Patientensouveränität sein: Die Versicherten müssen über die konkrete Ausgestaltung sowohl der technisch-organisatorischen Lösung als auch der Möglichkeiten zur individuellen Nutzung der ePA in einer einfachen, verständlichen Sprache informiert werden. Alsdann dürfen sie wählen, ob sie der Einrichtung bzw. Aufrechterhaltung der ePA widersprechen möchten; der Widerspruch sollte per Post oder elektronisch in Textform (E-Mail), jeweils mit Eingangsbestätigung, möglich sein. Klärungsbedürftig ist, ob die Versicherten ein weitergehendes Wahlrecht haben, ob die ePA automatisch mit den Gesundheitsdaten befüllt wird oder ob es hierzu noch einer Freigabeentscheidung im Einzelfall bedarf. Darüber hinaus gilt ohnehin das feingranulare Berechtigungsmanagement seit dem 1.1.2022. Die diesbezügliche Regulierung sollte im Kontext des „Opt-out-Gesetzes“ mit den Erfahrungen der Praxis abgeglichen und um Durchführungsbestimmungen ergänzt werden, die u.a. die folgenden Fragen berücksichtigen: Wie kommen die Versicherten, aber auch die Arztpraxen mit diesem System zurecht? Insbesondere: Wie erreicht man nicht digital-affine Menschen? Wie gestaltet sich der Prozess in Fällen betreuter Menschen?
Die geplante „Opt-out“-Regelung ist eine gute Gelegenheit, das System der ePA zu optimieren. Eine ungenutzte elektronische Patientenakte ist – für alle Beteiligten – wertlos. Opt-out sorgt für die beschleunigte Bereitstellung, die Optimierung des Berechtigungsmanagements für die akzeptanz- und wertstiftende Nutzung. Darüber hinaus ist auch zu entscheiden, wie man mit den Mehrkosten umgeht, die durch unnötige Doppelbehandlungen entstehen, wenn Versicherte Befunde aus der ePA löschen lassen. Insoweit kommt etwa eine aussagekräftige „Verschattung“ von Daten bzw. die Einfügung von Metadaten zu gelöschten Befunden in Betracht. Hier sind die Patientensouveränität auf der einen Seite und das berechtigte Interesse an einer Vermeidung von Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen abzuwägen. Allemal sollte es möglich sein, in lebensbedrohlichen Situationen auch jenseits der Default-Einstellungen auf zur Behandlung notwendige Datensätze zuzugreifen. Die Voraussetzungen für einen solchen Notfalldatenzugriff muss der Gesetzgeber festlegen, um diese Datenverarbeitung demokratisch zu legitimieren und die Akzeptanz der ePA nicht zu gefährden.
Ein stärker digitalisiertes Gesundheitssystem, zu dessen Grundpfeilern auch die ePA zählt, ist unverzichtbar für den nachhaltigen Schutz von Leben und Gesundheit. Sich aktiv hiermit auseinandersetzen zu müssen, ist für die Versicherten nicht nur zumutbar, sondern dient auch dem gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten uns alle betreffender Krisen.
Mitglieder des Beirats sind:
Mitglieder des Beirats sind:
- Prof. Dr. Dirk Heckmann (Geschäftsführer)
- Dipl.-Pol. Inga Bergen (Sprecherin)
- Prof. Dr. Wilfried Bernhardt
- Prof. Dr. Dr. Walter Blocher
- Prof. Dr. Stefan Heinemann
- Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Jähnichen
- Prof. Dr. Anne Paschke
- Dipl.-Psych. Marina Weisband