Solidarität durch Datenbereitstellung
Technisch-organisatorische Vorkehrungen für mehr „Datenspenden“
22.07.2024 | Am 5. Juli 2024 beschloss der Bundesrat mit großer Mehrheit, einen Gesetzentwurf einzubringen, mit dem die in Deutschland bisher für die Organspende geltende Entscheidungslösung durch eine Widerspruchslösung ersetzt werden soll. Parallel dazu wird im Bundestag ein fraktionsübergreifender Gruppenantrag mit demselben Ziel vorbereitet. Schon zuvor wurde mit der Einrichtung eines digitalen Organspende-Registers das Verfahren vereinfacht, seine Einstellung zur Organspende zu artikulieren. Damit stellt sich erneut die Frage, welchen Beitrag der Einzelne zu einem gemeinwohlorientierten Gesundheitswesen leisten soll. Mehr noch als die Organspende rückt dabei die „Datenspende“ in den Mittelpunkt.
1. Die fortschreitende Digitalisierung des Gesundheitswesens erfordert, dass eine Vielzahl von Gesundheitsdaten sowohl für die Prävention und Versorgung der Menschen als auch für die medizinische Forschung zur Verfügung steht. Dies hat der Wissenschaftliche Beirat für Digitale Transformation der AOK Nordost in mehreren Positionspapieren betont, zuletzt zur Gesundheitsprävention durch Datenanalyse, zum rechtskonformen Einsatz generativer KI im Gesundheitswesen und zu der Forderung, Opt-out für die elektronische Patientenakte gesetzlich zu verankern. So einig man sich über den Wert und die Bedeutung der Nutzung von Gesundheitsdaten ist, so umstritten ist nach wie vor, auf welchem Weg die sensiblen persönlichen Gesundheitsdaten ihren Weg in das Gesundheitssystem finden sollen. Die naheliegendste Lösung, nämlich die Einholung einer informierten Einwilligung der Betroffenen, lässt sich nämlich nicht in jeder Situation realisieren. Deshalb schafft der Gesetzgeber in angemessener Abwägung von Datenschutz und Gesundheitsschutz zunehmend gesetzliche Grundlagen für die Nutzung von Gesundheitsdaten, wie etwa das Gesundheitsdatennutzungsgesetz.
2. Jenseits dessen kommt es aber oft noch auf die Willensbekundung der oder des Betroffenen an: Ist man bereit, seine Gesundheitsdaten zur Verfügung zu stellen, damit daraus im Kontext mit vielen weiteren relevanten Informationen Erkenntnisse gewonnen werden können, die uns allen und damit mittelbar auch denjenigen zugutekommen, die durch diese „Datensolidarität“ zu einer besseren empirischen Basis bei Diagnosen und Therapien beitragen? Befragungen zeigen, dass die generelle Bereitschaft zu einer solchen „Datenspende“ groß ist, wenn der Nutzen transparent ist. Der Begriff „Datenspende“ passt hier insoweit, als man auch mit den Daten etwas „hergibt“, nämlich die bis dahin alleinige oder andere zumindest begrenzende Verfügungsgewalt über die höchstpersönliche Information und dafür keine direkte Gegenleistung erwartet. Wie bei der Organspende klafft auch bei der „Datenspende“ (bzw. der Datenbereitstellung) eine Lücke zwischen Spendenbereitschaft und tatsächlicher Nutzungsmöglichkeit. Hier gilt es für das erwünschte solidarische Verhalten Anreize zu schaffen. So ging etwa im März 2024 das Organspende-Register online, sodass nun mit wenigen Klicks eine Erklärung abgegeben werden kann, wie nach dem eigenen Tod mit den intakten Organen umgegangen werden soll. Ob diese grundsätzlich begrüßenswerte Digitalisierung von Erklärungen im Kontext (potentieller) Organspenden ausreicht, ist derzeit offen. Solange nicht genügend Personen aktiv diese Seite aufsuchen, um eine positive Erklärung abzugeben, bleibt es bei der aktuellen, als unzureichend empfundenen Zahl lebensrettender Organspenden. Genau deshalb gibt es die eingangs skizzierte politische Initiative zur Umstellung auf die Widerspruchslösung. Sollte sie eine Mehrheit finden, wäre jeder automatisch Organspender, hätte aber die Möglichkeit, „mit ein paar Klicks“ im Organspende-Register zu widersprechen. Jede und jeder würde also dazu angehalten, sich zumindest kurz mit diesem Thema auseinanderzusetzen und dem eigenen Willen entsprechend zu verhalten. Selbst eine Haltung wie „Ich weiß derzeit nicht, was ich will, und möchte im Augenblick nicht weiter darüber nachdenken“, würde dann (jedenfalls vorläufig und mit zumutbar geringem Aufwand) als Widerspruch ausgedrückt werden können.
