Leben mit dem Virus: Ein Balanceakt zwischen Freiheit und Sicherheit
Wissenschaftlicher Beirat der AOK Nordost regt Priorisierung von Digitalisierungsprojekten an
Zögerlichkeit bei Digitalisierung und Katastrophenvorsorge führt in der Pandemie zu unnötigen Freiheitsbeschränkungen und Kollateralschäden. Der wissenschaftliche Beirat der AOK Nordost appelliert, die erkannten systemischen Schwächen zu analysieren und zu beseitigen, damit ein „Leben mit dem Virus“ ohne Schäden an physischer und psychischer Gesundheit, wirtschaftlicher Prosperität und kultureller Vielfalt möglich wird. Er regt zudem ein parteiübergreifendes Bekenntnis zu einer priorisierenden „To-do-Liste“ jener Digitalisierungsprojekte an, die noch im Jahr 2021 verwirklicht werden müssen, um weitere pandemiebedingte Grundrechtseingriffe zu vermeiden oder wenigstens zu minimieren. Es bedarf einer besseren Datenbasis zu allen relevanten Faktoren im Infektionsgeschehen und dessen Auswirkungen in allen wesentlichen Sektoren, der Vernetzung von Erkenntnissen und der wissenschaftlich fundierten Interpretation und Nutzung der Daten für angemessenere, zielgerichtetere Maßnahmen der Pandemiebekämpfung. Dem steht die DSGVO bei konstruktiver Auslegung und Anwendung nicht entgegen. Die Datenstrategie der Bundesregierung hat für eine solche gemeinwohlorientierte Datennutzung die Weichen gestellt. Diese gilt es nun zielgerichtet und zügig umzusetzen. So wird ein planvolles, vorausschauendes und verhältnismäßiges Vorgehen mit einem hohen Grad an Innovationsoffenheit und Bereitschaft zu situationsgemäßen Anpassungen von Gesetzen, Prozessen und Methoden empfohlen: agil, kreativ und den Umständen angemessen.
1. Der Ausbruch und weitere Verlauf der COVID-19-Pandemie und damit die Jahre 2020 und 2021 markieren eine Zeitenwende, die historisch kaum überschätzt werden kann: Nicht nur, weil ihre dramatischen Folgen praktisch jedes Land der Welt treffen und die Weltgemeinschaft gefordert ist, angemessene Schutzmaßnahmen im Umgang mit dem Virus (von Schutzausrüstungen und Schutzkonzepten über Tests bis zu Impfstoffen und weiteren Medikamenten) zu entwickeln und Güter gerecht zu verteilen. Es geht darüber hinaus auch um ein neues Verständnis von grundrechtlichen Freiheiten, staatlicher und eigener Verantwortung für das Wohlergehen aller und der Notwendigkeit gesellschaftlichen Zusammenhalts zur Pandemiefolgenbewältigung.
2. Dass die großen Herausforderungen unserer Zeit nur gemeinsam (alle Menschen, alle Nationen) gemeistert werden können, zeigen auch der Klimawandel, die Globalisierung und Migration oder die Digitalisierung. Weder können die hiermit verbundenen politischen Ziele (zumal in einer freiheitlichen Verfassungsordnung) alleine durch Zwang durchgesetzt werden, noch hat ein einfaches Abwarten und Hoffen irgendeine Aussicht auf Erfolg. Im Gegenteil: So urteilte das Bundesverfassungsgericht im März 2021, dass eine zögerliche Klimapolitik die Freiheit zukünftiger Generationen bedroht, was den Staat zum frühzeitigen Handeln zwingt. Übertragen auf die Kollateralschäden durch die Pandemie mag man konstatieren: Zögerlichkeit bei Digitalisierung und Katastrophenvorsorge haben die Freiheit der jetzigen Generation nicht nur bedroht, sondern tatsächlich verletzt.
