Lernen aus der Pandemie: Digitalisieren, reformieren, agiler agieren
Wissenschaftlicher Beirat der AOK Nordost regt Strukturreform zur Krisenbewältigung an
1. Nach der Pandemie ist vor der Pandemie: Deshalb bedarf es eines effizienteren Katastrophenschutzmanagements durch die Einrichtung eines zentralen Pandemiekrisenstabes (PKS), in dem wissenschaftliche Expertise, u.a. aus Epidemiologie, Virologie und weiteren Aspekten der Medizin, Informatik, Datenwissenschaft, Logistik, Rechtswissenschaft und Ethik mit Regierungsverantwortung verknüpft wird. Der PKS sollte Zugriff auf alle benötigten Ressourcen und die Befugnis zur Einleitung operativer Maßnahmen erhalten. Zur Absicherung der demokratischen Legitimation und rechtsstaatlicher Standards bedarf es einer gesetzlichen Grundlage zur Errichtung und Regelung der Arbeitsweise des PKS. Dessen operative Arbeit wird durch Parlamentsbeschlüsse und die gerichtlichen Kontrollmöglichkeiten begleitet. Der PKS berät die Regierungen, die nach wie vor politisch abwägen und entscheiden müssen. Umgekehrt obliegt ihm die operative Ausführung der durch Parlament und Regierung getroffenen Beschlüsse. Für den „Roll out“ über alle Verwaltungsebenen hinweg bedarf es einer Anpassung der Verwaltungsstrukturen, Zuständigkeiten und Prozesse auf der Grundlage durchgehender Digitalisierung. Dringend empfohlen werden die Entwicklung agiler Verfahren und eine folgenorientierte Risikosteuerung.
2. Durch Beschluss vom 25. März 2020 hat der Deutsche Bundestag – im Anschluss an die Ausrufung der Pandemie durch die WHO – eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt und damit die Rechtsgrundlage für die Anordnung einer Vielzahl von Infektionsschutzmaßnahmen geschaffen. Die damit verbundenen weitreichenden Kontaktbeschränkungen gehen einher mit erheblichen Grundrechtsbeschränkungen, die sich durch die überragende Bedeutung des Schutzes von Leben und Gesundheit zur Sicherstellung eines funktionierenden Gesundheitssystems mit ausreichendender intensivmedizinischer Versorgung grundsätzlich rechtfertigen lassen. So sehen es auch die bislang hierzu ergangenen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen.
3. Während die Akzeptanz dieser Abwägungen und die damit verbundene Bereitschaft in der Bevölkerung, diese Beschränkungen mitzutragen, zunächst sehr hoch waren, ist der Befund exakt ein Jahr später ernüchternd: So wächst inzwischen die Unzufriedenheit auch derjenigen, die dem Gesundheitsschutz nach wie vor eine überwiegende Bedeutung zumessen. In Frage gestellt wird von ihnen nicht die Notwendigkeit selbst weitreichender Kontaktbeschränkungen zur Verhinderung eines exponentiellen Anstiegs der Infektionszahlen. Kritisiert werden die Art und Weise des Umgangs mit den Folgen der Pandemie, das Krisenmanagement der Regierungen und die Umsetzungsarbeit der von ihnen verantworteten Verwaltungen im Bund und in den Ländern.
4. Der Umgang mit einer globalen Katastrophe wie einer Pandemie erfordert schnelles und beherztes, zuweilen unkonventionelles Handeln, die Beherrschung von Komplexität durch Optimierung der Entscheidungsgrundlagen, die Schaffung und Nutzung der hierfür erforderlichen Daten- und Informationsbasis sowie die Stiftung von Akzeptanz und Vertrauen der Bevölkerung durch umfassende, situationsadäquate Information und schlüssige Erklärung der staatlichen Maßnahmen.
5. Bei näherer Betrachtung sind die überkommenen staatlichen Strukturen nur bedingt geeignet, die Überwindung einer Katastrophe des Ausmaßes einer Pandemie effektiv zu unterstützen: Sie erscheinen als träge, unzeitgemäß, reaktiv und dogmatisch. Soll aus der Pandemie gelernt werden, erfordert dies mehr als nur unmittelbar aufgeworfene Fragen wie jene zur Herstellung und Verteilung von Impfstoffen oder der intensivmedizinischen Versorgungslage zu beantworten. Es gilt tiefer anzusetzen bei den strukturellen Bedingungen für das Regierungs- und Verwaltungshandeln.