3. Hier setzt das Solidarkonzept des wissenschaftlichen Beirats an. Zwar möchte er sich mit dem vorliegenden Positionspapier nicht zur Widerspruchslösung bei Organspenden äußern. Er nimmt die aktuelle Diskussion jedoch zum Anlass, im Kontext der Bereitstellung von Gesundheitsdaten auf Folgendes hinzuweisen:
a) Sowohl eine Opt-In-Lösung (ausdrückliche Einwilligung) als auch eine Opt-Out-Lösung (konkludente Einwilligung unter Widerspruchsvorbehalt) sind Ausdruck informationeller Selbstbestimmung und genügen damit den Anforderungen an einen effektiven Grundrechtsschutz, nämlich der autonomen Entscheidung über den Umgang mit den eigenen Daten. Eine Widerspruchslösung muss aber überdies dem Prinzip des Grundrechtsschutzes durch Verfahren Rechnung tragen. Insofern ist bei der Ausgestaltung darauf zu achten, dass ausreichende, gut verständliche Informationen über die jeweilige Datenverarbeitung für jedermann leicht zugänglich sind. Außerdem könnte die mit der Widerspruchslösung einhergehende konkludente Einwilligung erst nach einer Karenzzeit (z.B. 3 Monate ab Inkrafttreten der Regelung) wirksam werden, um der Informationskampagne ausreichend Zeit zu geben. Diese muss alle Bevölkerungsteile, auch Menschen mit Verständnis- oder Verständigungsschwierigkeiten, erreichen, damit niemand von der neuen Rechtslage „überrannt“ wird.
b) Vor diesem Hintergrund unterscheidet sich die Widerspruchslösung nur noch durch den „sanften Reflexionszwang“, aktiv werden zu müssen, nämlich sich zu der zugrundeliegenden Frage (etwa: Dürfen bestimmte Gesundheitsdaten für bestimmte Zwecke genutzt werden?) zu verhalten. Man wird also mit dieser Frage konfrontiert und muss eine autonome Entscheidung treffen, wenn man die ansonsten gesetzlich vorgesehene Rechtsfolge nicht hinnehmen will. Wohlgemerkt: Das Gesetz schreibt nicht vor, wie man sich entscheidet, sondern dass man sich entscheidet oder zumindest irgendwie verhält. Genau dies ist sowohl (verfassungs-)rechtlich zulässig als auch – in diesem speziellen Fall – ethisch geboten. Es gibt keinen Grundrechtsschutz vor geistiger Auseinandersetzung, keinen absoluten Schutz, sich bequem herauszuhalten – dies zeigt auch das Menschenbild des gemeinschaftsgebundenen Individuums, wie es das BVerfG in ständiger Rechtsprechung zeichnet. Angesichts der unbestrittenen Vorteile der Nutzung von Gesundheitsdaten und der Notwendigkeit verbesserter Forschung ist es zumutbar, sich der Frage zu stellen und eine – wie auch immer geartete – Antwort zu geben. Ein „Wegducken“ ist nicht nur unsolidarisch, sondern auch nur insoweit von der allgemeinen (negativen) Handlungsfreiheit gedeckt, als nicht der Gesetzgeber angesichts der Bedeutung eines Themas in verhältnismäßiger Weise zur Reaktion auffordert.
4. Ein solches „solidarisches Minimum“ kann gerade im Gesundheitsbereich gefordert werden, da letztliche alle Menschen von einer guten, effizienten und wirksamen Versorgung profitieren. Hier ist auch in Rechnung zu stellen, dass der „Zwang zum Klick“ geradezu minimalinvasiv ist und keinerlei unerwünschte Nebenwirkungen hat. Im Gegenteil: Weil der Gesetzgeber bei einer Widerspruchslösung technisch-organisatorische Vorkehrungen treffen muss, damit unter fairen Bedingungen tatsächlich informierte Entscheidungen getroffen werden können, werden die Transparenz der Datenverarbeitung und damit zugleich deren Akzeptanz deutlich erhöht und gleichzeitig die Datenkompetenz gestärkt.