3. Vor diesem Hintergrund besteht nach wie vor der dringende Appell, die in den letzten 16 Monaten erkannten systemischen Schwächen zu analysieren und zu beseitigen, die erst dazu geführt haben, dass ein „Leben mit dem Virus“ nicht ohne erhebliche Schäden an physischer und psychischer Gesundheit, wirtschaftlicher Prosperität und kultureller Vielfalt möglich war. Dass die Corona-Politik der Regierungen in Bund und Ländern dem Gesundheitsschutz einen hohen Rang – auch zu Lasten individueller Freiheiten – einräumte, war richtig und verfassungskonform, was auch verfassungsgerichtlich mehrfach bestätigt wurde. Allerdings haben Gerichte auch immer wieder einzelne freiheitseinschränkende Maßnahmen als unvereinbar mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz angesehen und deshalb zu Recht aufgehoben. Notwendig ist daher ein planvolles, vorausschauendes und verhältnismäßiges Vorgehen mit einem hohen Grad an Innovationsoffenheit und Bereitschaft zu situationsgemäßen Anpassungen von Gesetzen, Prozessen und Methoden: agil, kreativ und den Umständen angemessen.
4. Das betrifft zum Beispiel den Impfnachweis. Nachdem dieser schon jetzt und künftig noch stärker über die Möglichkeit der Inanspruchnahme grundrechtlich geschützter Freiheiten entscheidet, ist seine Validität weitestmöglich sicherzustellen: Fälschungsszenarien sind proaktiv aufzuspüren und bei technisch-organisatorischen Anpassungen zu berücksichtigen. Wissenschaftliche Expertise, aber auch das Know-how des Bundesamtes für die Sicherheit in der Informationstechnik bilden hierfür ebenso eine Grundlage wie Rückmeldungen von Nutzerseite.
5. Darüber hinaus sind ebenfalls schon jetzt Konzepte zu entwickeln, wie man das Risiko von Geimpften, Getesteten und Genesenen, sich selbst und andere zu infizieren, quantifiziert, den Betroffenen plausibel erklärt und als Baustein in Schutzkonzepte für Betriebe, Schulen, Kulturund gastronomische Einrichtungen etc. integriert. Hier bedarf es eines überzeugenden Zusammenspiels von staatlicher Regulierung und privatwirtschaftlicher Initiative. Bei alledem sind die Unterschiede zwischen Impfschutz, Immunstatus nach Erkrankung und Testergebnissen in Abhängigkeit von Testart und Geltungszeitraum zu berücksichtigen. Der allemal verständliche Wunsch vieler Menschen, nach einer simplen „Rückgabe“ von Freiheiten an Angehörige dieser „3G“-Gruppe darf den notwendigen Diskurs über verbleibende Risiken und einen verantwortungsvollen Umgang mit diesen nicht verdrängen.
6. Nachdem die Gesamtsituation von Impffortschritt, „Bundesnotbremse“ und sommerlichen Temperaturen das Infektionsgeschehen stark ausgebremst hat, ist die Funktionsfähigkeit der intensivmedizinischen Gesundheitsversorgung derzeit gewährleistet. Abgesehen davon, dass sich dies durch die sog. Delta-Variante des Virus auch wieder ändern kann, sollte nunmehr die Interessenabwägung gesellschaftlich debattiert werden, die bislang durch die Katastrophenszenarien überlagert wurde: Welchen Stellenwert räumt man dem Schutz von Leben und Gesundheit des Einzelnen ein, der auch bei einem geringeren Infektionsgeschehen infiziert werden und mehr oder weniger stark erkranken kann, zumal spätere gesundheitliche Folgen („Long Covid“) schwer fassbar sind? Wie erreicht man eine akzeptanzstiftende, gemeinwohlverträgliche Balance von Selbstschutz und staatlichem Schutz, von Appellen und vollstreckbarer Regulierung? Wieviel individuelle Risiken darf man in Kauf nehmen? Wann wird ein Restrisiko zu einem von allen dem Grund nach zu akzeptierenden „allgemeinen Lebensrisiko“?