6. In nicht zu überbietender Deutlichkeit hat sich gezeigt, wie schädlich die Versäumnisse auf dem Weg zu einer umfassenden Digitalisierung gerade in Bereichen wie dem Gesundheitswesen und den Bildungseinrichtungen, aber auch der allgemeinen Verwaltung sind. Digitale Anwendungen helfen die Ausgrenzung zu überwinden, die durch die zur Pandemiebekämpfung unentbehrliche soziale Distanzierung bewirkt wird. Sie ermöglichen überdies eine schnelle, adressatengerechte Information und Kommunikation. Außerdem ermöglichen nur digital erfasste Daten eine unverzügliche Weiterleitung und Bereitstellung sowie Analyse all jener Informationen, ohne die etwa auf Erkenntnissen aus Testungen oder über die Belegung von Intensivbetten beruhende rationale Entscheidungen zur Lockerung von Kontaktbeschränkungen, zur Offenhaltung von Schulen, zur Impflogistik etc. gar nicht möglich sind. All dies lässt sich datenschutzkonform gestalten; Datennutzung soll nicht verhindert, sondern ermöglicht werden (Art. 1 Abs. 1, Abs. 3 DSGVO).
7. Vor diesem Hintergrund ist eine zentrale Erkenntnis nach einem Jahr Pandemie, dass die Informationsbasis der Entscheidungsträger dringend verbessert werden muss: Verbreitungswege des Virus in typischen Kontexten (z.B. in den möglichen Infektionsketten: häusliche Umgebung, ÖPNV, Kita/Schule/Arbeitsplatz, Supermarkt, Freizeitverhalten u.s.w.); Abbildung der Gefährdungslagen in regionalen Clustern; Auswirkungen von Schnelltests und Selbsttests auf das Infektionsgeschehen; Wechselbeziehungen von Impfquoten und Inzidenzen; Einbeziehung von anonymisierten Datenspenden Betroffener nach Schnelltests, Selbstbeobachtung etc.
8. Für die Erfassung, Bereitstellung und Weitergabe von Daten bedarf es einfach anzuwendender digitaler Lösungen (mit Interoperabilitätsstandards), für deren anschließende Auswertung und Interpretation passender Analysesysteme. Die Daten und die daraus aggregierten Informationen sollen in leicht interpretierbare Dashboards für Entscheidungsträger sowie den PKS einfließen und als offene Verwaltungsdaten auch zur Weiterverwendung bereitgestellt werden. Weitgehende Transparenz sorgt für größere Akzeptanz. In ähnlicher Weise adressiert dies zutreffend auch die Datenstrategie der Bundesregierung.
9. Die auf der solcherart verbesserten Datenbasis beruhende Entscheidungslage ist sowohl von den politisch Verantwortlichen als auch von den Medien sachorientiert professionell zu erklären, wobei Dilemmata, Zielkonflikte und offene Fragen herauszuarbeiten sind, um Akzeptanz auch für Entscheidungen
aufgrund schwieriger Abwägungen zu erreichen.
10. Die gesetzlichen Krankenkassen können wichtige Akteure im Krisenmanagement sein, in dem sie mit ihrem Sachverstand und ihrer Neutralität aufbereitete Gesundheitsinformationen (auch unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnisse auf dem Gebiet der Wissenschaftskommunikation und der Kommunikationspsychologie) beitragen.
Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats für Digitale Transformation der AOK Nordost
- Dipl.-Pol. Inga Bergen, Sprecherin
- Prof. Dr. Dirk Heckmann, Geschäftsführer
- Prof. Dr. Wilfried Bernhardt
- Prof. Dr. Dr. Walter Blocher
- Prof. Dr. Stefan Heinemann
- Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Jähnichen
- Prof. Dr. Anne Paschke
- Dipl.-Psychologin Marina Weisband