7. Niemand bestreitet ernsthaft die Versäumnisse notwendiger und sinnvoller Digitalisierung insbesondere in der öffentlichen Verwaltung sowie im Bildungs- und Gesundheitswesen. Der vielfach zitierte Digitalisierungsschub ist hier auch über ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie bei weitem nicht flächendeckend erkennbar. Um so wichtiger wäre nun ein parteiübergreifendes Bekenntnis zu einer priorisierenden „To-do-Liste“ jener Digitalisierungsprojekte, die noch im Jahr 2021 verwirklicht werden müssen, um weitere pandemiebedingte Grundrechtseingriffe zu vermeiden oder wenigstens zu minimieren. Ohne eine solche (von der Wissenschaft, der Wirtschaft und Vertretern der Zivilgesellschaft unterstützte) Priorisierung ist zu befürchten, dass der Wahlkampf vor und die Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl Ende September 2021 zu einem Stillstand bei der Pandemie(folgen)bewältigung führen, den wir uns in keiner Hinsicht leisten können und sollen.
8. In diesem Kontext sollte auch der Mythos ausgeräumt werden, „der Datenschutz“ sei schuld „an den“ Defiziten der Pandemiebekämpfung (so etwa das Gutachten „Digitalisierung in Deutschland. Lehren aus der Corona-Krise“ vom 12. März 2021 des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie). Richtig ist vielmehr, dass die DSGVO ausreichende Rechtfertigungsmöglichkeiten zur Verarbeitung personenbezogener Daten bietet. Richtig ist aber auch, dass die Praxis mancher Datenschutzaufsichtsbehörden wenig hilfreich ist, zum Beispiel wenn sie den Einsatz digitaler Tools zur Erleichterung der Pandemiefolgen kritisieren und mit Sanktionen drohen, jedoch weder zumutbare Alternativen aufzeigen noch situationsangemessene Interessenabwägungen vornehmen.
9. Wie weit es derzeit und auf Dauer überhaupt erforderlich ist, stärker als früher Rücksicht auf legitime Interessen Dritter und der Gemeinschaft zu nehmen, bestimmt sich auch und besonders aus der Gestaltungskraft des Staates, Rahmenbedingungen zu schaffen, durch welche Risiken, die mit dem Virus einhergehen, sichtbar und beherrschbar werden, um damit auch den Weg zwischen Sorglosigkeit und übertriebener Sorgfalt aufzuzeigen. All dies wiederum bedarf einer weitaus besseren Datenbasis zu allen relevanten Faktoren im Infektionsgeschehen und dessen Auswirkungen in allen wesentlichen Sektoren, der Vernetzung von Erkenntnissen und der wissenschaftlich fundierten Interpretation sowie der Nutzung der Daten für angemessenere, zielgerichtetere Maßnahmen der Pandemiebekämpfung. Die Datenstrategie der Bundesregierung hat für eine solche gemeinwohlorientierte Datennutzung die Weichen gestellt. Diese gilt es nun zielgerichtet und zügig umzusetzen.
10. „Leben mit dem Virus“ erfordert letztlich einen gesellschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit von Einschränkungen und veränderten Lebensweisen in Anerkennung dieser neuen Gefahrenlage. Es bedeutet aber auch die Entdeckung und Nutzung von Chancen, die in solchen Veränderungen stecken.
Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats für Digitale Transformation der AOK Nordost
- Dipl.-Pol. Inga Bergen, Sprecherin
- Prof. Dr. Dirk Heckmann, Geschäftsführer
- Prof. Dr. Wilfried Bernhardt
- Prof. Dr. Dr. Walter Blocher
- Prof. Dr. Stefan Heinemann
- Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Jähnichen
- Prof. Dr. Anne Paschke
- Dipl.-Psychologin Marina Weisband